Der Sinn des Anarchismus. Vortrag, gehalten auf dem Religiös-sozialen Ferienkurs in Malans

 

In: Neue Wege 41, 1947

 

I.

 

Die Bewegungen, die unter dem Namen Anarchismus zusammengefaßt werden können – und von denen ich hier nur einen Teil andeuten kann, gehören heute als Ganzes bereits einer versunkenen Epoche an. Der Anarchismus steht, obwohl in ihm die soziale Revolution schon in ihrer ganzen Tiefe aufgeführt ist, noch in einem stilleren geschichtlichen Horizont; die eigentlichen und brennendsten Probleme unserer Zeit sind in ihm nur erst gestreift.

          Um zu der einheitlichen Wurzel aller dieser vielfältigen und zum Teil widerspruchsvollen Bewegungen vorzudringen, müssen wir zunächst das Wort Anarchismus aus seiner eigentlichen Bedeutung hin untersuchen. Im gewöhnlichen Sprachgebrauch versteht man unter Anarchie Gesetzlosigkeit, Unordnung, Chaos, und entsprechend unter dem Wort Anarchismus eine Verneinung von Gesetz und Ordnung, eine Bejahung des Chaotischen. Dies ist aber noch nicht einmal eine Randbedeutung des Wortes; es drückt nur eine mögliche, keineswegs notwendige Begleiterscheinung des Anarchismus aus; sein eigentlicher Sinn ist sogar ein diesem entgegengesetzter; echter Anarchismus bedeutet gerade eine Stiftung, Neustiftung von Ordnung, wie es der Titel eines der Hauptwerke des klassischen Anarchisten Proudhon, „De la création de l'ordre dans l'humanité“, ausdrückt. Das griechische Stammwort „Arché“, dem die Verneinungssilbe „An“ vorausgesetzt ist, heißt nicht Ordnung, Gesetz; es heißt Anfang, Ur, das Erste, Vorgeordnete, Beherrschende; es bedeutet in diesem Zusammenhang „Herrschaft“. Anarchismus ist also Verneinung von Herrschaft. Und zwar Herrschaft in jedem Sinne, mit allen aus ihr hervorgehenden Formen, Verfestigungen, Abstufungen und Rangordnungen. Eine Abweisung nicht nur der Herrschaft von Menschen über Menschen, die ihre Spitze in der Einherrschaft, der Monarchie, und noch schärfer, einseitiger zugespitzt in der Diktatur hat, sondern auch eine Abweisung der Hierarchie, der Herrschaft des Heiligen mit allen ihren Formen und Stufen: Abweisung also von Staat und Kirche; alles in allem ein radikales Bekenntnis zur Freiheit, Autonomie und Unmittelbarkeit des Einzelnen.

          Damit tritt sogleich ein Grundwiderspruch im Begriff des Anarchismus hervor. Als Verneinung der Herrschaft, jedes Herrschaftsanspruchs ist der Anarchismus Abweisung von Macht, reines Bekenntnis zur Gewaltlosigkeit. Sofern er sich aber gegen eine bestimmte bestehende Herrschaftsform wendet – und das ist bei dieser Haltung unvermeidlich –, ist er Umsturz nicht nur der Macht, er führt so auch gerade in der Stiftung einer neuen Ordnung ein Element von Unordnung und Gesetzlosigkeit mit sich. Doch ist dieser Widerspruch in Wahrheit weniger tief als der erste; er löst sich zu einem großen Teil dadurch, daß bei näherer Betrachtung Unordnung und Gesetzlosigkeit nicht von der anarchistischen Revolution selbst, sondern von den Gegenmächten: eben den herrschenden Klassen, die ihr Widerstand leisten, ausgehen, daß sie also nicht so sehr eine Begleiterscheinung wie eine Folgeerscheinung des anarchistischen Umsturzes sind. Darum ist es nicht ganz so paradox, wie es klingt, daß es in allem Anarchismus, so sehr er das entgegengesetzte Bild bietet, grundsätzlich um einen friedlichen Umsturz geht, daß jede anarchistische Revolution dem Sinne nach im Geist des Friedens, mehr: daß sie um des Friedens willen unternommen wird.

          Die ganze Paradoxie und Problematik der anarchistischen Revolution scheint mir in wahrhaft bestürzender Weise zusammengefaßt in der letzten Äußerung, die uns aus dem Leben Gustav Landauers überliefert ist. Im Augenblick, als er seine unmittelbar nach dem ersten Weltkrieg, im Jahre 1919, unternommene Revolution zusammenbrechen sah, als bekannt wurde, daß die weißen Garden zur Entsetzung Münchens von den Revolutionären heranrückten, machte dieser Mann seinen Freunden den Vorschlag, diesen kriegsverwilderten mörderischen Banden, denselben, die kurz darauf den Grundstock des Nationalsozialismus bildeten, denselben, die ihn, Landauer selbst, wenige Tage später mit ihren Militärstiefeln zu Tode trampelten, als Zeichen der friedlichen Gesinnung seiner Revolution ein Kind in einem weißen Kleid mit einer weißen Fahne und Blumen in den Händen entgegenzusenden. Dieser fast an Wahnsinn streifende Vorschlag, den ihm selbst seine nahen Freunde bitter verübelten, scheint mir der auf die Spitze getriebene Ausdruck alles Großen und Widerspruchsvollen in der anarchistischen Gesinnung.

          Wäre Gustav Landauer ein weltfremder Träumer gewesen, der die Menschen und die menschliche Geschichte nicht kannte, so brauchten wir uns bei diesem Geschehen nicht aufzuhalten. Aber er kannte wie wenige die Geschichte; er kannte vor allem gründlich die Geschichte der Revolutionen; er hatte die großartigen Briefbände aus der Französischen Revolution herausgegeben; er hatte selbst ein grundlegendes Buch über die Revolution und ihre Gesetze geschrieben. Und er kannte nicht nur die geschichtlichen Gesetze; er kannte auch aus der Erfahrung seines Lebens die einzelnen Menschen; er kannte das menschliche Herz; er gerade hatte in der Verwirklichung seiner Sache gründlich die Wahrheit des Schriftwortes erfahren, daß das Trachten des menschlichen Herzens böse ist von Jugend auf. Er hatte bitter unter der Unzulänglichkeit und Erbärmlichkeit der Menschen gelitten. Oder müssen wir doch ein Fragezeichen hinter seine Kenntnis des menschlichen Herzens setzen, da er trotz dieser Kenntnis des Bösen die Verwirklichung des Guten nicht aufgab – mehr: da er diesem Wissen um das Böse die unerschütterliche Gewißheit entgegenstellte, die die tiefste seines Lebens war: „Nichts, nichts in der Welt hat so unwiderstehliche Gewalt der Eroberung wie das Gute!“?

