Vom geistigen Anteil der Juden im deutschen Raum
In: Der
Morgen, Heft 3 (Juni 1935)
Das Gesamtbild des jüdischen
Schaffens im deutschen Raum stellt uns durch die vollkommene Verschiedenheit der
geistigen und der Wirklichkeitsebene, auf der es sich vollzieht, vor eine
Frage, die in dem Augenblick, wo diese Synthese in der bisherigen Form
auseinanderbricht, von doppelter Dringlichkeit ist: vor die Grundfrage nach der
geschichtlich-übergeschichtlichen Urstruktur des jüdischen Volkes. Es ist die
Frage, ob die Tatsache, daß der Jude seit der Zerstörung des Tempels eine
irdische Heimat nur in dem Sinne gehabt hat, daß er für sie leben und wirken,
bluten und sterben durfte – nicht aber in dem Sinne, daß sie ihm Bergung und
Schutz gewährt, ihm Recht und Macht verliehen hätte, ein bloßer geschichtlicher
Zufall ist oder der eigentliche Sinne des jüdischen Daseins selbst. Mit anderen
Worten: ob das jüdische eine bloß ethnische Einheit mit dem gleichen Sinn und
Ziel wie die anderen Völker ist, oder ob von ihm zu allen Zeiten und in allen
Räumen das Prophetenwort gilt, daß Israel nicht ein Volk ist wie andere Völker,
daß seine Bestimmung nicht Selbstverwirklichung
ist, sondern Selbstaufgabe um eine
höheren übergeschichtlichen Zieles willen.
Von der Beantwortung dieser
Frage hängt die Bewertung der Kultursynthese der Juden mit den anderen Völkern
ab. Ist Israel wirklich ein Volk wie andere Völker, dann muß heute ein
Jahrhundert fruchtbarster Gemeinschaft und geistiges Zusammenlebens zwischen
Deutschen und Juden als bloßer Irrtum und Abfall des jüdischen Volkes angesehen
werden, den es nun durch die mit aller Macht ergriffene entgegengesetzte
Lebensform wieder gutzumachen gilt. Ist aber mit der Zerstörung des Tempels dem
jüdischen Volke ein Schicksal auferlegt, das einzig unter den Völkern ist, dann
muß auch seine Kultursymbiose mit den anderen Völkern, muß insbesondere die mit
dem deutschen Volk an anderem Maßstab gemessen werden. Gewiß sammeln sich auch
dann – und gerade dann – um dies Zusammenwirken Probleme von brennendster Art;
aber daß seiner Problematik ein Sinn innewohnt, ist dann nicht mehr fraglich.
Denn die Synthese ist dann nicht mehr eine zwischen zwei auf gleicher Basis
ruhenden Volkseinheiten (die sich schwer denken ließe), sondern die zwischen
zwei Völkern, von denen jedes dem andern ein aus verschiedenen Ordnungen
stammendes Daseinsgesetz zu geben hat. Die Zerstörung des Tempels, dies
alljährlich erneut und unauslöschlich beweinte Geschehen, ist ja keineswegs ein
natürliches Schicksal. Sondern in ihm liegt eine so zermalmende Furchtbarkeit
für das irdische Dasein, daß ihre Problematik so lange bestehen und daß so
lange das Volk immer wieder sich ihr zu entziehen suchen wird, wie die jüdische
Gemeinschaft selbst besteht. Denn was damals geschah, war ja weit mehr als der
Verlust der heiligen Stätte, – es war das grausame Wunder, die entsetzliche
Begnadung eines Geschehens, das sich niemals vorher und niemals nachher in der
Völkergeschichte begeben hat. So kommt über ein tief und fraglos wurzelndes
Leben ein Sturm, stärker als jeder irdische Gewittersturm, reißt es heraus aus
dem Erdboden, in dem es stand, den Ordnungen, in denen es wurzelte: es war wie
ein Baum, die Welt um es her seine weite göttlich geordnete Landschaft. Nun ist
es zu einem anderen geworden: zu einem, das nicht wächst noch wurzelt, das
heimatlos in die Landschaft, in der es stand, und in alle Landschaft starrt,
weil es hinfort mit ihr nicht mehr in der ruhenden Einheit des Geschaffenen
verbunden ist. – Und gerade wenn der Sinn dieses Ausgerissenseins aus der
Schöpfungsordnung der des unmittelbaren Eingepflanztwerdens in die
Offenbarungsordnung, in den reinen Dienst an Gott, am Gesetz, an der Menschheit
ist, so ist es damit in eine Ordnung gestellt, die ihm hinfort nicht mehr
naturhaft unterbreitet ist, sondern in die es sich selbst erst durch Erfüllung
und Vollziehen einbetten muß.
