Wo stehen wir?*

         

In: Neue Wege 52, 1958

 

*Einleitende Worte von Margarete Susman zur Tagung der Religiös-Sozialen Vereinigung, 25./26. Oktober 1958.

 

Ich bin seit langem nicht in Ihrem Kreise gewesen. Als Sie mich aber jetzt gebeten haben, ein einleitendes Wort zu der heutigen Tagung zu sprechen, habe ich dies trotz meines Alters um so lieber übernommen, als ich, wie Sie wissen, seit langen Jahren alle Wandlungen, Zusammenbrüche und Auferstehungen der religiös-sozialen Bewegung und der „Neuen Wege“ miterlebt habe, wie man ein eigenes Schicksal erlebt.

          Vieles hat sich mit der Zeit, als Leonhard Ragaz die „Neuen Wege“ leitete, in unserer kleinen Gemeinschaft verändert. Sie hat sich zu meinem Schmerz zweimal gespalten. – Ich bin über alles Persönliche hinweg immer der Gruppe treu geblieben, die mir am treuesten das Erbe von Ragaz zu verwalten schien.

Die Spaltungen unserer Gemeinschaft erschienen mir fast wie ein kleines Abbild der ungeheuren heutigen Weltgeschehens, und sie scheinen nicht leichter zu überwinden als jene großen Spaltungen selbst; es muß wohl ein einziges Weltgeschehen sein.

          Ich möchte in diesem Zusammenhang mit einem kurzen Gedicht schließen, das eine Art Antwort auf den erschütternden Bericht von Gertrud Woker in den letzten „Neuen Wegen“ ist:

 

Wir haben viel, wir haben allzu viel gefunden,

Wir Wesen schwankend schwach und preisgegeben,

Zuletzt den Tod im Kern des Lebens selbst entbunden

Und Macht gewonnen über Tod und Leben.

 

Allein was soll uns diese grause Macht?

Kein Mensch vermag die furchtbare zu lenken.

Der Mensch ist groß im Wissen und im Denken,

Doch alles Letzte ruht für ihn in Nacht.

 

Denn wenn wir selber diese Macht verwenden,

Reißt eine höhere sie aus unseren Händen,

Vor der, was wir gewußt, in nichts vergeht.

Uns bleibt allein der Schrei und das Gebet.

 

Soll unsere Arbeit heute noch gedeihn,

So muß sie wie das winzige Senfkorn sein,

Aus dem des Glaubens Riesenblüte steigt,

Vor der das Wissen sich in Demut neigt

Und alle Macht und aller Wahnsinn schweigt.