Stifters Abdias
In: Der
Morgen, Heft 1 (April 1934)
Adalbert Stifter hat in dieser
Erzählung zur Darstellung des Weltgeheimnisses, das wir Schicksal nennen, und
das, aus letzter Ferne gesehen, sich seinem Blick entschleiert als „eine
heitere Blumenkette, die durch die Unendlichkeit des Alls hängt und ihren
Schimmer in die Herzen sendet“, das finsterste, erbarmungsloseste
Menschenschicksal gewählt.
Nicht zufällig ist es das
Schicksal eines Juden. Mit dem Problem und Mysterium des Judentums haben sich –
im positiven oder negativen Sinne – alle wahrhaft großen germanischen Dichter
und Denker auseinandergesetzt; eine wirkliche Gestalt und Gestaltung aber haben
ihm nur drei unter ihnen gegeben: Shakespeare, Rembrandt und Adalbert Stifter.
Alle drei haben in verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Kunstformen das
jüdische Schicksal als ein Äußerstes, als einen Grenzfall des Menschendaseins
erfaßt und ein Letztes alles Menschlichen an ihm sichtbar gemacht.
Die beiden ersten können hier
nur kurz gestreift werden. Shakespeare hat in seinem Shylock das Bild eines
Ghettojuden gegeben, wie es von der strahlenden Welt der Freien, Wurzelnden,
der Glücklichen und Unbedenklichen aussieht – und nicht nur aussieht, sondern
wie es in ihr als von ihr selbst erzeugtes äußerstes Gegenbild sich logisch
hätte entwickeln müssen. In der Welt der Renaissance, die Christentum und
Heidentum zu dem Rausch einer neuen himmlisch-irdischen Schönheit,
schrankenloser Freiheit und Macht zusammenwarft, hat Shakespeare der von jeder
Schönheit überglänzten Welt der Freien die unbeschreibliche Häßlichkeit des
Geknechteten und Ohnmächtigen gegenübergestellt: die grenzenloseste menschliche
Häßlichkeit, die der
Haß ist. Der Haß in seiner
immanenten Gerechtigkeit und in seiner ungeheuren Verworfenheit. Aller äußere
und innere Glanz sammelt sich auf der Welt der gerechtigkeitsfremden Macht,
während die dunkle Macht der Gerechtigkeit, in das Gewand der äußersten
Ohnmacht gekleidet, glanzlos und gnadenlos versinkt. Das Schicksal des Juden wird
hier durch die eine Erdzeit lang wirkende Unterdrückung zur finsteren
Gegenkraft einer Welt.
Von völlig anderer Art ist das
Bild, das Rembrandt vom jüdischen
Menschen gegeben hat. Auch er hat – um weniger als ein Jahrhundert später – in
einer räumlich und zeitlich völlig anderen Welt wiederum am Judentum ein
Äußerstes des Menschlichen überhaupt sichtbar gemacht. Aber hier ist es, obwohl
auch Rembrandt den Ghettojuden darstellt, nicht die rasende Reaktion auf eine
feindliche Umwelt, sondern die Ewigkeit des jüdischen Schicksals rein in sich
selbst. Was Rembrandt in seinen jüdischen Gesichtern und Gestalten darstellt,
ist jenes Übermaß an Erfahrung, das
den Juden von allen Völkern unterscheidet und ihn vor ihnen allen traurig und
gnadenhaft auszeichnet. Denn das Wurzeln in einer irdischen Heimat läßt dem
Menschen immer einen Rest pflanzenhafter Ruhe und Sicherung. Erst die
grundsätzliche Heimatlosigkeit, das unablässige wieder Losgerissenwerden, der
ewige Aufbruch auf Erden macht ihn ganz zu dem Wesen, das er in Wahrheit ist:
dem, der hienieden keine bleibende Statt hat, sondern die zukünftige sucht.
„Elend“ nennt das alte deutsche Wort die Fremde. Das Leben im „Elend“, wie es
das jüdische Volk seit Jahrtausenden führt, unterstreicht nur das
Menschenschicksal überhaupt. Der Jude ist der, der gewissermaßen zweimal das
Menschschicksal lebt. Als der nirgends Wurzelnde, ewig Wandernde steht er immer
an der Grenze des Lebenkönnens.