          Aber hier berühren wir die grundlegende Gewißheit alles Anarchismus überhaupt, mit der eine weitere Paradoxie in seiner Gesinnung und ein weiteres Problem für seine Verwirklichung sich auftut. Wenn wir die ganze große Geschichte und Literatur des Anarchismus überblicken, so drängt sich uns immer wieder die Frage auf: Wie konnten gerade diese Menschen, die mit so unbestechlichem Blick, die mit so brennender Verzweiflung das Unrecht, die sittlichen Gebrechen und Verbrechen der Menschheit erkannten – wie konnten sie, zumal sie diese Übel nicht wie der spätere geschichtliche Sozialismus ausschließlich in einer bestimmten Klasse lokalisierten, wie konnten gerade diese Menschen ihren hinreißenden Glauben an das Gute, an die Überwindung dieser Übel durch Menschen fassen und bewahren?

          Aber dieser Glaube ist bei näherer Betrachtung nicht ein reines Paradox im Sinne eines letzten, unauflösbaren Widerspruches gegen das Wirkliche. Denn das Wissen um das Böse liegt auf einer anderen Ebene als dieser Glaube an das Gute. Es gibt einen oberflächlichen Glauben an das Gute oberhalb des erfahrenen Bösen; dieser Glaube ist Optimismus; es gibt einen tiefen Glauben an das Gute unterhalb des erfahrenen Bösen; dieser Glaube ist immer Selbsteinsatz und Tat. Keiner von allen großen Führern des Anarchismus glaubte theoretisch an das Gute; keiner von ihnen stellte überhaupt diese Frage; sie alle begannen mit seiner Verwirklichung. Nirgends handelt es sich im Anarchismus um eine Aussage über den Menschen; keiner ging etwa von dem berühmten Worte Rousseaus „Der Mensch ist gut!“ aus, wiewohl recht verstanden, so wie der Rousseau der „Confessions“ selbst es verstand: eben nicht als flachen Optimismus sondern als der ganzen Furchtbarkeit der Wirklichkeitserfahrung abgerungene Bereitschaft zum Guten, dies Wort allem Anarchismus zugrunde liegt. Überall geht es in den anarchistischen Bewegungen um einen lebendigen Anfang, um ein Ernstmachen mit der Verwirklichung des Guten, um ein Hinabtauchen des Lebens in das ganze gefahrvolle Dunkel des Wirklichen. Alles (sic!) wahrhaftige Bekenntnis zum Anarchismus geht aus von den Menschen, die Landauer in seinem „Aufruf zum Sozialismus“ anredet: „die es nicht aushalten wie ich.“

          Dies allein entscheidet über Beginn und Verwirklichung des Anarchismus: daß ein lebendiges Herz, ein menschliches Gewissen die Ungerechtigkeit der bestehenden Ordnungen nicht erträgt, daß ein Mensch, ohne noch den Abstand zum andern Ufer ganz auszumessen, wie ein vom Element des Leidens und der Ungerechtigkeit selbst angezogener Schwimmer sich in den reißenden Strom des Wirklichen hineinwirft, weil er es am Ufer als bloßer Zuschauer nicht aushält. Einen wunderbar reinen und großartigen Ausdruck hat dieser anarchistische Glaube, diese fraglose Bereitschaft zum Guten in der bekannten, wesentlich von dem großen Russen Bakunin ausgehenden Bewegung der russischen Jugend gegen das Ende des vergangenen Jahrhunderts gefunden, die sich mit dem aus dem Roman Turgenjews entlehnten Namen sehr zu Unrecht „Nihilisten“ nannten, die in Wahrheit echte Anarchisten waren, da sie gegen die herrschenden Schichten, denen sie selbst entstammten, sich auflehnten, von den Höhen des Lebens kommend den ererbten Reichtum ihrer aristokratischen Elternhäuser verließen und aus Liebe zu einem wahrhaftigen Leben, aus brennendem Gerechtigkeitsverlangen zu dem Ärmsten der Armen gingen, ihnen als Lehrer, Ärzte, Hebammen, mit jeder Art von Hilfe in ihren Nöten beizustehen, und, alle Folgen ihres Tuns im Zarenreich: Verbannung, Kerker und Tod auf sich nehmend, ihr Leben mit ihnen zu teilen.

          Wie wenig dies echt anarchistische Tun auf einer falschen Einschätzung der bestehenden menschlichen Gesellschaft beruht, zeigt wieder ein Wort des großen Anarchisten, auf den aller moderne Anarchismus, auch der Bakunins, der Kropotkins, der Landauers zurückgeht: das Wort Proudhons aus dem Jahre 1860, das schon fast heutigen Klang hat: „Dies ist der furchtbarste Augenblick in der Existenz der menschlichen Gesellschaft. Alles vereinigt sich, um die Menschen guten Willens zur Verzweiflung zu treiben: Prostitution der Gewissen, Triumph der Mittelmäßigkeit, Verwirrung des Wahren und Falschen, Verschacherung der Prinzipien, Niedrigkeit der Leidenschaften, Feigheit der Sitten, Unterdrückung der Wahrheit, Belohnung der Lüge! Ich mache mir keine Illusionen, und ich erwarte nicht für morgen...wie auf einen Schlag die Freiheit, die Achtung vor dem Recht, die allgemeine öffentliche Redlichkeit, die Meinungsfreiheit...erstehen zu sehen. Die Tötungen werden kommen, und die Erniedrigung, die diesen Blutbädern folgen wird, wird entsetzlich sein. Wir werden nicht das Werk der neuen Zeit sehen; wir werden in der Nacht kämpfen; wir müssen uns einrichten, dies Leben ohne zu große Trauer zu ertragen, indem wir unsere Pflicht tun. Laßt uns einander helfen, einander in der Dunkelheit rufen und jedesmal, wo sich die Gelegenheit dazu bietet, Gerechtigkeit üben.“

          Dies Einanderrufen in der Dunkelheit, dies Einanderhelfen in der Nacht, diese fraglose, unmittelbare Übung der Gerechtigkeit von Mensch zu Mensch ist der Grundstein des Anarchismus. Aber damit erhebt sich im modernen Anarchismus ein weiteres schweres Problem. In ihm ist eine noch tiefere Nacht als in der ganzen bisherigen abendländischen Geschichte über die Menschheit herabgesunken: es ist die Gewißheit Proudhons, die – mit einer großen Ausnahme – aller moderne Anarchismus teilt: „Der Mensch ist bestimmt, ohne Religion zu leben.“ Ohne Religion, das heißt hier nicht nur ohne Kultus, ohne Kirche, ohne bestimmte Gestalt des Glaubens; es heißt wirklich ohne Gott, ohne Christus zu leben. Gerade in Proudhon ist noch das Wissen um die Größe und weltgestaltende Kraft des Christentums lebendig, das dem späteren Anarchismus auch als Erinnerung verlorengegangen ist; in ihm leben nicht nur, wie in allem Anarchismus, die christlichen Antriebe fort, in ihm lebt auch ein tieferes Heimweh nach der Größe der versunkenen christlichen Welt. Darum ist die Tiefe seiner Nacht immer wieder von einem fernen Schein durchleuchtet. Aber der ganze moderne Anarchismus ist getragen von der im europäischen Leben und Denken immer verhängnisvoller sich durchsetzenden Gewißheit, daß der Mensch allein ist und daß alles Tun und Helfen allein auf die Verantwortung des Menschen gelegt ist.

