Liebe Freunde!
Da ich zu meinem großen
Bedauern der heutigen Tagung fernbleiben muß, habe ich den bescheidenen Versuch
gewagt, Ihnen durch einige wenige einleitende Worte etwas über das mir gegebene
Thema zu sagen.
Der Gegenstand „Prophetischer
Glaube und Politik“ verlangt zunächst einen
Versuch der Gründung beider Worte: des Glaubens und der Politik. Politik
ist ihrer Grundbedeutung nach Staatskunst, Verwaltung staatlicher Gemeinschaft.
Die Bezeichnung stammt von dem Wort Polis, dem Stadtstaat der griechischen
Antike in seiner reinen und strengen Ordnung. Denn Politik hat zu allen Zeiten
letzte menschliche Verantwortung gefordert. Namen wie Solon, Lykurg, Perikles
sind uns als Repräsentanten menschlich politischer Größe durch die Geschichte
hindurch erhalten geblieben.
Das Mysterium des
Glaubens ist schwerer zu fassen. Es ist, wenn wir unter Paradoxie eine Wahrheit verstehen, die
mit dem Verstand nicht erreichbar ist, die gewaltigste Paradoxie der
Menschheitsgeschichte. Die Kraft des Glaubens ist eine Gewißheit, die keinen
irdisch sichtbaren Grund hat, während die Politik sich auf der Gemeinschaft
sichtbarer, wirklicher Menschen erbaut. Der prophetische Glaube, der sowohl
Gestaltung einer Gemeinschaft wie der Glaube an ein Unerblickbares ist,
verlangt das Vertrauen auf eine Wirklichkeit, die in der Menschenwelt nicht zu
finden ist.
Alle Politik:
Einsatz des Eigenen in das Fremde, wie in der menschlichen Zeit zur Geschichte,
zur geistigen Klärung menschlicher Wirrnis. Ich möchte Sie an das Wort Goethes
erinnern, daß ohne die Zeiterfassung der Propheten als Vergangenheit, Gegenwart
und Verheißung die ganze menschliche Geschichte nur ein Chaos von Blut und
Tränen wäre.
Er, den man so oft den großen Helden genannt hat, hat also
die Politik der Propheten als die allein wahre und allein tröstliche erkannt.
Denn immer ist in die rein menschliche Politik auch menschliche Verwirrung
eingedrungen; auch der reinste und größte menschliche Wille reicht zur
vollkommenen Gestaltung menschlicher Gemeinschaft nicht aus. Und dies nicht
nur, weil Seele und Geist und Schicksal der Menschen verschieden sind und oft
einander widerstreiten – die schwerste Hemmung politischer Gestaltung ist, daß
das Menschenleben zu kurz ist, um eine große Zeitspanne zu überblicken. Dies,
daß dem Menschen vom Ganzen aus gesehen nur ein einziger flüchtiger Augenblick
für sein Wissen, Denken und Gestalten gegeben ist, ist von je das schwerste
Hindernis aller Gemeinschaftsgestaltung gewesen.
Es ist vor allem das Alte Testament, es sind am mächtigsten
die Psalmen und das Buch Hiob, die nicht aufhören, die Kürze und Flüchtigkeit
des Menschenlebens zu beklagen. Sie klagen, daß alles Fleisch wie Gras ist, daß
der Mensch wie eine Blume des Feldes ist, die heute blüht und morgen abgerissen
wird, daß das kurze hinfliehende Menschenleben vor einem Augenaufschlag des
Ewigen vergeht. – Und es ist nun das Einzige und Wunderbare, daß gerade im
Alten Testament dieser Augenaufschlag des Ewigen, der im gewöhnlichen
Menschendasein nur als ein dunkles, unfaßbares Schicksal wirkt, eine Reihe von
Männern aufgerufen hat, für die er ein klarer Wink, ein göttlicher Aufruf ist,
mit dem Gott ihnen etwas Bestimmtes zu verstehen gibt, die in dem kurzen Blick,
der auf sie gerichtet ist, die Tiefe seines Sinnes begreifen. Diese Männer sind
die Propheten.
In der Geschichte jedes bedeutsamen Volkes findet sich ein
Augenblick, in dem es über seine nationale Geschichte hinauswächst und sich in
seiner menschheitlichen Bestimmung begreift. Das Eigentümliche in der
Geschichte Israels ist aber, daß sein ganzer Inhalt kein anderer ist, als
solche Sprengung der Nation durch die Idee – eine Sprengung, die sich als
mächtiger Eingriff Gottes im Leben jedes Propheten vollzieht und ihn gleichsam
aus seinem Volke in das Ganze der Menschheit hineinschleudert.