Aber diese Grenze des
Lebenkönnens ist kein bloßes Ende; sie ist zugleich die Grenze zu einer anderen
Welt. Wir blicken in das Antlitz der Rembrandtschen Juden hinab wie in einen
Brunnen von unabmeßbarer Tiefe, in dem sich jene ganze Schicksals- und
Leidenserfahrung gesammelt hat, die unmittelbar angrenzt an ein Jenseits des
Menschlichen: an das Übersinnliche. Rembrandts jüdische Menschen, die seiner
eigenen Zeit wie die einer fernen Vergangenheit, stehen alle unmittelbar im
religiösen Urschicksal des Judentums. Er hat seinen gewaltigen
alttestamentarischen Gestalten keine besondere Stilisierung einer vergangenen
Welt gegeben; er hat im Ghettojuden, der neben ihm lebte, unmittelbar dieselbe
Urerfahrung erblickt. In seinen Bildnissen wie in den großen biblischen
Begebenheiten erscheinen dieselben Menschen jener letzten Lebens- und Leidenstiefe,
aus der die Verkündung eines Jenseitigen übermächtig aufsteigt. In dem
tränenfeuchten Dunkel seiner Heimatstadt erscheinen sie alle von einer einzigen
überirdischen Lichtquelle erleuchtet. Alles umher wird zur Botschaft. Engel
stehen um sie, himmlische Boten steigen auf der Leiter des Lichtes zu ihnen
herab.
Wenn neben diesen beiden
gewaltigsten Künstlern der germanischen Welt, neben denen nur noch ganz wenige
bestehen, hier der viel bescheidenere Genius Stifters genannt werden darf, so ist es darum, weil mit seiner
Erzählung vom Juden Abdias dieser Genius wirklich einen Gipfelpunkt aller Kunst
erreicht und weil er in ihr nicht minder als jene anderen am jüdischen
Schicksal ein Äußerstes, ja – wie es seine Einleitung zeigt – das Äußerste des Menschenschicksals
überhaupt als große Ahnung sichtbar gemacht hat. Er hat es um zwei Jahrhunderte
später als Rembrandt in einer wiederum völlig gewandelten Epoche getan: in
einer sehr still, sehr nüchtern und irdisch gewordenen, eigentümlich
beschränkten Epoche. So hat er seinen Helden weder zu der finsteren Gegenkraft
einer Welt der Schönheit und Freude zusammengeballt, noch hat er ihn aus der
Wahrheit des Alten Testamentes heraus in ständigem innerem Vernehmen des
Übersinnlichen und unter überirdischen Erscheinungen lebend dargestellt.
Beides wirkt im Bilde dieses
Menschen nach; aber das Problem dieser Erzählung erhebt sich gerade darauf, daß
keines von beiden, daß überhaupt nichts Einzelnes und Benennbares im jüdischen
Dasein in ihr klare Gestalt gewinnt. – Stifter erzählt das Schicksal eines zu
seiner eigenen Zeit lebenden Juden, das sich dem Raum nach sehr fern von ihm
begibt, aber trotz dieser Ferne und trotz der Fremdartigkeit und Absonderung
seines Helden doch deutlich unter den untergehenden Sternen seiner eigenen Zeit
steht.