          Diese Überzeugung hat eine große geistige Vorgeschichte. Nicht erst mit diesem Augenblick: nicht erst mit Feuerbach, Schopenhauer, Stirner, Marx, Proudhon, Bakunin oder gar erst mit Nietzsche, nicht mit allen diesen offenen Bekennern des Atheismus, die sich zum Teil auch zum Sozialismus bekannten, beginnt der europäische Atheismus; er beginnt in Wahrheit mit einem Denken, in dem Gott durchaus noch eine Stelle hat, und man muß sagen, gerade weil Gott in ihm eine Stelle hat: er beginnt mit dem großen Gedankensystem Hegels, das nicht nur ein gedankliches, sondern ein die ganze europäische Wirklichkeit umwälzendes Ereignis war. Man denkt bei der Bedeutung Hegels für das geschichtliche und politische Denken gewöhnlich an seine extreme Verherrlichung des Staates, insbesondere des preußischen Staates, mit der er sein ganzes Gedankensystem abschloß, und diese Verherrlichung hat ja wirklich für Deutschland und die Welt die furchtbarsten Früchte getragen. Aber sie war nur die Folgeerscheinung eines Denkens, das ein noch weit größeres Verhängnis in sich schloß. Es war nämlich für dies Denken ganz gleichgültig geworden, zu welcher Wirklichkeit Hegel sich abschließend bekannte: ob es das Paradies war oder der preußische Staat. Denn durch die Leidenschaft und Gewalt dieses alles in sich hinreißenden Denkens war zum ersten Male in der europäischen Geistesgeschichte alles und jedes, auch das seinem Wesen nach dem Menschengeist Entzogene, in das menschliche Denken einbezogen: auch Gott. Alles: schlechthin alles war denkbar geworden, und damit hatte es seine Wirklichkeit eingebüßt, war es zu einem bloßen Denkinhalt, einem bloßen menschlichen Gedanken geworden. Mit dieser gedanklichen Verflüchtigung Gottes ist in Wahrheit der europäische Atheismus schon vollendet. Ein gedachter Gott ist nicht Gott.

          Und wie auf der einen Seite Gott, so hatte auf der anderen Seite das Denken Hegels auch den Menschen, die ganze Menschheitsgeschichte aufgesogen und entwirklicht. Hegel selbst hat dieses Verhängnis einer doppelten Wirklichkeitsauflösung durch sein Denken verzweifelnd erlebt; er hatte das Bewußtsein, daß mit dem restlosen Begreifen der Menschengeschichte die Geschichte als Wirklichkeit abgelaufen war, und aus diesem Bewußtsein erwuchs ihm ein Heimweh nach den beiden verlorenen Wirklichkeiten, das im Rückblick in die Zeit des lebendigen Christentums den an Geist Überreichen in die Klage ausbrechen läßt: „Der Geist fühlt sich so arm, daß er wie in der Sandwüste der Wanderer nach einem bloßen Tropfen Wassers für seine Erquickung verschmachtend sich sehnt.“ –

          Und nun erleben wir ein gewaltiges geschichtliches Schauspiel: gerade nach der vollkommenen gedanklichen Bewältigung und Entwirklichung alles Wirklichen durch den Geist steigt die in ihrem eigentlichen Sein völlig unbewältigte Wirklichkeit in ihrem ganzen Lebens-und Todesernst herauf und wandelt von sich aus das Denken. Sie meldet sich von der einen Seite als der in diesem verallgemeinernden Denken übersprungene wirkliche lebendige Einzelne; sie meldet sich von der anderen als die konkrete Gemeinschaft aller. Als der Einzelne in der ganzen Schwere des unterhalb alles Denkens wirklichen christlichen Gewissens in Kierkegaard, als der bloß natürliche, aber ebensowenig vom Denken aufzulösende Einzelne in Stirner; sie meldet sich als die wirkliche gegenwärtige menschliche Gesellschaft mit allen ihren Forderungen und Problemen in den verschiedenen Formen des Sozialismus. (Fortsetzung folgt.)

         

Der Sinn des Anarchismus. Vortrag, gehalten auf dem Religiös-sozialen Ferienkurs in Malans.

 

(Fortsetzung)

 

II.

 

Man kann den Anarchismus im Gegensatz zum geschichtlichen Sozialismus als diejenige Form des Sozialismus bezeichnen, in der die beiden Aufstände des Wirklichen gegen das bloße Denken: der der Gesellschaft und der des Einzelnen, vereint sind. Nicht nur die Gesellschaft als solche, wie bei Marx, und nicht nur die Existenz des Einzelnen, wie bei Kierkegaard, sondern gerade die Beziehung des Einzelnen zur Gemeinschaft und die Umgestaltung der Gemeinschaft durch den Einzelnen ist das Grundanliegen des Anarchismus.

          Dieser neuen Realisierung der Gemeinschaft wie des Einzelnen liegt eine Wandlung der Wirklichkeit selbst zugrunde. Denn dieser Augenblick war derselbe, in dem aus der geschichtlichen Verborgenheit die großen Hauptmassen der Menschen als nicht mehr zu übersehende Wirklichkeit in das Tageslicht der Geschichte herauf drängten. Diesem Ereignis antworteten zwei verschiedene Grundhaltungen des Geistes. Es wurde von allen großen bürgerlichen Denkern als eine die gesamte europäische Kultur bedrohende Katastrophe empfunden. Dieser Haltung hat vor genau hundert Jahren, im Jahre 1846, der große Individualist Jakob Burckhardt in den Worten Ausdruck gegeben: „Davon, daß es noch möglich wäre, daß ein Mensch aus seinen eigenen Antrieben heraus sich bildet, davon ist längst keine Rede mehr. Die Not der Zeit ist zu groß; man kann die Menschen nicht mehr machen lassen, sie bedürfen eines allgemeinen Stempels, damit jeder in das Ungetüm, das man das moderne Leben nennt, auf jeden Fall hineinpasse.“

          In vollkommen anderer Gesinnung wurden die heraufkommenden Massen von den Menschen aufgenommen, die sich eine christliche Überzeugung bewahrt oder jenseits des Glaubenszerfalls wiedergewonnen hatten: von ihnen wurden sie als die Massen der zu Unrecht Unterdrückten, Beraubten und Entrechteten und damit als ein machtvoller Anruf an das Gewissen des Einzelnen, als ein gottgewolltes Schicksal aufgenommen. Der reinste Ausdruck dieser Gesinnung ist das Wort, mit dem der große Christ Christoph Blumhardt – ganz um das mit ihr heraufkommende Verhängnis wissend – die neue geschichtliche Wirklichkeit des Proletariats begrüßte: „Sie sind einmal da; Gott segne sie!“