Damit steht das jüdische Volk
ursprünglich nicht in einer Wirklichkeit,
sondern in einer Aufgabe. Und dieses
Stehen in einer Aufgabe, in einer unirdischen Welt ohne Land und Macht, reißt
inmitten des Lebens der anderen wurzelnden Völker eine immer erneute
vielfältige Problematik auf. Einzig der Jude, der streng und fraglos an das
Gesetz angeschlossen bleibt und aus ihm lebt, hat Heimat, gleichviel wo er
lebt; nur er allein, der sich dem vollen geschichtlichen und geistigen Dasein
der Völker, in denen er lebt, und der Auseinandersetzung mit ihnen entzieht,
empfindet nicht die Wunde des Ausgerissenseins aus der natürlichen Ordnung, die
unter allem jüdischen Leben in fremden Völkern und Kulturen unablässig
fortblutet und in allen Taten des jüdischen Geistes immer wieder aufbricht. Sie
birgt für das Judentum die doppelte Gefahr einer zu großen Sehnsucht nach dem Wurzeln
und Heimathaben der anderen Völker und eines Fortgeschwemmtwerdens des Eigenen
in dem Strom der geschichtlichen Entwicklung, in den das jüdische Volk mit den
anderen Völkern hineingerissen wird. – Und neben diesen beiden Gefahren besteht
das weitere Problem, wie auf der anderen Seit die fremden Völker auf die
eigentümliche Lage und die ihnen schwer verständliche Sendung des jüdischen
Volkes antworten werden und können. In der gemischten geschichtlichen
Wirklichkeit konnte diese Antwort niemals eine echte und eindeutige sein, weil
sie von je durch unzählige andere, vor allem wirtschaftliche Beweggründe und
Schicksale überdeckt und verfälscht wurde.
Die unablässige Wechselwirkung,
in der, seit Juden in Deutschland leben, jüdischer und deutscher Geist gelebt
haben, kann hier nur in den allergrößten Zügen angedeutet werden. Schon in
frühmittelalterlicher Zeit ist das Jiddische, als Vermischung von
mittelhochdeutscher und hebräischer Sprache, ein Zeichen dafür. Das erste
sogleich den ganzen deutschen Kulturkreis durchdringende Dokument einer
Verschmelzung von deutschem und jüdischem Geist ist die Bibelübersetzung Luthers. Aber diese Vermischung, so tief
sie ins deutsche Volk eindrang, änderte nichts am Leben der Juden und am
Zusammenleben von Juden und Christen – trotz der aus herrlicher Christlichkeit
geborenen Frühworte Luthers über das Verhältnis der Christenheit zu den Juden.