Und während alle übrige Politik sich auf die Gemeinschaft
sichtbarer Menschen bezieht, ist die prophetische Politik sowohl Gestaltung
wirklicher Gemeinschaft wie auch der Glaube an ein Unerblickbares. Prophetischer Glaube erzeugt eine Politik,
die in keiner irdischen Gemeinschaft, sondern allein im Willen Gottes vorhanden
ist. Hier geht es nicht um ein Bild Gottes, sondern um Gott, um den Gott, von dem sich ein Bildnis im irdischen Stoff
zu machen verboten ist. Nicht ein noch so hohes Menschenbild soll hier
erschaffen und als göttliches Gleichnis und menschliches Vorbild dem Volke
vorangetragen werden – nein: „Israel soll eine Schmach, Hohn, Exempel, und
Wunder sein allen Völkern“ durch das gewaltige Gericht über sein Volk, in dem
Gott sich als der Einzige offenbart und den ungeheuren Abstand auch noch seines
erwählten Volkes von der Gottebenbildlichkeit enthüllt. Denn es ist nicht
erwählt zu sein, sondern zu künden. Nicht
es selbst soll sein, sondern das von ihm Verkündete: die Eine in Gott und im
Frieden geeinte Menschheit, die eine Gestalt reiner Zukunft ist. Das
Grundwort des prophetischen Glaubens liegt in der einzigen Verheißung Gottes an
sein Volk: „Du sollst durch Gerechtigkeit bereitet werden, du sollst ferne sein
von Gewalt und Unrecht.“ Denn die Gerechtigkeit ist nirgends in der Welt
vorhanden; sie muß vom Menschen erst erschaffen werden. Daher die Angst und der
ungeheure Zorn der Gottesmänner gegen Ungehorsam des Volkes: die Gerechtigkeit
ist nirgends in der Welt vorhanden, und an ihrer Verwirklichung hängt der
Bestand des Volkes und der ganzen Menschheit selbst.
Darum ist das Leben der Propheten so über alle Maßen
schwer, ist der späte Aufschrei des Elia: „Es ist genug, Herr, so nimm denn
meine Seele!“ für alle Propheten mitgesprochen. Auf jedem liegt die Last einer
Verantwortung ohnegleichen, denn sein Aufruf zur Gerechtigkeit des Reiches
Gottes auf der Erde ist nicht nur Gerechtigkeit, sondern auch Gericht. In der
Macht seiner Verantwortung ist der Prophet Nachbild und Abbild der Feuersäule,
die auf der Wanderung durch die Wüste göttlich leuchtend dem Volke voranzieht.
Und doch, trotz diesem lichten Feuer, soll auch der Prophet
wie das von Gott erkorene Volk den Menschen nicht Glanz und weltliche Ehre,
sondern Schmach, Hohn, Exempel und Wunder sein. Denn auch er steht ja unter dem
Gericht Gottes, das er selbst vollzieht. –
Uns heutigen Menschen sind in
der Wirrnis unserer Geschichte der prophetische Glaube und die prophetische
Politik fremd geworden. Und doch ist der Glaube an die Gerechtigkeit noch nicht
ganz aus unserer Welt verschwunden. Marx hat die Gemeinschaft rein aus der
Gerechtigkeit, zwar nicht aus der Gerechtigkeit des Glaubens, aber aus der des
menschlichen Wissens und einer großen geschichtlichen Schau erbaut. Zwischen
dem prophetischen Glauben und unserem Leben liegt eine Welt; der Faden zwischen
der prophetischen Politik und der unserer Welt ist zerrissen. Nirgends hat ein
Mensch sich so tief und gewaltsam von der prophetischen Gerechtigkeit
losgerissen wie der französische Dichter Sartre, der in einem großen Drama in
einer versumpften politischen Welt den einzigen reinen und edlen Menschen, den
er aus diesem Sumpf noch aufsteigen läßt, in der Politik nicht die reinen,
sondern die schmutzigen Hände fordern läßt, weil er den Glauben an die Macht
des Reinen über die Welt verloren hat. Es ist der genaueste Gegensatz zu dem
Propheten Jesaja, der sich als ein Mann unreiner Lippen in einem unreinen Volke
der göttlichen Verkündigung nicht für wert hält – bis ihm Gott den Engel
sendet, der mit der schmerzhaft glühenden Kohle ihm die Lippen für die
Verkündigung rein brennt.
Wer vermöchte diesen prophetischen
Glauben noch zu erfassen? Allein der religiöse Sozialismus hat inmitten einer
glaubenslosen Welt noch einmal an ihn anzuknüpfen gesucht. Männer wie
Blumhardt, wie Ragaz haben inmitten der Finsternis ihrer Welt, die sie bis in
jede Faser erlebten, um den Glauben der Propheten und um die prophetische
Wahrheit ihrer Politik gerungen.
Die prophetische Politik, der prophetische Glaube münden in
die Gestalt des Gottesknechtes des Jesaja; in ihm, dessen Seele wie die keines
anderen Menschen auf Erden gearbeitet hat, hat in dem ungeheuren Leiden aller,
von dem er wie von der Glorie der Ewigkeit umstrahlt war, der Glaube der
Propheten sich erfüllt. Doch das Anfangswort dieses Kapitels: „Aber wer glaubt
unserer Predigt und wem ist der Arm des Herrn geoffenbart?“ ist auch der letzte
irdische Ausdruck alles prophetischen Glaubens gewesen.