          Und es ist nun das Eigentümliche des modernen Anarchismus, daß er, obwohl geistig von derselben individualistischen und atheistischen Tradition wie der große Historiker geprägt, mit seiner Auffassung der Massen und dessen, was sie für den Einzelnen bedeuten, rein auf der christlichen Seite steht; ihm ist ihr Heraufkommen als das der Entrechteten und Unterdrückten zwar nicht ein gottgewolltes, aber doch ein in der geschichtlichen Gerechtigkeit gegründetes und damit ein kaum minder mächtiger Aufruf an das Gewissen des Einzelnen. Denn der Einzelne hat, was immer er theoretisch sein möge – und er ist im Anarchismus theoretisch fast immer etwas sehr anderes –, in der Wirklichkeit des Anarchismus immer und überall diesen Sinn: Träger der Verantwortung für die Gemeinschaft zu sein. Wieder vor genau hundert Jahren, im selben Jahr, in dem Jakob Burckhardt in so bitteren Worten den Verlust des Einzelnen im modernen Leben beklagte, ist ein Glaubensbekenntnis des Anarchismus ausgesprochen worden, das durch die unmittelbare Beziehung des Einzelnen auf die Gemeinschaft und der Gemeinschaft auf den Einzelnen den heraufkommenden Massen selbst den Charakter der Masse nimmt und sie umwandelt in Gemeinschaft. Es ist das klare, präzise Wort Richard Wagners, der in seiner Jugend ein leidenschaftlicher Freund Bakunins und der Achtundvierziger überhaupt war: „Kein Einzelner kann glücklich sein, ehe wir es nicht alle sind, wie kein Einzelner frei sein kann, ehe wir nicht alle frei sind.“

          Dies scheinbar so schlichte und einleuchtende Wort stellt und in Wahrheit durch seine Überschwenglichkeit wieder vor dieselbe Frage, die sich uns gegenüber dem letzten Rat Landauers stellte und die sich auch hier als die Grundfrage des Anarchismus erweist: vor die Frage, was mit Glück und Freiheit des Einzelnen, die mit dem Glück und der Freiheit aller identisch sind, bei von Natur unfreien und unglücklichen Wesen, wie es die Menschen erfahrungsgemäß sind, gemeint sein kann.

          Wie wenig der Glaube des Anarchismus an Glück und Freiheit, an das Gute überhaupt, auf Illusionen, auf einer Täuschung über das Wirkliche beruht, haben uns die grundlegenden Worte Proudhons gezeigt. Aber auch aller andere Anarchismus geht ja gerade von der Erfahrung des Bösen aus. Viel eher als Unkenntnis des Wirklichen könnte man ihm einen sechsten Wirklichkeitssinn zuschreiben: eben den jener unmittelbar erfahrenen Verantwortung des Einzelnen für die Gemeinschaft. Diesen tieferen Wirklichkeitssinn der Erfahrung unmittelbarer Verantwortung spricht in großer Schlichtheit ein Wort Pestalozzis aus: „Das Streben des Menschengeschlechts, die Maßregeln der öffentlichen Ordnung und des gesellschaftlichen Rechtes, wo sie mangeln, einzuführen, und wo sie geschwächt sind, zu stärken – dies Streben liegt auf dem Grunde meiner unentwürdigten Natur.“

          Daß dies Wort eine Wahrheit, und zwar eine unbedingte, eine im Ursinn des Wortes religiöse Wahrheit über den Menschen ausspricht, erkennen wir sofort. Was kann aber mit der unentwürdigten Natur in einem seiner Natur nach bösen Wesen gemeint sein? Es muß offenbar zwei verschiedene Begriffe von der Natur des Menschen geben. Wenn wir eine Erläuterung dieser beiden Naturen an der Stelle suchen, an der die Natur des Menschen am tiefsten gefaßt ist, so kann die unentwürdigte Natur Pestalozzis nicht die des schon im Beginn gefallenen, in der Sündflut zum zweiten Male dahingefallenen Menschen sein, nicht das Menschenherz, dessen Trachten böse ist von Jugend auf. Wir können diese zweite Natur nur verstehen als die Natur des Menschen, mit dem Gott, um sich ihm nach dem Zusammenbruch aller Gesetze in der Sündflut wieder verständlich zu machen, jenen neuen Bund geschlossen hat, auf dem von nun an alle Gesetzmäßigkeit und alles menschliche Begreifen der Natur ruht. Durch ihn ist nach dem Fall und nach der Strafe die Natur des Menschen zwar nicht mit der ursprünglichen Unschuld der vorzeitlichen Welt begnadet, wohl aber mit der menschlichen Würde, daß er Verantwortung tragen kann. Verantwortung ist kein Begriff des Paradieses, sondern der harten irdischen Wirklichkeit, in der wir im Schweiße unseres Angesichts unser Brot essen. Diese nur im Einzelnen zu erfahrende und nur durch ihn zu verwirklichende Würde unserer Natur ist bei Pestalozzi dadurch ausgedrückt, daß er nicht von der unentwürdigten Natur des Menschen spricht, sondern von meiner unentwürdigten Natur. Niemals kann ja Verantwortung als allgemeine Tatsache eingeordnet, niemals kann in der Form einer allgemeinen Aussage von ihr gesprochen werden; sie ist immer nur in einem Selbst zu erfahren und zu leisten; es gibt Verantwortung nur als meine Verantwortung.