– Mitten in die volle Problematik der Synthese aber führt sogleich die erste
Tat lebendiger Verschmelzung, die von jüdischer Seite ausging: die Moses Mendelssohns. Er als erster
geistiger deutscher Jude, als Initiator dieser Lebensform, mußte an sich selbst
sofort das ganze ungeheure Maß geschichtlicher Verantwortung erfahren, die er
für das Leben seines Volkes auf sich genommen hatte, als er, der stille, weise,
abgeklärte Mann, an der öffentlich an ihn gerichteten Entscheidungsfrage seines
Freundes Lavater: entweder den Vorrang seines Glaubens vor dem christlichen
bekannt zu geben, oder als der deutsche Gelehrte, der er war, zum Christentum
überzutreten, in schwerer jahrelanger Klarheit zusammenbrach. Und doch
vermochte Mendelssohn noch, mit voller Klarheit seines weithin wirkende Tat zu
begründen; denn sie stand unter einem völlig anderen Gestirn als alles heutige
Leben: unter dem der allbeherrschenden klaren, in Gott gegründeten
Gesetzlichkeit der Vernunft. Im
Zeichen dieser festes, noch unerschütterten, vorkantischen Vernunft stand
wirklich der deutsche Geist, wie nie vorher und nachher, geöffnet für den
jüdischen. Die einzige Gestalt Lessings zeigt, wie wenig Mendelssohn in diesem
Augenblick zum Verräter an seinem Eigensten werden mußte, um das Bündnis mit
dem deutschen Geist zu schließen. Und wenn auch Mendelssohn von dem Augenblick
jener gewaltsamen Lebenserschütterung an auf seinem Weg umgekehrt ist, wenn er
sich von allem Studium abendländischer Weisheit abgewandt und sein Dasein und
Wirken allein jüdischen Gegenständen zugewendet hat, so hat er dennoch damit
die sogleich mächtig weiter wachsende und nach ihren eigenen Gesetzen sich
wandelnde Synthese zwischen Deutschtum und Judentum weder aufhalten können noch
wollen. Denn wenn ihn in jenen Jahren der Schwermut zweifellos die Ahnung
anfiel, daß er selbst mit seiner geistigen Wendung das ihm Teuerste und
Heiligste, das Gewisseste und Ewigste Wind und Welle des geschichtlichen Lebens
preisgegeben hatte – niemals konnte er doch ahnen, mit wie ungeheurer Macht die
deutsche Geistesentwicklung gerade von diesem Augenblick an vorwärts drängen,
zu wie schwindelnder Höhe der deutsche Geist emporsteigen, wie unaufhaltsam
durch ihn die gesamte geistige Welt unter neue fremde Gestirne rücken würde. –
Schon allein durch die Tat Kants, den
Mendelssohn mit tiefem Recht von sich aus den „Alleszermalmer“ nannte, begann
die gewaltige Drehung des deutschen Geistes von der Ratio ins Irrationale. Sie
begann damit, daß Kant die menschliche Vernunft aus ihrer ursprünglichen
Wurzelung in Gott ausriß, um sie gleichsam an anderer Stelle in das göttliche
Erdreich wieder einzupflanzen: aus der vernunftgegründeten Welt u m uns in das
moralischen Gesetz in uns, in dem
allein – nach Kants großem Wort – dem Menschen sich das Übersinnliche
entschleiert.
Was diese die jüdische
Grundwahrheit so nah anrührende Tat für den jüdischen Geist bedeutete, das
wirkt sich erst später in seiner ganzen macht aus. Dagegen setzt bereits neben
ihm die entgegengesetzte gewaltige Wirkung deutschen Geistes auf den jüdischen
ein: die Goethes. Eine Reihe wahrhaft
tiefer Deutungen Goethes in Deutschland sind jüdischem Geist entsprungen: fast
durchweg von einem letzten sehnsüchtigen wissen um eben die Form des
Menschentums getragen, die dem Juden schicksalsmäßig versagt ist. Die Tiefe und
Tragik dieses Verhältnisses – Eros im wahrsten Sinne: in der genauen Mitte
zwischen Haben und Nichthaben – wird von der ersten großen jüdischen
Goethe-Erfassung, der Rahels an in fast allen Deutungen Goethes aus jüdischen
Geist sichtbar.