Aber die Kunstform Stifters ist
auch der Art nach von den beiden früheren verschieden. Die epische Kunst gibt
nicht wie das Drama und die bildende Kunst die Gestalten für sich im engsten
Rahmen ihrer Umgebung, sondern sie gibt deren ganze räumliche und zeitliche
Welt. Und Stifter ist vielleicht der letzte Epiker gewesen, der eine Welt
besaß; nur ist diese Welt nicht mehr ganz wahr. Fast scheint es, als ob der
Dichter sich gerade aus diesem Grunde bemüht hätte, sie mit so überzeugender
Klarheit und Schärfe, mit so unfehlbarer Sicherheit bis in alles Einzelne
hinein zu zeichnen und als Heimat seiner Gestalten zu geben. Die Stifterschen
Existenzen haben alle noch Heimat; die Menschen vermögen sich in diesen
Landschaften, auf diesen Wegen, in diesen Zimmern noch zu finden, – und doch
ist diese Heimat schon von fernher unterirdisch erschüttert; überall spüren wir
ein kaum merkliches Beben unter seiner abgeschlossenen, ruhevollen Welt. Sie
ist noch schön – schön, wie ein sanfter farbenreicher Herbsttag, an dem bereits
die Blätter lautlos und unmerklich fallen; aber die ruhevolle Schönheit der
Menschen und Dinge erweist sich überall an den Entscheidungspunkten von
Stifters Dichtung als teuer bezahlt. Denn diese gedämpften Erzählungen in ihrer
schweigsamen Schönheit sind keineswegs was sie auf den ersten Blick scheinen
könnten: bloße „Existenzbilder“, reine Darstellungen eines schönen losgelösten
und verantwortungslosen Lebens, in denen sich nichts enthüllt als eben die
Schönheit und Eigenart des Erscheinenden selbst. Mag auch Stifter aus einer
eigenen zeitgebundenen Welt in seiner Dichtung niemals sichtbar herausgetreten
sein, mag er ihre fragwürdigen Grundlagen scheinbar akzeptiert haben – überall
lebt doch unter der kühlen abgeschlossenen gefühlsfremden Welt des Biedermeier
das dunkle Geheimnis ihres Nicht-Sein-Könnens von der wahrhaftigen Wirklichkeit
des Menschen her. Diese Tragik bleibt als solche unausgesprochen; aber sie ist
immer wortlos gegenwärtig. Nur in seltenen Augenblicken bricht sie plötzlich
gewaltsam durch – in Augeblicken, die Höhepunkte aller Kunst sind durch die
Gewalt der in ihnen offenbarten Menschlichkeit.
Der Jude Abdias, im Anfang als
ein gebeugter, neunzigjähriger Greis eingeführt, war in seiner Jugend „so
schön, wie einer jener himmlischen Boten gewesen ist, die einstens so oft in
seinem Volke erschienen“. Einstens – denn diese Zeit ist längst vorüber. Die
gottbestimmte Wirklichkeit, das sichtbare Eingreifen überirdischer Mächte, die
gewaltigen Erscheinungen und Offenbarungen des jüdischen Volkes sind Abdias
fremd und unbekannt geblieben. Von der Schönheit des Anfangs seines Volkes ist
es so weit entfernt, wie er es später von der ursprünglichen strahlenden
Schönheit seines Antlitzes ist, die auf der Höhe seines Lebens eine furchtbare
Pockenkrankheit für immer zerstört hat. In der afrikanischen Wüste, in den
verborgenen Trümmern einer alten Römerstadt mit Schakalen hausend, in einer mit
armseligen Lumpen verstopften Höhlenwohnung voll kostbarer Schätze des Orients,
in der nur am Abend, wenn die Lampen brennen, alles glitzert und funkelt,
wächst der schöne Knabe, von einer weichlichen unwissenden Mutter verhätschelt,
ohne Belehrung, ohne Erziehung, ja ohne das gewöhnlichste Wissen auf, um dann
von seinem Vater, dem Brauch gemäß, eben erwachsen, eines Tages arm und
mutterseelenallein in eine Welt voller Gefahren ausgesetzt zu werden, in derer
sich sein nacktes Leben verdienen, das Wissen, das er braucht, erwerben und zum
reichten Manne werden soll.
Nirgends ist in dieser
Erzählung der Name Gott genannt; kein Lichtschimmer aus einer andern Welt fällt
herein. Nur in seltenen Augenblicken dämmert es wie eine dumpfe Sehnsucht nach
der Weisheit der alten Propheten und Führer des auserwählten Volkes auf. Abdias
selbst sollte eigentlich nach dem Willen des Vaters in dieser Weisheit erzogen
werden. Aber es wurde nichts daraus, „weil es in Vergessenheit geraten war“.