          Diese Erfahrung unmittelbarer Verantwortung, das Zeugnis meiner unentwürdigten Natur ist die Antwort, die von allem Anarchismus auf die Frage nach dem Guten und nach dem Bösen des Menschen gegeben wird. Die Natur ist also auch hier mitten in der Blütezeit des Anarchismus, im neunzehnten Jahrhundert, nicht der damalige Begriff einer Natur, der der Geist durch eine mechanistische Wissenschaft ausgetrieben ist; sie ist immer Natur als lebendige Erfahrung. Von jenem abstrakt-wissenschaftlichen Naturbegriff, der der eigentliche bürgerliche ist, führt ein Weg nur zu einer Abart des Anarchismus, die, obwohl gerade sie oft als der eigentliche klassische Anarchismus genannt worden ist, nur zur einen Hälfte Anarchismus, zur anderen reiner Nihilismus ist, sofern man unter Nihilismus die Leugnung der Gemeinschaft überhaupt versteht: zu dem denkerisch ebenso geistvollen wie menschlich öden geistigen Besitzbürgertum Max Stirners. Sein Buch „Der Einzige und sein Eigentum“ hat große Berühmtheit erlangt, wohl gerade darum, weil es die seltsamste Mischung von großartiger Gescheitheit und menschlicher Plattheit ist und sich in strenger Wahrhaftigkeit mit seiner ganzen Denkkraft an die primitivsten Instinkte der Menschen wendet. Damit ist es etwas nie Dagewesenes: eine ans Mystische streifende Erleuchtung bürgerlich-alltäglichen Daseins: die Darstellung eines Einzel-Ich, das sich durch die Larvenhülle des gemeinsamen Lebens mit großer Geisteskraft zum reinen Selbst hindurchringt und statt eines geflügelten Schmetterlings als dieselbe armselige dunkle Raupe, die es vor der Verpuppung war, wieder ans Licht tritt. Stirners Lehre ist insofern durchaus und sogar radikal anarchistisch, als er mit äußerster Konsequenz gegen jede Art von Herrschaft, alle Herrschaftsansprüche sich wendet und gegen sie sein Eigenrecht behauptet, als das er allein die absolute Freiheit und Bedingungslosigkeit des Einzelnen bejaht. Aber so schüttet er das Kind mit dem Bade aus; er schüttet in seinem Abscheu gegen alle Herrschaft die andere und größere Hälfte des Anarchismus mit aus, um derentwillen dieser allein Macht und Herrschaft abweist: die Verantwortung des Einzelnen für das Ganze, die unentwürdigte Natur, der die Stiftung einer neuen Gemeinschaft entspringt. Ihm ist vielmehr die Gemeinschaft selbst Tyrannis; er ist allein, der einzige Eigner seines wirklichen und geistigen Eigentums, ein leerer, beziehungsloser Egoist. Die einzige Gemeinschaft, zu der er es bringt (denn ein Minimum von Gemeinschaft ist ja in jedem Leben unbestreitbar vorhanden), ist folgerichtig ein „Verein von Egoisten“.

          Weiter konnte er von dem Begriff einer entgeisteten Natur, wie sie ihm die Wissenschaft seiner Zeit bot, nicht kommen. Und doch liegt, geschichtlich betrachtet, auch eine eigentümliche Tragik in dem Denken dieses Mannes. Indem ihm in einer Zeit, die sich von allen Formen des Idealismus ab- und in allen Formen dem Wirklichen zuwandte, vorbehalten war, das weltgestaltende, weltüberhobene Ich Fichtes in die Sprache und Sphäre des alltäglichen Lebens zu übersetzen, wurde sein Geist gleichsam, von der Geschichte selbst aller glänzenden Hüllen beraubt. Die große, bis auf den heutigen Tag lebendige Wirkung Stirners, nicht auf die Mitwelt – denn in ihr blieb er völlig vereinsamt, und schon diese Einsamkeit um seiner Wahrheit willen leiht ihm eine gewisse Größe –, aber auf die Nachwelt ruht zweifellos auf der nackten, schonungslosen Wahrhaftigkeit, mit der er die Konsequenzen aus seiner geistesgeschichtlichen Lage gezogen hat. Indem er allein so zu einem in jedem Sinne entchristlichten, radikal naturalistischen Anarchismus gelangt ist, steht er zugleich in vollem Gegensatz zur lebendigen Wirklichkeitserfassung des eigentlichen Anarchismus, in dem immer unmittelbar der Repräsentant der Gemeinschaft, in dem die Natur selbst die Heimat des Geistes ist. Landauer nennt die natürliche Grundlage des Anarchismus selbst Geist, Bakunin nennt sie Freiheit, Proudhon nennt sie Gerechtigkeit. Und die große Macht aller dieser lebendigen Grundbegriffe liegt darin, daß sie nicht nur die Kraft verleihen, eine neue Ordnung heraufzuführen, sondern auch in sich selbst die Kraft tragen zur Auflösung der alten.

          Es ist wieder ein Wort Wagners, das, ganz im Geist Bakunins, diese anarchistische Grundgewißheit von der Selbstgestaltung und Sprengung der Gemeinschaft aus den großen seelischen Grundkräften ausspricht: „Wenn mir die Erde übergeben würde, um auf ihr die menschliche Gemeinschaft zu ihrem Glück zu organisieren, so könnte ich nichts anderes tun, als ihr vollste Freiheit geben, sich selbst zu organisieren: diese Freiheit entstünde von selbst aus der Zerstörung alles dessen, was ihr entgegensteht.“

          Daß diese sich selbst organisierende menschliche Freiheit nicht wie bei Stirner zu einer chaotischen Sinnlosigkeit, zu einem Verein von Egoisten führt, das liegt im Wesen dieser Freiheit nicht als nackter egoistischer Selbstsucht, sondern als sprengender Kraft alles Egoismus und damit alles Falschen und Schlechten in der menschlichen Gesellschaft. In diesem Sinne ist die Freiheit eins mit der Gerechtigkeit, die Proudhon als die Grundkraft des Sozialismus in den noblen Worten ausspricht: „Die Gerechtigkeit ist die spontan empfundene und gegenseitig gewährleistete Achtung vor der menschlichen Würde, in welcher Person und in welchen Umständen immer sie verletzt sei, und gleichviel, welchem Risiko ihre Verteidigung uns aussetzt.“ Denn, so fährt er fort: „Gerechtigkeit ist eine Fähigkeit der Seele, die erste von allen, diejenige, die das soziale Wesen konstituiert. Die Gerechtigkeit ist für uns das oberste Gesetz. Sie ist das unverletzbare Maß aller menschlichen Handlungen. Sie ist das Zentralgestirn, das alle Gesellschaften beherrscht... Nehmen wir eine Gesellschaft an, in der die Gerechtigkeit in wenn auch noch so geringem Maße durch ein anderes Prinzip überstiegen würde, zum Beispiel durch die Religion oder in der einige Menschen eine wenn auch in noch so geringem Maße der der anderen überlegenen Achtung genießen würden, so ist es, sage ich, unvermeidlich, daß diese Gesellschaft früher oder später untergeht.“ So ist die Gerechtigkeit selbst die Kraft, die das Falsche sprengt, wie es mit fast bildhafter Deutlichkeit das Wort Proudhons bestätigt: „Wenn man die Gerechtigkeit in das Eigentum einführen würde, würde man es zerstören, wie das Gesetz, in das Konkubinat eingeführt, es zerstören würde.“

          Im Namen der Gerechtigkeit verwirft Proudhon nicht das Recht, aber fast alle Rechtsnormen und Gesetze des Staates. Er verwirft den Staat als solchen absolut. „Aucune royauté n'est légitime! ruft er aus. „Jeder Staat ist despotisch. Autorität, Herrschaft, Macht, Staat: alle diese Worte bezeichnen dieselbe Sache. Jeder sieht darin ein Mittel, den ihm gleichen zu unterdrücken und auszubeuten. Keine Autorität, keine Parteien mehr (auch die Partei ist ihm ein Mittel der Unterdrückung), absolute Freiheit des Menschen und Bürgers! In drei Worten habe ich so mein Glaubensbekenntnis abgelegt.“