Weit lebensnäher und
gefahrvoller aber als Goethe und der Idealismus war es dann die deutsche Romantik, die in einem wahren Wirbel die
jüdischen Geister, zumal die nach geistiger Nahrung verschmachtenden jüdischen
Frauen, von den zu jener Zeit nicht mehr wahrhaft lebendig erlebten jüdischen
Gehalten abbog und mit einer einzigen Flutwelle von allem noch eben Geglaubten
und Geliebten hinweg in ihren immer weiter von Ratio und Gesetz abtreibenden
Rhythmus hineinriß.
Hat die Romantik so dem
Judentum unzählige Seelen, ganze Generationen entrissen, so ist dies auf der
anderen Seite durch die damals noch, wie bei den Kindern und Enkeln
Mendelssohns, im Zeichen einer edlen und abgeklärten Kultur sich vollziehende
äußere und innere Verbürgerlichung
der deutschen Juden geschehen. Denn grundsätzlich geht mit der Verbürgerlichung
– auch ohne die Taufe, die meist früher oder später mit ihr Hand in Hand ging –
dem Juden sein Eigentlichstes verloren: das Leben im Abgrund der irdischen
Heimatlosigkeit und das auf der Fluthöhe des Heiligen. Hier, in dem
Hineinwachsen in die beruhigte bürgerliche Welt, steckt eines der tiefsten
Probleme der Emanzipation überhaupt. Eine so leichte, fast schwebende Gestalt
wie die halb bürgerliche, halbe romantische Felix Mendelssohns, des vielleicht
glücklichsten Menschen unter allen modernen Künstlern, ist weit von dem
tragischen Doppelmysterium des jüdischen Daseins abgetrieben.
Sein äußerster Gegentypus Heinrich Heine dagegen, Jude ganz und
gar, und einer der leidenschaftlichsten und unglücklichsten Liebenden
Deutschlands, blieb diesem Mysterium sein Leben lang verhaftet. Er, der nur zu
gut wußte, daß man die Liebe für sein Vaterland erst an dessen Grenzen entdeckt
und dann, wenn es im Unglück ist, wußte doch zugleich immer: „Deutschland: Das
sind wir selber.“ In dieser Doppelhaltung von Identität und Ferne empfand er,
der Dichter des meistgesungenen deutschen Volksliedes, das Land, das er liebte
und um das er litt. er war eins mit ihm, und er sah es doch von seiner Grenze,
von einer anderen Ordnung her. Und damit wurde es ihm zur Aufgabe. Heine
gehörte zu den ersten seiner Zeit, die eine reale Umgestaltung der deutschen
Wirklichkeit herbeizuführen strebten. Fast alle jüdischen unter den deutschen
Dichters und Denkers waren zugleich Kritiker der Wirklichkeit ihres Landes.
Immer aus heißer Liebe zum Vaterlande von einer zeitlosen Ordnung des Gesetzes
aus in dessen zeitlich-geschichtliche Gestalt hineingreifend, nicht in ihm
untergehend und verschwimmend, sondern es haltend und stützend. In einer Leibe,
die Kritik, in einer Kritik, die Liebe ist, – so kann man wohl am besten die
Haltung der Heine, Lasalle, Landauer, Rathenau in all ihren noch so
verschiedenen Überzeugungen charakterisieren.