Vergessenheit dessen, was dieses Geschlecht „das ausschließendste der Welt“,
eigentlich ist, wozu es bestimmt ist, liegt wie der leere weite Wüstenhimmel,
unter dem der Knabe viele Stunden lang in einem leeren Sinnen und Fragen
träumt, über seinem Schicksal. Aber in dem reichen, verschlagenen und mächtigen
Händler, der mit seinen Karawanen durch den ganzen Orient zieht; in dem glänzenden,
prunkliebenden Kaufmann, zu dem Abdias im unerbittlichen Kampf mit einem
feindlichen Leben erwächst; in der unerhörten Kraft und Ausdauer, mit der er
alles vollendet, was er unternimmt; in der Größe seiner Lebensbeherrschung und
selbst in dem Rausch von Glanz und kriegerischer Macht, durch den er „die
schimmernde Straße des Reichtums immer näher gegen die Wüste zieht“, – in
diesem Übermaß an starkem, zähem und wildem Leben, wie später in der glühenden
Ausschließlichkeit seiner Leibeskraft sehen wir doch, nur gleichsam als rohes,
ungeschmiedetes Material, die ganze Übergewalt des Stammes aufleuchten, der
einst die Propheten und Führer der Menschheit hervorgebracht hat.
Alle widersprechendsten Züge
des jüdischen Wesens sind in diesem einen Menschen vereint, ja, die
geschichtliche Entwicklung seines gesamten Volkes scheint sich im Leben dieses
Mannes widerzuspiegeln, der als Mensch jener Zeit, losgelöst von seinem
religiösen Wurzelgrund, in all seinen gewaltigen menschlichen Lastern und
Tugenden, unter dem Verhängnis eben dieses Losgerissenseins vor uns steht. Denn
das Seltsamste ist, daß das ganze Leben dieses heillosen, schuldbeladenen
Menschen dennoch letzthin immer am Heil entlangläuft, daß es überall und immer
auf das unbekannte Heil ausgerichtet ist. Nirgends ist das Zerbrechen der
spröden, glasklaren Stifterschen Sichtbarkeit ergreifender gestaltet als in
jenem Augenblick, wo zum erstenmal in seinem Leben den wilden und harten Mann
ein Strahl des echten Heils berührt und nun die ganze Tiefe und Zartheit des
jüdischen Empfindens wie ein springender Brunnen aus dem finsteren Erdreich
dieses Lebens aufsteigt. Es ist der Augenblick, in dem der bereits alternde
Abdias, von einem langen glänzenden Karawanenzug zurückkehrend, sein Heim von
Räubern verwüstet, alle seine Schätze und Habseligkeiten fortgeschleppt findet
und in einem soeben noch mit prunkvollen Teppichen belegten Gemach, von allen
seinen Dienern verlassen, auf einem Haufen lockerer Erde seine Frau, die ihm
ein vor Schrecken zu führ geborenes Kind – das erste – entgegenhält.
Abdias hatte Deborah einst um
ihrer unaussprechlichen Schönheit willen aus dem fernen Lande mit heimgebracht;
sie hatte, während er den ganzen Orient bereiste, in der Verborgenheit seiner
Höhle mit ihren Dienerinnen still gelebt und war dann eines Tages bei seiner
Rückkehr durch seine plötzliche Verwandlung aus dem schönsten zum häßlichsten
Menschen in unheilbare Schwermut verfallen. Denn beide durch ihre strahlende
Schönheit ausgezeichneten und wie verschleierten Menschen hatten einander
bisher „nur mit äußeren Augen gesehen“. Nun sieht er auf sie hin „und
streichelte, neben ihrem Haupte kauernd, ihre kranken, bereits alternden Züge –
sie aber lächelte ihn seit fünf Jahren wieder zum erstenmal mit dem düsteren
traurigen Antlitze an, als sei die alte Liebe neu zurückgekehrt“. – Abdias
vergißt alles um sich her: den Raub, die bedrohliche Feindseligkeit der
Nachbarn: „es war ihm mitten in der Zerstörung nicht anders, als sei ihm das
größte Glück auf Erden widerfahren – und wie er neben der Mutter auf dem
nackten Boden saß und wie er den kleinen wimmernden Wurm mit den Händen