          Absolute Freiheit des Menschen! Ein Wort, vor dem uns heute schwindelt! Aber Proudhon behält in diesem Wirbel Grund unter den Füßen. Als unterste Grundlage aller menschlichen Ungerechtigkeit und Unfreiheit erkennt er das Privateigentum, dessen Abschaffung seine erste Forderung ist. „Die Gerechtigkeit verlangt, daß das Eigentum durch eine Verteilung der Güter ersetzt werde, die auf der juristischen Norm basiert ist, daß ein Vertrag erfüllt werde.“ Überall sind Verträge die Grundlage der neuen Ordnung. Auf freien Verträgen zwischen Menschen muß alles Gemeinschaftsleben begründet werden. Gegner aller zentralisierenden Herrschaft, anerkennt Proudhon, und nach ihm aller Anarchismus, als einziges Gestaltungsprinzip der Gemeinschaft das förderative Prinzip: das Sich-Zusammenschließen freier Menschen und aus diesen gebildeter freier Gruppen. Proudhon hat hier als politisches Vorbild die alte schweizerische Eidgenossenschaft gesehen und in wundervollen Worten gefeiert.

          Daß aus der Freiheit des Einzelnen von selbst die Freiheit der Gemeinschaft erwächst, das ist aber im Anarchismus nicht nur eine Idee oder ein Ideal; es ist durch den Geist dieser Menschen selbst lebendige Wirklichkeitserfahrung. Als solche bestätigt es eine Stelle aus den Lebenserinnerungen des Fürsten Kropotkins, der in seiner Jugend im Auftrag der russichen Regierung große wissenschaftliche und praktische Aufgaben ausführte. „Zwischen meinem neunzehnten und fünfundzwanzigsten Lebensjahre“, sagte er, „hatte ich wichtige Reformpläne auszuarbeiten, mit Hunderten von Menschen auf dem Amur (dem damals neu entdeckten Fluß in Sibirien) zusammen tätig zu sein, mit lächerlich geringen Mitteln gefährliche Expeditionen vorzubereiten und auszuführen... und wenn ich dabei regelmäßig mehr oder minder Erfolg hatte, so schreibe ich dies nur dem Umstand zu, daß ich bald erkannte, von wie geringem Werte Befehl und Disziplin bei ernster Arbeit sind.“ Als den einzigen Weg zur Verwirklichung großer, gemeinsamer Arbeitspläne erkennt er, der damalige zaristische Offizier, mitten in der Arbeit der Regierung des zaristischen Rußland, als echter Anarchist das gemeinsame Einvernehmen. „Ich wünschte“, fügt er hinzu, „alle, die Pläne im Sinne der Staatsordnung entwarfen, könnten erst die Schule des wirklichen Lebens durchlaufen, bevor sie ihren Staatsutopien nachzujagen beginnen.“ So kehrt von der Erfahrung dieses gütigen wahrhaft menschlichen Menschen aus der Sinn und Unsinn der üblichen Wirklichkeitserfassung sich um: gerade die Wahrheit des Anarchismus, die ihr als phantastische Utopie gilt, entspricht hier der wirklichen Erfahrung, und der Staat, dies übermächtig wirkliche Gebilde, wird vor der lebendigen Erfahrung der Wahrheit zur leeren Utopie; zu einer Utopie des Abgrunds. Denn derselbe sanfte und friedliche Mensch, der so ganz an den unmittelbaren brüderlichen Zusammenschluß der Menschen in gemeinsamer Arbeit glaubte, hat den Zusammenschluß im Staat, wie er ihn in Geschichte und Gegenwart vorfand, mit Worten charakterisiert, die, obwohl nüchtern und höchst real hinter denen, mit denen in der Apokalypse der Staat als Tier aus dem Abgrund gezeichnet wird, kaum zurückstehen. „Nein, tausendmal nein! Der Staat, das ist der Schutz der Ausbeutung, der Spekulation, des Eigentum... Der Proletarier hat vom Staat nichts zu erwarten; er wird in ihm nur eine Organisation finden, um seine Erhebung um jeden Preis zu unterdrücken. Alles für den Eigentümer, alles gegen den proletarischen Arbeiter: die bürgerliche Erziehung, die von frühesten Alter an das Kind verdirbt, indem sie ihm gegen die Gleichheit der Menschen gerichtete Vorurteile einprägt... das Gesetz, das den Austausch der Ideen von Solidarität und Gleichheit verhindert; das Geld, um den zu verderben, der sich zum Apostel der Solidarität der Arbeit macht; das Gefängnis und die Mitraille nach Belieben, um denen den Mund zu schließen, die sich nicht korrumpieren lassen, das ist der Staat!“

          Diesem Schreckgebilde des wirklichen Staates stellt Kropotkin in seinen „Paroles d'un Révolté“, die während seiner Kerkerhaft in Paris erschienen, die Vision einer künftigen überstaatlichen, zur internationalen Gemeinschaft erweiterten menschlichen Gesellschaft gegenüber, wie sie sich durch die freien Vertragschließungen des Anarchismus verwirklichen wird: „Aus freien Gruppierungen wird sich die soziale Gemeinschaft organisieren, und diese Gruppierungen werden selbst die Mauern, die Grenzen sprengen. Es werden Millionen Gemeinschaften sein, die nicht mehr territorialen Charakter haben, sondern einander die Hände quer über die Flüsse, die Gebirgsketten, die Ozeane hinweg reichen, und die in alle vier Winde des Erdballs verstreuten Einzelnen und Völker zu einer einzigen Familie gleicher Wesen vereinigen werden.“ (Fortsetzung folgt.)

 

Der Sinn des Anarchismus. Vortrag, gehalten auf dem Religiös-sozialen Ferienkurs in Malans.

         

(Schluß)

 

III.