Aber gerade hier, wo am
tiefsten, am leidenschaftlichsten, am unbedingtesten die Juden sich dem
deutschen Vaterlande verbunden glaubten und ihr Leben in es einsetzten, klafft
am tiefsten der Abgrund zwischen jüdischem und deutschem Geist. Der deutsche
Geist hatte von Luther an eine Wendung vom Außen ins Innen erfahren, die dann,
seit Kant, durch den Idealismus und die Romantik hindurch, sich mit der Wendung
zum Irrationalen mischte und schließlich in der zweiten Romantik immer steiler
und verhängnisvoller auf ihren Gipfel stieg. Zugleich aber und in unheimlicher
Entsprechung mit dieser Wendung ins Innere und Irrationale begann Deutschland
mit dem ganzen übrigen Europa in eine völlig veränderte Epoche hineinzuwachsen:
in die Welt der Maschine, der Technik, der Industrie, der Flucht der Menschen
vom Lande in die Großstädte, der Loslösung der wirtschaftlichen Werte von jedem
Realwert, die alles in allen einen völlig verwandelten Menschentypus
hervorbrachte. Diese selbe reale Welt mit ihren neuen Forderungen, von denen
Heine ausging, war der Ausgangspunkt Wagners,
der sich anfangs gleichfalls den politischen Fragen, der Gegenwartsgestaltung
zugewandt hatte, um sich dann mit ungeheurer Gewalt in den Venusberg der Kunst
zu flüchten, dessen Tore sich für immer hinter ihm schlossen. Mit Wagner
beginnt die Wendung des deutschen Geistes zum Mythos. Eine ganze uralte Götter- und Mysterienwelt, von der die
Menschheit seit Jahrtausenden losgerissen war, rauschte in seiner Kunst aus dem
Abgrund des Nichts empor und verdeckte mit ihrer verführerischen Gewalt alle
Wirklichkeiten und Probleme des realen menschlichen Daseins. Denn der Mythos
war nicht mehr die originäre Wahrheitsform jener Zeit; nicht mehr stieg er wie
des Lebens selbst empor; nur noch der Geist einzelner vermochte ihn zu
beschwören, und immer tiefer zog er sich darum in das Esoterische zurück.
Wagner dagegen hat, indem er sich der Welt, in der er lebte, durch einer Flucht
bis weit in die Unendlichkeit des Inneren und eine nicht mehr existente
Vergangenheit entzog, sich ihr doch zugleich wieder eingefügt und unermeßlichen
Einfluß auf sie gewonnen – und zwar durch die Art seiner Kunst selbst: durch
die verhängnisvolle Gestalt der Oper. Denn Oper, das bedeutet nicht nur jenen
rauschenden Zusammenklang von Musik und Dichtung, nicht nur das Erwachsen einer
ganzen Welt aus dem geheimnisvollen Flammenkern des Klanges, es bedeutet auch
die Schaustellung vor einer großen Menge von Menschen. Nicht vor einer
Gemeinde, sondern vor einem Publikum, d. h. einer beliebig zusammengewürfelten
Menge von Großstadtmenschen, hat Wagner die letzten Mysterien des Inneren
entschleiert; und die Menschen, die sich mit seinen Gestalten identifizierten,
sich selber unkenntlich gemacht.
Und so stieg, was bei ihm bloße
Bühnenwirklichkeit war, sehr bald hinab in das Denken und Leben selbst. Wagner
ist so zum Vorläufer der großen deutschen Lebensphilosophie wie einer neuen
großen deutschen Dichtung geworden. Denn wenn auch zur Lebensphilosophie
bereits Schopenhauer den Grund gelegt hatte – Nietzsche, nicht Schopenhauer ist
der erste eigentliche Lebensphilosoph. Während Schopenhauer das Leben als
Sinnlosigkeit und Leid entdeckte, aber auch verwarf, erhebt Nietzsche mit
gewaltiger Geste dies völlig irrationale, von Leid und Nacht und Nichts
randvolle Leben selbst zum absoluten Wert. So bedeutet Lebensphilosophie nicht
nur die Preisgabe jedes festen Gerüstes von Ratio und Gesetz, die Aufgabe jeder
Wahrheit und Klarheit; sie bedeutet überhaupt alles oder nichts. Sie ist ein
Begriff, der sich bestimmt im Munde dessen, der ihn ausspricht. Sie ist ebenso
sehr der Ausdruck einer tiefen existenziellen Sehnsucht wie der des
vollkommenen Zerfalls des Seins. Und kraft dieser Sehnsucht wächst aus diesem
zerfall jene längst versunkene Mythenwelt empor. Mit der immer realeren
Vergöttlichung menschlicher Gestalten in einer zerrinnenden Wirklichkeit rinnen
Schein und Wirklichkeit, Traum und Wachen, Mythengestalt und Mensch ineinander;
niemand kennt sich mehr, niemand die Welt, in der er steht, die Wirklichkeit,
der er angehört und die ihn fordert.