berührte, so wurde ihm in seinem Herzen, als fühle er drinnen bereits den
Anfang des Heiles, das nie gekommen war und von dem er nie gewußt hatte, wo er
es denn suchen sollte – es war nun da und um Unendliches süßer und linder, als
er sich je gedacht. Deborah hielt seine Hand und drückte sie und liebkoste sie
– er sah sie zärtlich an – sie sagte zu ihm: ,Abdias, du bist jetzt nicht mehr
so häßlich wie früher, sondern viel schöner.’ Und ihm zitterte das Herz im
Leibe.“
In seiner Abwesenheit verblutet
sich die Frau. Abdias versorgt, nachdem er die furchtbare Gewißheit ihres Todes
gewonnen hat, zuerst vorsichtig das Kind mit einem milchgetränkten Lappen und
macht ihm ein Bettlein aus alten Kleidern. „Dann setzte er sich auf eine Bank
nieder, welche von Steinen gebildet wurde, die zufällig aus der Mauerecke
hervorstanden. Wie er saß, flossen aus einen Augen Tränen, wie geschmolzenes
Erz.“
So kommt die Liebe in das Leben
des Abdias. Er lebt von nun an still weiter und wendet sein ganzes Leben seiner
kleinen Tochter zu. Denn die Liebe dieses Menschen zu dem einen Wesen, das ihn
von allem andern Leben fortzieht, ist nicht ein bloßes Gefühl, nicht nur reine
Hingabe des Herzens, nicht eine bloße blinde Leidenschaft – sondern sie ist
Dienst: straffe, zähe, unermüdliche Arbeit und Tat an dem Einen und um des
Einen willen, das er liebt. Seine Liebe beginnt mit dem unendlichen Staunen
über das Wunder dieses neuen Daseins. Es ist, als erlebte Abdias an ihm ahnend
zum erstenmal das Wunder der göttlichen Schöpfung. „Wenn es Nacht war, saß er
zuweilen wieder, wie er es früher auch getan, auf dem hochgetürmten Schutte
seines Hauses, dort, wo die zerrissene Aloë stand, und betrachtete die Gestirne,
die tiefen funkelnden Augen des Südens, die hier täglich zahllos und feurig
herniedersehen.“ So lebt die dunkle Beziehung seiner Jugend zu dem, was in der
Natur am reinsten das Göttliche spiegelt, mit dem Wunder der Liebe still und
leidenschaftlich in seinem Innern wieder auf.
Den Nachbarn fällt es auf, daß
der ruhelose unternehmende Mann nun, da er das verlorene Hab und Gut wieder mit
doppelter Kraft einbringen müßte, so still fortlebt, und sie denken, er warte
nur auf den Augenblick, an dem er sich für alle vergangenen Unbilden rächen
könne. „Er aber stand in seinem Hause und betrachtete das kleine Kind.“ Abdias
war zunächst voll von Rache; er kannte den Namen, den Wohnsitz des Feindes; er
sann auf die furchtbarste, blutigste Vergeltung. Aber nach und nach wird die
Rache vollkommen von seiner Liebe aufgezehrt. Der Gedanke an sie verbleicht
mehr und mehr in seinem Herzen. Denn es gibt keinen anderen Inhalt mehr in
seinem Leben als das Kind. Um seinetwillen reißt Abdias sich nach einigen
Monaten von dem trockenen wilden Lande unter dem funkelnden Sternenhimmel, das
wie ein Abbild seiner eigenen zugleich kargen und überreichen Natur ist, los,
um hinüberzuziehen in das ferne, feuchte und mildere Europa. Nachdem er mit
größter Umsicht alle Vorbereitungen getroffen, sein an verschiedenen Stellen
heimlich vergrabenes Gold zu sich gesteckt und sich reichlich bewaffnet hat,
zieht er bei Nacht allein und heimlich mit dem Kinde und dessen Wärterin, ohne
Uram, den er nicht aus seiner Heimat reißen will, fort; aber der treue Knabe
folge ihm und holt ihn unter fast unmenschlichen Strapazen und Irrzügen nach
mehreren Tagen halb verhungert ein. Nun nimmt Abdias ihm mit. Auch das
charakterisiert diesen Mann, daß er, der von Feinden Gehasste und Umlauerte,
wie jeder starke Mensch einzelne Menschen an sich zieht, die sich ihm bis zur
Leidenschaft des Opfers verbinden.