 

Man spürt – und wir heutigen zerschlagenen Menschen spüren es an ihrem radikalen Gegensatz zu unserer Welt doppelt – das Rauschhafte in dieser Konzeption. Und doch ist gerade Kropotkin zum ausdrücklichen anarchistischen Bekenntnis durch eine im besten Sinne nüchterne Form des Anarchismus gekommen: durch eine Bewegung, die etwa zur gleichen Zeit wie jene überschwengliche anarchistische Bewegung der russischen Jugend, in der Schweiz sich gebildet hat: durch die klare und maßvolle genossenschaftliche Bewegung der westschweizerischen Uhrenarbeiter, der „Jurassiens“. Von der aus ihrer schweizerischen Eigenart und Lebenssituation selbst entspringenden persönlichen Freiheit und Festigkeit, von der Klarheit und Besonnenheit dieser Menschen hat Kropotkin in seinen Lebenserinnerungen ein eindrucksvolles Bild gegeben, das mit den Worten seines Bekenntnisses zu ihrer Bewegung schließt: „Ich war Anarchist.“

          Es lebt eine Fülle verschiedenster Strömungen in dieser großen Bewegung, denen allen das Eine gemeinsam ist, daß in ihnen noch einmal das Ganze des Menschen, das Gewissen des Einzelnen als Blüte und Bürge der Gemeinschaft auflebt. Fast durchweg vollzieht dieser Anarchismus die christliche Bewegung von oben nach unten, von den Höhen des Lebens in seine Tiefen; es ist bezeichnend, daß so viele unter den Anarchisten: Kropotkin, Malatesta, Tolstoi, Bakunin, Fürsten und hohe Adlige waren: Menschen, die aus Liebe und Gerechtigkeitssinn von den Höhen der aristokratischen Gesellschaft zu den Ärmsten der Armen herabstiegen, um ihr Leben zu teilen. Zugleich begegnet und aber in dieser Bewegung ein im Grunde Entgegengesetztes: ein Element des Rausches, wie es in allem nur menschlichen Schöpfertum lebt. Es ist im Anarchismus eine Mischung der entgegengesetztesten Antriebe und Wirklichkeiten: Nüchternheit und Taumel, Selbstopfer und Rausch brennenden Lebens, die Dornenkrone der reinsten Hingabe und der brausende Wille zur absoluten Freiheit schließen einander nicht aus.

          Aus der rauschhaften Hingabe an das Leben stammt auch die nahe Beziehung der anarchistischen Revolution zur Musik: die Verbindung der Achtundvierziger mit Wagner und die des jungen Wagner mit ihnen: die glühende Freundschaft zwischen Wagner und Bakunin war keine zufällige, wenn sie auch die beiden Freunde auf grundverschiedene Wege führte. Die Musik als die Macht, die alle Tore des Lebens öffnet, steht an der Quelle dieser Revolution.

          In Bakunin, in dem wie in keinem anderen alle Antriebe und Widersprüche des Anarchismus vereint sind, hat der Rausch des Lebens ebenso wie die strenge Nüchternheit dieser Revolution in einer besonderen Weise Gestalt gewonnen. In ihm ist eine Bejahung des bloßen triebhaften Lebens und seiner Vollendung zu sich selbst, wie wir sie sonst erst in einer späteren Zeit finden. Es ist das Bekenntnis zu einer Lebensvollendung, die zugleich ein Emporsteigen des Menschen aus tierischem Dunkel zu immer reinerer Menschlichkeit und – beides unter dem Einfluß Darwins – zur Vollendung des rein vitalen Lebens ist. Damit geht Bakunin nicht nur ein Stück in der Bejahung des bloßen Lebens weiter als die übrigen Anarchisten; er kehrt auch in seltsamer Weise die revolutionären Antriebe um: die Revolution ist ihm als Empörung der Freiheit des Lebens gegen die Tyrannei nicht mehr nur Empörung gegen die Tyrannei der Menschen, sondern in erster Linie gegen die Gottes.

          Aus einer Mißdeutung der Schöpfungsgeschichte, in der Gott als der machtgierigste Tyrann gesehen ist, der den Menschen von Anfang an seiner ursprünglichen Freiheit beraubt, nennt er den Freiheitstrieb des Menschen Satan, einen Satan, der den Menschen nicht sich selbst, sondern Gott entfremdet und damit zu sich selbst: zu seiner eigenen Freiheit, zurückführt.

          Der Name Satan für die Freiheit ist sicher trotz dieses fundamentalen Mißverständnisses kein bloßer Zufall oder Irrtum: es meldet sich in ihm etwas Wirkliches zum Wort: der Trieb zur Zerstörung, der in keiner Revolution, der auch in der anarchistischen Revolution nicht fehlt. Zerstörung liegt ja jeder Neuschöpfung voraus. In keinem der anarchistischen Revolutionäre lag dieser doppelte Trieb: zu zerstören und zu bauen, so dicht, so ursprünglich zusammen wie bei Bakunin.

          Und doch, und obwohl Bakunin den Namen Satan für seine Freiheit wählt, war er alles andere als ein fanatischer Mensch. Den Namen Satan bei ihm in dem vollen Gewicht zu nehmen, wie er sich uns in unserer heutigen geschichtlichen Erfahrung offenbart hat, ist ganz unmöglich. Denn Bakunin war trotz seines leidenschaftlichen Freiheitsdranges, trotz seines theoretischen Atheismus und Satanismus, wie nur einer unter den großen Anarchisten in seinem Leben ein christlicher Streiter für die Freiheit. Er, der die Freiheit wie nichts auf Erden liebte, hat um der Freiheit der Armen und Entrechteten willen lange Jahre in den Kerkern der verschiedenen Länder, zeitweise mit Ketten an die Wand geschmiedet, verbracht. Er war im seines Einstehens für die Armen willen dreimal zum Tode verurteilt. Er war ein echter Anarchist; mochte er sich auch mit dem Geiste dem Satan verschreiben, mit seinem Herzen, seinem Leben war er immer bei den geringsten der Brüder. Von Bakunin stammt auch das bekannte, so sehr irreführende Wort: „Die Lust, zu zerstören, ist eine schaffende Lust“ – auch dies ein eigentümlich rauschhaftes, eigentümlich modernes Wort, bei dem man schon fast an Nietzsche gemahnt wird. Aber niemals hat Bakunin bei diesem Wort an Zerstörung von Menschenleben gedacht, immer nur an die Zerstörung von Formen und Institutionen. Im Gegenteil: es war eine der Grundgewißheiten des Anarchismus (Bakunin und Kropotkin haben sie immer wieder ausgesprochen), daß man in der Revolution möglichst schnell, möglichst gründlich die bestehenden Formen und Einrichtungen zerstören, zum Beispiel die Privilegien aufheben, das Eigentum enteignen müsse, um Blutvergießen zu vermeiden. Es war beider Überzeugung, daß, je schneller und gründlicher die Dinge und Institutionen zerstört würden, um so mehr die Menschen, die Menschenleben geschont werden könnten. Kropotkin hat es als den Grundfehler der Pariser Kommune bezeichnet, daß in ihr das Bürgertum zu sehr geschont worden, daß zum Beispiel die Enteignung nicht rasch und gründlich genug vorgenommen worden, ja, daß überhaupt auf sie verzichtet worden sei, und er hat daraus den blutigen Verlauf dieser Revolution erklärt.

          Aber wie bei Bakunin das Wort Satan nicht in seinem wirklichen Ernst genommen werden kann, so haben im Anarchismus alle religiösen Begriffe ihr volles Gewicht verloren. Durchweg ist das Schwächste in den Gedankengängen der Anarchisten die Begründung ihres Atheismus; sie brechen alle ab, bevor sie den eigenen Lebensgrund erreichen. Auch selbst das große Prinzip der Gerechtigkeit ist nirgends in einer Tiefe begründet, die über alle Menschensatzung hinaus ihm die dunkle, paradoxe und eben dadurch fraglose Unumstößlichkeit der in Gott gegründeten biblischen Gerechtigkeit gäbe. Und wenn dennoch mit Proudhons großem Wort es das Vorrecht der Gerechtigkeit ist, daß sie unerschütterlich ist, so erhebt sich um so unabweisbarer die Frage, woher einer rein menschlichen Sache diese Unerschütterlichkeit kommen kann. Und da zeigt sich: Alles, was diese Geister einer entgöttlichten Welt an großen Träumen und neuen Ordnungen spinnen, ist ein bloßer Widerschein, der bloße Abglanz eines Reiches, das sie nicht mehr gewahren, obwohl sie alle aus einer Wahrheit leben. Die restlose Hingabe an die Verwirklichung der großen Träume vom Reiche und seiner Gerechtigkeit erlischt auch in einer Welt nicht, die den Namen Gottes von ihrer Fahne gestrichen hat, die ihn gerade darum gestrichen hat, weil der Wille zur unbedingten menschlichen Verantwortung jede Spur von Betrachtung und Hingabe an ein Überweltliches getilgt hat. Aber wie bei einer abendlichen Bergwanderung hinter dunklen, niedrigeren Höhenzügen an einer Wegbiegung plötzlich ein mächtiges Berghaupt hoch über die Dämmerung der Niederrungen emporragt und das Licht des versinkenden Tages auf sich sammelt, so steigt über den Niederungen des atheistischen Anarchismus plötzlich das mächtige Haupt Tolstois empor, das wieder in das Licht der Ewigkeit hinaufragt. Eine zwar selbst schon abendlich dunkelnde Ewigkeit, der er, der durch die ganze Tiefe des modernen Atheismus gegangen war, von der Gewalt des Todeserlebnisses wieder zugeworfen wurde, und mit solcher Gewalt zugeworfen wurde, daß er, einer der größten Künstler aller Zeiten, seine ganze gewaltige Kunst von sich warf, um allein noch der Verwirklichung des Reiches zu dienen. Tolstoi bekämpft als vom Tod zum Leben erweckter unmittelbarer Jünger Christi vor allem die Kirche, die den wirklichen Christus verfälscht hat; aber er bekämpft auch mit aller Leidenschaft eine Gesellschaft, die sich eine christliche nennt und ein ganz und gar widerchristliches Leben lebt. Aber als der, der auch wieder die lebendige Quelle erkennt, aus der er schöpft, schreibt er in sein Tagebuch zu dem Zitat: „Toute réunion d'hommes est inférieure aux éléments qui la composent“, die Erläuterung: „Das kommt daher, daß sie durch Reglemente verbunden sind. In der natürlichen Vereinigung wie Gott sie vereinigt hat, sind sie nicht nur nicht schlimmer, sondern viele Male besser.“ Es ist wieder die unentwürdigte Natur Pestalozzis, aber nun nicht mehr nur als die meine, die des einzelnen Menschen, sondern als die von Gott gelegte Grundlage aller menschlichen Vereinigung. Und damit, daß die natürliche Vereinigung die ist, wie Gott sie erschaffen hat, daß so der göttliche Schöpfungsgrund wieder erreicht ist, ist mit einem Schlage alles Rauschhafte des menschlichen Schöpfertums verschwunden und getilgt. Gerade der Rausch als Zeichen menschlichen Schöpfertums, das sich dem Gottes entgegenstellt, wird von Tolstoi mit aller Macht verworfen. Kein Mensch hat je mit solcher Leidenschaft die Musik, die höchste Form geistig-schöpferischen Rausches, bekämpft wie Tolstoi. Aber mit dieser Verwerfung ganzer Lebensgebiete ist der große Exorzist im Anarchismus allein; gerade die Abwesenheit aller Askese, das reine Zugewandtsein zum Leben, das er als irdisches selbst zu heiligen strebt, kennzeichnet den Anarchismus. Auch die Musik ist ja im Anarchismus keineswegs nur rauschhafte Verführung gewesen; sie war auch eine mächtige Beflügelung ihres Tuns, und sie hat keines der wirklich großen Opfer dieser Kämpfer verhindert: sie hat nur alles Tun und Leiden auf den Grund der reinen Freude gestellt. Wunderbar spricht die Nüchternheit des Rausches im Anarchismus ein Wort Kropotkins aus: „Es ist gut, daß die Kämpfer sterben; aber ihr Tod muß nützen. Es gibt nichts Gerechteres, als daß die Menschen der Hingabe sich opfern; aber die Menge muß vom Opfer dieser Tapferen Nutzen ziehen.“

          So schlicht, so selbstverständlich meldet sich hier das Opfer, das dunkelste menschliche Schicksal, die schwerste menschliche Tat. Wir glauben, hinter diesem Ausspruch das prophetische Wort Kierkegaards zu vernehmen: „Kaiser, Könige, Päpste, Jesuiten, Generäle, Diplomaten haben bisher in einem entscheidenden Augenblick die Welt regieren können; aber von der Zeit an, da der vierte Stand eingesetzt wird, wird es sich zeigen, daß nur noch Märtyrer die Welt regieren können.“

          In der Welt, in der der vierte Stand in sein Recht eingesetzt ist, kann es kein feststehendes Amt, keine hierarchische oder weltliche Macht mehr geben: von nun an ist wirklich, genau entsprechend der anarchistischen Grundgesinnung, die Verantwortung für das Ganze allein auf das Gewissen der Einzelnen gelegt. Nichts und niemand nimmt dem Einzelnen die Verantwortung für die Gemeinschaft mehr ab. Darum kann von nun an die Gestaltung der Gemeinschaft nur noch durch den Einsatz des Einzelnen in das Ganze, durch das Opfer des Einzelnen geschehen, kann der Verwalter der Gemeinschaft nur noch der Märtyrer sein. Aber damit erweitert sich der Anarchismus über seine modernen Formen hinaus: es öffnet sich der Blick in den geschichtlichen Hintergrund der Revolution der Täufer, der großen christlichen Revolution überhaupt, und die Geschichte des Anarchismus tritt ein in die Geschichte der Sache Christi, wie sie Leonhard Ragaz in seinem letzten Buche aufgezeichnet hat.

          Und damit fällt aus dem strahlenden und blutigen Hintergrund der Geschichte ein neuer Glanz auch auf alle ihrer Quelle nicht mehr bewußten Grundworte des Anarchismus und gibt ihnen erst die Tiefe ihrer Wahrheit. Es ist ein heute fast verschollener österreichischer Dichter, Robert Hamerling, der in seinem Epos über die in Strömen von Blut gescheiterte Täuferrevolution von Münster das Begebnis der Einswerdung der Menschen, das allem echten Anarchismus zugrunde liegt, als das Pfingstwunder der Ausgießung des Geistes dargestellt hat. