Votum zum Thema: „Der prophetische Glaube und die Politik!“

 

In: Neue Wege 46, 1952

 

Liebe Freunde!

Da ich zu meinem großen Bedauern der heutigen Tagung fernbleiben muß, habe ich den bescheidenen Versuch gewagt, Ihnen durch einige wenige einleitende Worte etwas über das mir gegebene Thema zu sagen.

Der Gegenstand „Prophetischer Glaube und Politik“ verlangt zunächst einen Versuch der Gründung beider Worte: des Glaubens und der Politik. Politik ist ihrer Grundbedeutung nach Staatskunst, Verwaltung staatlicher Gemeinschaft. Die Bezeichnung stammt von dem Wort Polis, dem Stadtstaat der griechischen Antike in seiner reinen und strengen Ordnung. Denn Politik hat zu allen Zeiten letzte menschliche Verantwortung gefordert. Namen wie Solon, Lykurg, Perikles sind uns als Repräsentanten menschlich politischer Größe durch die Geschichte hindurch erhalten geblieben.

          Das Mysterium des Glaubens ist schwerer zu fassen. Es ist, wenn wir unter Paradoxie eine Wahrheit verstehen, die mit dem Verstand nicht erreichbar ist, die gewaltigste Paradoxie der Menschheitsgeschichte. Die Kraft des Glaubens ist eine Gewißheit, die keinen irdisch sichtbaren Grund hat, während die Politik sich auf der Gemeinschaft sichtbarer, wirklicher Menschen erbaut. Der prophetische Glaube, der sowohl Gestaltung einer Gemeinschaft wie der Glaube an ein Unerblickbares ist, verlangt das Vertrauen auf eine Wirklichkeit, die in der Menschenwelt nicht zu finden ist.

          Alle Politik: Einsatz des Eigenen in das Fremde, wie in der menschlichen Zeit zur Geschichte, zur geistigen Klärung menschlicher Wirrnis. Ich möchte Sie an das Wort Goethes erinnern, daß ohne die Zeiterfassung der Propheten als Vergangenheit, Gegenwart und Verheißung die ganze menschliche Geschichte nur ein Chaos von Blut und Tränen wäre.

          Er, den man so oft den großen Helden genannt hat, hat also die Politik der Propheten als die allein wahre und allein tröstliche erkannt. Denn immer ist in die rein menschliche Politik auch menschliche Verwirrung eingedrungen; auch der reinste und größte menschliche Wille reicht zur vollkommenen Gestaltung menschlicher Gemeinschaft nicht aus. Und dies nicht nur, weil Seele und Geist und Schicksal der Menschen verschieden sind und oft einander widerstreiten – die schwerste Hemmung politischer Gestaltung ist, daß das Menschenleben zu kurz ist, um eine große Zeitspanne zu überblicken. Dies, daß dem Menschen vom Ganzen aus gesehen nur ein einziger flüchtiger Augenblick für sein Wissen, Denken und Gestalten gegeben ist, ist von je das schwerste Hindernis aller Gemeinschaftsgestaltung gewesen.

          Es ist vor allem das Alte Testament, es sind am mächtigsten die Psalmen und das Buch Hiob, die nicht aufhören, die Kürze und Flüchtigkeit des Menschenlebens zu beklagen. Sie klagen, daß alles Fleisch wie Gras ist, daß der Mensch wie eine Blume des Feldes ist, die heute blüht und morgen abgerissen wird, daß das kurze hinfliehende Menschenleben vor einem Augenaufschlag des Ewigen vergeht. – Und es ist nun das Einzige und Wunderbare, daß gerade im Alten Testament dieser Augenaufschlag des Ewigen, der im gewöhnlichen Menschendasein nur als ein dunkles, unfaßbares Schicksal wirkt, eine Reihe von Männern aufgerufen hat, für die er ein klarer Wink, ein göttlicher Aufruf ist, mit dem Gott ihnen etwas Bestimmtes zu verstehen gibt, die in dem kurzen Blick, der auf sie gerichtet ist, die Tiefe seines Sinnes begreifen. Diese Männer sind die Propheten.

          In der Geschichte jedes bedeutsamen Volkes findet sich ein Augenblick, in dem es über seine nationale Geschichte hinauswächst und sich in seiner menschheitlichen Bestimmung begreift. Das Eigentümliche in der Geschichte Israels ist aber, daß sein ganzer Inhalt kein anderer ist, als solche Sprengung der Nation durch die Idee – eine Sprengung, die sich als mächtiger Eingriff Gottes im Leben jedes Propheten vollzieht und ihn gleichsam aus seinem Volke in das Ganze der Menschheit hineinschleudert.

          Und während alle übrige Politik sich auf die Gemeinschaft sichtbarer Menschen bezieht, ist die prophetische Politik sowohl Gestaltung wirklicher Gemeinschaft wie auch der Glaube an ein Unerblickbares. Prophetischer Glaube erzeugt eine Politik, die in keiner irdischen Gemeinschaft, sondern allein im Willen Gottes vorhanden ist. Hier geht es nicht um ein Bild Gottes, sondern um Gott, um den Gott, von dem sich ein Bildnis im irdischen Stoff zu machen verboten ist. Nicht ein noch so hohes Menschenbild soll hier erschaffen und als göttliches Gleichnis und menschliches Vorbild dem Volke vorangetragen werden – nein: „Israel soll eine Schmach, Hohn, Exempel, und Wunder sein allen Völkern“ durch das gewaltige Gericht über sein Volk, in dem Gott sich als der Einzige offenbart und den ungeheuren Abstand auch noch seines erwählten Volkes von der Gottebenbildlichkeit enthüllt. Denn es ist nicht erwählt zu sein, sondern zu künden. Nicht es selbst soll sein, sondern das von ihm Verkündete: die Eine in Gott und im Frieden geeinte Menschheit, die eine Gestalt reiner Zukunft ist. Das Grundwort des prophetischen Glaubens liegt in der einzigen Verheißung Gottes an sein Volk: „Du sollst durch Gerechtigkeit bereitet werden, du sollst ferne sein von Gewalt und Unrecht.“ Denn die Gerechtigkeit ist nirgends in der Welt vorhanden; sie muß vom Menschen erst erschaffen werden. Daher die Angst und der ungeheure Zorn der Gottesmänner gegen Ungehorsam des Volkes: die Gerechtigkeit ist nirgends in der Welt vorhanden, und an ihrer Verwirklichung hängt der Bestand des Volkes und der ganzen Menschheit selbst.

          Darum ist das Leben der Propheten so über alle Maßen schwer, ist der späte Aufschrei des Elia: „Es ist genug, Herr, so nimm denn meine Seele!“ für alle Propheten mitgesprochen. Auf jedem liegt die Last einer Verantwortung ohnegleichen, denn sein Aufruf zur Gerechtigkeit des Reiches Gottes auf der Erde ist nicht nur Gerechtigkeit, sondern auch Gericht. In der Macht seiner Verantwortung ist der Prophet Nachbild und Abbild der Feuersäule, die auf der Wanderung durch die Wüste göttlich leuchtend dem Volke voranzieht.

          Und doch, trotz diesem lichten Feuer, soll auch der Prophet wie das von Gott erkorene Volk den Menschen nicht Glanz und weltliche Ehre, sondern Schmach, Hohn, Exempel und Wunder sein. Denn auch er steht ja unter dem Gericht Gottes, das er selbst vollzieht. –

Uns heutigen Menschen sind in der Wirrnis unserer Geschichte der prophetische Glaube und die prophetische Politik fremd geworden. Und doch ist der Glaube an die Gerechtigkeit noch nicht ganz aus unserer Welt verschwunden. Marx hat die Gemeinschaft rein aus der Gerechtigkeit, zwar nicht aus der Gerechtigkeit des Glaubens, aber aus der des menschlichen Wissens und einer großen geschichtlichen Schau erbaut. Zwischen dem prophetischen Glauben und unserem Leben liegt eine Welt; der Faden zwischen der prophetischen Politik und der unserer Welt ist zerrissen. Nirgends hat ein Mensch sich so tief und gewaltsam von der prophetischen Gerechtigkeit losgerissen wie der französische Dichter Sartre, der in einem großen Drama in einer versumpften politischen Welt den einzigen reinen und edlen Menschen, den er aus diesem Sumpf noch aufsteigen läßt, in der Politik nicht die reinen, sondern die schmutzigen Hände fordern läßt, weil er den Glauben an die Macht des Reinen über die Welt verloren hat. Es ist der genaueste Gegensatz zu dem Propheten Jesaja, der sich als ein Mann unreiner Lippen in einem unreinen Volke der göttlichen Verkündigung nicht für wert hält – bis ihm Gott den Engel sendet, der mit der schmerzhaft glühenden Kohle ihm die Lippen für die Verkündigung rein brennt.

Wer vermöchte diesen prophetischen Glauben noch zu erfassen? Allein der religiöse Sozialismus hat inmitten einer glaubenslosen Welt noch einmal an ihn anzuknüpfen gesucht. Männer wie Blumhardt, wie Ragaz haben inmitten der Finsternis ihrer Welt, die sie bis in jede Faser erlebten, um den Glauben der Propheten und um die prophetische Wahrheit ihrer Politik gerungen.

          Die prophetische Politik, der prophetische Glaube münden in die Gestalt des Gottesknechtes des Jesaja; in ihm, dessen Seele wie die keines anderen Menschen auf Erden gearbeitet hat, hat in dem ungeheuren Leiden aller, von dem er wie von der Glorie der Ewigkeit umstrahlt war, der Glaube der Propheten sich erfüllt. Doch das Anfangswort dieses Kapitels: „Aber wer glaubt unserer Predigt und wem ist der Arm des Herrn geoffenbart?“ ist auch der letzte irdische Ausdruck alles prophetischen Glaubens gewesen.