An die Schönheit der Wanderung
des kleinen Zuges durch die Wüste: ihrer Wunder und Gefahren, ihres Lichtes bei
Aufgang und Untergang, dann des ersten Auftauchens des Meeres von der Wüste
aus, reicht kein Wort heran.
In der weißen Hafenstadt wird
Abdias von der Wärterin des Kindes um einer Liebe willen verlassen und findet
keine andere. Nun trägt er immer das Kind selbst. Noch einmal sieht er bei der
Abfahrt in fast greifbarer Nähe das reiche Landhaus des verhassten Feindes aus
dem Grün hervorleuchten. Aber er schaut nur darauf hin und versenkt dann wieder
die Augen in die Züge seines Kindes. „Das Schiff ging nun fort und fort – und
er saß und hielt das Kind in seinen Armen. So oft diejenigen, die noch
mitreisten, hinblickten, sahen sie dasselbe Bild des Mannes, wie er saß und das
Kind auf seinen Armen hielt.“
Nach langer mühseliger
Wanderung durch Europa findet Abdias ein abgelegenes stilles Tal, in dem er seinem
Kinde ein weißes Haus baut. Als es endlich vollendet ist, geht er mit demselben
rastlosen Eifer, mit dem er bisher den Bau betrieben hat, an die Entfaltung
seines Kindes, das bisher nur körperlich behütet worden war. Und obwohl Abdias
eigentlich nicht weiß, wie er es anfangen soll, erlauscht er in der völligen
Unzertrennlichkeit von seiner kleinen Tochter alles, was ihr nottut, geht er
mit einem so tiefen, erfinderischen Wissen, mit so ausdauernder Kraft und
Zartheit an seine Aufgabe heran und führt sie so unermüdlich fort, daß das
Ausbleiben des Erfolges, das er bald bemerkt, ihm immer unbegreiflicher werden
muß. Lange weiß Abdias nicht, worin das eigentlich Abweichende in dem Wesen der
Kleinen von dem anderer Kinder besteht – bis er eines Tages mit jähem Entsetzen
entdeckt, daß sie blind ist. Sofort ändert er sein ganzes Leben. Er, der nie
von ihr gewichen war, allen Reichen und Prunk um sie ausgebreitet hatte, wird
nun, wo er mit einem Schlage begriffen hat, daß sie alles dessen nicht bedarf
und daß es einzig gilt, die Zukunft des hilflosen Wesens sicherzustellen,
wieder zum habgierigen, geizigen Händler, der in das Land hinauszieht und unter
den Flüchen der Menschen alles für sein Kind zusammenrafft. Der Haß der
Menschen türmt sich bergehoch um den harten und grausamen Menschen auf. Der
Knabe, der ihn liebte, ist an dem fremden Klima zugrunde gegangen. Abdias hat
außer dem blinden Kinde nur einen einzigen treuen Freund: seinen Hund. Als
während einer im Lande herrschenden Tollwut dieser Hund auf einem Ritt sich
seltsam und aufgeregt gebärdet, mit funkelnden Augen hin und her rennt und
seinen Herrn nicht weiter reiten lassen will, glaubt Abdias ihn von der Tollwut
befallen und erschießt ihn – um dann, seine blutige Spur rückwärts verfolgend,
zu erkennen, daß der Hund sich mit seinen letzten Kräften an eine Stelle
zurückgeschleppt hat, wo sein Herr den Gürtel mit seinem Geld vergessen hatte.
Der Mann stürzt verzweifelt neben dem Tier nieder, bettet es in seinen Schoß,
sucht seine Wunde zu verbinden, – vergebens, das treue Tier stirbt.
Abdias verfällt darauf in eine
schwere Krankheit. Noch während er an ihr darnieder liegt, geschieht eines
Tages das Unfaßliche: bei einem furchtbaren Gewitter schlägt der Blitz in das
Zimmer des heranwachsenden Mädchens ein, und der ungeheure Schreck öffnet mit
jäher Gewalt ihre blinden Augen. Abdias stürzt auf ihren Schrei herein. Und
selbst dies entsetzensvolle Wunder ersten Sehens, das ihn wie das Kind in allen
Lebenstiefen erschreckt und aufrührt, weiß er, er noch Kranke, sofort mit der
vollkommensten Geistesgegenwart, mit der sicheren Klugheit des aus Liebe
wissenden Menschen, lange bevor der Arzt kommt, in die richtigen Bahnen zu
lenken. Daß das Gewitter ihm das Dach des Hauses und ringsum die Ernte
zerschlagen hat, wird er erst sehr viel später gewahr; es berührt ihn nicht.
Und wieder ändert Abdias von
einem Augenblick zum andern sein Leben. Er gibt jeden Erwerb, jeden Handel,
jede Habsucht und allen Geiz völlig auf und ist von nun an auch im Freien nur
noch neben seiner Tochter zu sehen, die er aus der Verschlossenheit ihrer
Blindheit mit so sicherem Instinkt, als tauchte er selbst aus ihr auf, in die
sichtbare Welt einzuführen strebt. Immer bleibt der halbnächtige Traum der
Unsichtbarkeit der Dinge wie ein leiser Schleier über dem Leben des Mädchens,
färbt ihre Wahrnehmung und ihre Sprache und macht das Wunder ihres lieblichen
und geistigen Aufblühens um so zarter und lieblicher. Sie ist ganz und gar
eines der traumhaften unschuldigen und immer etwas rätselhaften Frauenbilder
Stifters. Und ganz in der Liebe ihres Vaters eingehüllt, von ihm gleichsam zum
zweitenmal erschaffen, ist sie selbst voll von Liebe zu dem Einen, auf den sie
all ihr Erleben bezieht, ja von dem sie glaubt, „daß er es sei, der ihr die
ganze sichtbare Welt geschenkt habe“, diesen als Erstes in der Welt erblickten
Menschen, der nur ihr allein nicht häßlich erscheint. Als sie sechzehnjährig
eben in ihre volle Blüte eintritt, schlägt eines Tages, wieder bei einem
schweren Gewitter, vor dem sie sich mit ihrem Vater in einen aus Garben
geflochtenen Unterschlupf geflüchtet hat, der Blitz auf diesen ein, aber nun
auf ihr unschuldiges Haupt selbst, und sie sinkt tot neben ihrem Vater nieder.
Der alte Mann verfällt in Wahnsinn; obwohl noch Jahrzehnte lebend, taucht er
daraus nicht wieder auf. –
Und wie könnte das Ende eines
solchen Lebens ein anderes sein als dieses? Abdias ist der Mensch, dem bei all
seiner Kraft und Lebensbeherrschung nicht zu leben geworden ist, weil seine
Seele nur das Eine kennt, und weil er unter einem leeren Himmel dies Eine nur
unter den Vielheiten des Daseins als sterbliches Geschöpf finden kann. Seine
Ausschließlichkeit selbst führt ihn in den Wahnsinn. Es ist, als wäre die ganze
Frage Stifters, die unausgesprochen dieser Erzählung zugrunde liegt, die: Was
kann und muß aus einem großen Menschen dieses Stammes werden, wenn seine
übermächtige, ihrem Wesen nach prophetische, d. h. ausschließlich auf das Heil
gerichtete Kraft ihr Ziel nicht findet und auf rein irdische Wege gerät? Der
Stern der Verheißung war einen Augenblick über der verborgenen Höhle der alten
Wüstenstadt aufgeleuchtet, als der Knabe Abdias in ihr geboren wurde. Aber weil
niemand sein Licht erblickt und den Knaben seiner Bestimmung zugeführt hat –
darum muß sich das Schicksal und seine eigene gewaltige Kraft gegen sich und
alles, was er liebt, kehren: er muß aus dem schuldlosen träumenden Knaben zum
harten bösen Händler werden; er muß seine eigene Heimat verraten, sein Liebstes
vertun und verderben; es muß sich unter seinen sorgenden Händen verbluten; er
muß das treueste Wesen mit eigener Hand erschießen; er muß mit der Häßlichkeit geschlagen werden, die ihn aus
dem Kreis der Liebe entrückt, und eben in dem Augenblick, da er dennoch in
diesem Kreis wieder aufgenommen wird, muß ihm die, die ihn aufnimmt, sterben.
Dem Kinde, das ihm die Schöpfung erschließt und das ihm alles Leben vertritt,
muß selber Schöpfung und Leben durch seine Blindheit verschlossen sein; und es
muß in all seiner Unschuld ihn in neue Schuld und Verfehlung stürzen. Und als
ein Wunder ihm dann dennoch die Augen öffnet und es sich unter den Händen des
Vaters zu reinster Schönheit des Leibes und Geistes entfaltet, da muß dieselbe
Kraft, die ihm das Augenlicht gab, es zerschmettern. Die Schöpfung selbst steht
wider ihn auf. Weil der Stern, der über seinem Hause erschien, ungesehen
verblich, weil das mit diesem Leben Verheißene in Vergessenheit geriet – darum
mußte alles so kommen, wie es kam.
Aber eben weil es so kommen mußte, darum leuchtet durch die Kette
unsinniger und unseliger Begebenheiten, die dies Leben bilden, dennoch etwas
wie ein verborgenes Licht hindurch. Denn wenn uns an diesem von Fluch und Segen
gleichermaßen getroffenen und endlich mit Wahnsinn geschlagenen Leben die
Ahnung des unentrinnbaren Zusammenhanges von Auserwählung und Verwerfung
aufgeht, dann berührt uns darin vielleicht wirklich letzthin der Schimmer eines
Blattes aus jener unerbittlichen heiteren Blumenkette, die unerschlossen als
„heiliges Rätsel“ durch die Welt hängt – dieser Kette, von der nur erst
einzelne Blätter aufgedeckt sind, von deren Zusammenhang wir erst „kaum das
Tausendstel des Tausendstel ahnen“ und deren Gesamtsinn erst am Ende der Tage
klar sein wird. Denn so sagt der Dichter: „Und haben wir dereinstens recht
gezählt, und können wir die Zählung überschauen: dann wird für uns kein Zufall
mehr erscheinen, sondern Folgen, kein Unglück mehr, sondern nur Verschulden.“
Nur Folgen, nur Verschulden. Wenn so das Verschulden zum Schlüssel allen Schicksals
wird, dann verstehen wir, warum hier die Gestalt eines Juden zur Erläuterung
des Weltschicksals überhaupt gewählt wurde. Denn wohl erscheint das Verschulden
dieses Helden – sofern er unwissend schuldig wird – gleich der tragischen
Schuld der Griechen als eine schuldlose Schuld; aber es wird aus dem Kreis des
Tragischen herausgerissen und zur schweren religiösen Schuld dadurch, daß dies
Leben nicht wie das der Griechen sich unter hier und dahin reißenden Mächten,
unter hadernden Gottheiten mit verschiedenen Gesetzen abspielt, sondern unter
dem Auge und dem Gesetz des Einen Gottes, der sich eben diesen Menschen erlesen
hatte und zu dem eben dieser Mensch den Weg nicht fand. Darum ist der Untergang
des Abdias nicht heldische Tragik, sondern göttliches Gericht.
Wie aber verträgt sich mit
diesem Finsteren göttlichen Gericht der Schimmer jener heiteren Blumenkette,
der dennoch auf dies Schicksal fällt? Stammt er wirklich allein aus der Ahnung
des Dichters, daß alles in ihr einst in Gerechtigkeit und Klarheit gelöst sein
wird? Oder steigt diese Ahnung selbst, und mit ihr der sanfte Glanz, der über
dieses ganze düstere Mysterium von Schuld und Schicksal, Gnade und Verwerfung
ausgebreitet ist, nicht letzthin aus einer noch tieferen Quelle empor: aus der
Liebe des Dichters zu dem zwar Verlorenen, aber doch auch Auserwählten? Der
große Dichter der kleinen Welt des Biedermeier ist mit dieser Erzählung ein
einzigesmal ganz aus seiner Welt herausgetreten und hat in seinem Wissen um
Gnade und Erwählung, Schicksal und Verhängnis des jüdischen Menschen die
Pforten aufgestoßen zum Unendlichen.