Gegen diese ungeheure
Vermischung des Wirklichen, in die sich auch der jüdische Geist weithin
eingeordnet hat, erhebt sich in Deutschland bereits vor dem Krieg eine neue
völlig veränderte Art des Denkens, die diese gesamte Verhüllung und
Verbildlichung zu durchdringen und Schritt um Schritt, Wirrnis und Schein
gedanklich auflösend, hinabzudringen strebt in den echten Grund der
Erscheinungen. Es sind die aus jüdischem Geist gespeisten drei großen Analysen
des Wirklichen: die soziologische, die die wirkliche Gestaltung des
Gesellschaftslebens aufzudecken sucht; die psychologische, die die echte
Struktur der seelischen Erscheinungen in Traum und Wachen zu ergründen und zu
sondern strebt, und die phänomenologische, die in strengem Rückgang von allem
nur Ungefahren auf das Wesenhafte die mit sich selbst identischen Formen und
Akte des Denkens zu ergreifen sucht. Diese letztere Analyse verschmäht
grundsätzlich jede Beziehung auf das Wirkliche; sie erstrebt nichts anderes als
die allem Erfassen des Wirklichen vorausgehende Klärung des Denkens in sich
selbst. Den beiden anderen: der soziologischen und der psychologischen, dagegen
geht es, auf verschiedenen Gebieten und von völlig verschiedenen
Geschichtspunkten aus, um eine Veränderung der Wirklichkeit selbst: um Rettung
und Tat der einen, um Erweckung und Heilung der anderen. Für beide ist der
Geist um das Geistes willen nichts; er ist nur da, um Wege für eine Umgestaltung
und Neugestaltung des menschlichen Lebens zu finden. Mit der Frage nach der
realen Not der lebendigen geschichtlichen Menschen ist das Leben in den Schutz
und die Verantwortung des Geistes gestellt. Der Geist soll von nun an nicht
mehr schweifen; er soll Verantwortung tragen.
Aber alle diese verschiedenen
Analysen haben sich dann trotzdem in letzter Tiefe wieder mit der
Lebensphilosophie verschlungen und durch diese Verschlingung zu völlig neuen
Fragestellungen und Lösungsversuchen getrieben. Denn die Lebensphilosophie
führte in ihrer Auflösung aller Werte und Gesetze doch noch etwas anderes mit
sich. In ganz anderer Weise als die Sphäre der Ratio enthält die Vitalsphäre in
sich die existenzielle Urfrage: die nach dem lebendigen Subjekt des Geschehens,
dem realen konkreten Menschen.
Noch bevor all diese
differenten Denkweisen sich zu dieser neuen Fragestellung verdichtet halten, in
der deutscher und jüdischer Geist unauflösbar verschlungen sind, geschah der
Ausbruch des Weltkrieges. Nun in der schwersten Stunde war in Wirklichkeit das
Vaterland der Deutschen und der Juden eins; und vielen gerade der geistigen
Juden erschien es als eine schmerzhafte und selige Bestätigung, in dem Opfer
von Leib, Gut und Blut ganz und gar hineinzuwachsen in die deutsche Wirklichkeit.
Aus der Flammenhölle des
Krieges, in dem die Menschen herausgerissen wurden aus allen Bindungen und
Bergungen der Kultur, stieg dann wiederum ein verwandelter Typus Mensch empor,
ein zerstörtes, völlig unkenntlich gewordenes, im tiefsten fragwürdiges Wesen.
Und in dem brausenden Nichts des nun heraufgekommenen, ganz ins Irrationale
gesunkenen, wert- und gesetzlosen Lebens, an dessen äußerstem Rande die Ratio
in der schwindelnden Entwicklung der Technik ihre menschenfremden Orgien
feierte, – um erste strömte alles bisherige Denken zusammen zu der Einen Frage.
Indem die drei Analysen mit ihrer Klärung und Denkschärfung in das Grauen des
lebendigen Lebens und des verwirrten Denkens hineinleuchten, indem zugleich die
Lebensphilosophie und eine neu erwachsende Theologie in Bejahung und Verneinung
die brennendsten Fragen des Menschseins aufleuchten lassen, vollzieht in diesem
Augenblick ein Mysterium: inmitten der ungeheuersten Auflösung alles
Menschlichen taucht aus den Wolken des Chaos das lebendige Antlitz des Menschen
herauf. Nur von fern, nur angedeutet, noch nicht klar herausgestaltet, nur als
Frage: als Frage des Menschen nach seiner eigenen Wirklichkeit. Zum erstenmal
seit der größten Enthüllung des Antlitzes, die je im menschlichen Raum geschehen
ist: der Enthüllung des unsichtbaren Antlitzes des Einen, dem der Mensch sich
entgegenbilden soll, wird wieder das Antlitz
gesucht, seine Enthüllung erstrebt. Aber nun als ein anderes, ein einsames,
verlassenes, tief verwirrtes, in anderem und furchtbarerem Sinn unsichtbares,
über dem der Glanz des Einen Antlitzes, der es erleuchtete und bildete,
erloschen ist. –
Und diese Frage stellt sich nun
auch in einer bereits sich umwandelnden deutschen Wirklichkeit dem jüdischen
Menschen im besonderen. Muß nicht an ihm, dem allein an Gott Lebenden, das
Nichts dieser Stunde noch weit furchtbarer sich auswirken als an den anderen
Völkern?
Aber von dieser Angst um das
jüdische Dasein waren seit langem, auch als die deutsche Welt noch ruhig und
problemlos schien, eine Anzahl jüdischer Geiser erfaßt. Ihnen zeigte sich die
deutsch-jüdische Problematik in ihrer eigentlichen Tiefe, lange bevor sie feste
äußere Gestalt annahm. An erster Stelle steht hier Martin Buber, dessen Wirken
und Wirkung sich vom Jahrhundertbeginn bis zum heutigen Tage durch die deutsche
Wirklichkeit zieht. Rein im Zeichen des Geistes hat Hermann Cohen seine
jüdische Erneuerung vollbracht. Vom Religiös-Theologischen her waren es vor
allem Männer wie A. N. Nobel, Leo Baeck, die die Juden zu ihrem verlassenen
Erbgut zurückzuführen strebten. Eine der stärksten und reinsten Gestalten:
Franz Rosenzweig, hat an der Front eine leuchtende Auseinandersetzung zwischen
jüdischem und deutschem, jüdischem und christlichem Geist geleistet. Und
abermals entspringt hier am Ende der Synthese wie an ihrem Anfang eine
Übersetzung der Schrift. Unter völlig anderen sprachlichen und realen
Voraussetzungen als denen Luthers wie Mendelssohns, vom einer sehr viel
tieferen Problematik der Sprache wie des Lebens aus wurde von Buber und
Rosenzweig dieses große Werk unternommen, das heute noch nicht abgeschlossen
ist.
Aber neben dieser
Bibelübersetzung, in der, wie in Rosenzweigs „Stern der Erlösung“, allen
Zweifeln zum Trotz noch einmal der Name
in seiner aller überstrahlenden Gewißheit aufleuchtet, hat noch ein anderer
großer Jude aus dem Herzen dieses Augenblicks gesprochen, einer, dessen
Gegenstand nicht der Name, nicht die Gewißheit, sondern die Unaussprechbarkeit
des Namens, der unüberbrückbare Abgrund zwischen dem Gottesnamen und der
Wirklichkeit unserer Welt ist; der Dichter Franz Kafka. Er hat nicht als
Führer, nicht als wegweisende Persönlichkeit zu den Menschen geredet, sondern
aus dem Abgrund dieser Welt selbst. In seiner unheimlichen, qualvoll
versponnenen Kunst ist Gott völlig verstummt. Ja, das Verstummtsein Gottes und
die Wirkung dieses Verstummtseins an der Welt ist der ganze Inhalt dieser Kunst
selbst: der schweigende Gott und das in unerbittlicher Strenge wirkende, aber
dem Menschen unvernehmbar gewordene Gesetz.
Aber in diesem Augenblick
bricht wieder die grauenvolle Begnadung, das furchtbare Schicksal, das den
Juden jedesmal da trifft, wo er zu tief in ein irdisches Vaterland
hineingewachsen, zu restlos mit einer fremden Kultur verschmolzen, zu sehr von
seiner eigenen Wahrheit abgetrieben ist, über den jüdischen Menschen herein.
Etwas Unfaßbares, gar nicht zu Verwirklichendes kommt über das deutsche
Judentum; die erneute und vertiefte Erfahrung seines Ausgerissensein aus der
Schöpfungsordnung – und diesmal in einem Augenblick, wo es unmöglich geworden
scheint, die Identität mit der deutschen Kultur zu zerreißen, ohne daß das
ganze Gewebe zerreißt – wo es ebenso unmöglich scheint, an die alte Wahrheit
des Ursprungs wieder anzuknüpfen. Und doch: als diese Wahrheit des dreifach
Verstoßenen, vom Gesetz wie vom Vaterland Losgerissenen, vom Land der Vater nur
zu einem kleinen Teil Aufgenommenen – gerade in dieser furchtbaren Bedrohung
erhält das ewige jüdische Problem einen neuen: den unendlich vertieften alten
Sinn. Wir stehen wirklich und wahrhaftig vor unserer Wahrheit.
Ob eine jüdisch-deutsche
Synthese in einer neuen veränderten Form gefunden werden kann, ob die deutschen
Juden sich in einer Welt, die sie nicht aufnimmt, verstreuen werden, ob
Palästina, das nur eine beschränkte Zahl von Juden einläßt, dennoch zu einer
Lösung führen kann, – alle diese Fragen sind, so furchtbar und brennend sie als
Wirklichkeitsprobleme sind, für das heutige Judentum nicht das letzte und
äußerste Problem. Sondern umwittert von all diesen schweren Schicksalsfragen
und in ihnen selbst steigt die Frage herauf: Kann von dem aus, was wir in der
deutschen Welt geworden sind, von einem nicht mehr gewußten und gelebten
Gesetz, von einem nicht mehr klar umrissenen und erlebten Gott, von einer uns
nicht mehr gegenwärtigen jüdischen Wirklichkeit aus dennoch das jüdische
Schicksal wieder als echtes lesbar werden? Aber schon die Frage, als
wahrhaftige lebendige Frage dieser Stunde, steigt ja wie der sich aus sich
selbst erneuernde Flammenvogel aus der Asche unseres geschichtlichen Daseins
auf. Einmal mit dem ganzen ungeheuren Ernste dieser Stunde gestellt, ist ja
diese Frage selbst Weisung und Gebot, bedeutet sie die Entscheidung, ob der
Strom der jüdischen Wahrheit, unterirdisch und verborgen fortrauschend, auch
dies eine Mal noch die Kraft haben wird, als eine echte Wirklichkeit das
jüdische Dasein zu tragen, seine Wurzeln zu speisen und es damit zu einer neuen
lebendigen geschichtlichen Gestalt zu erwecken.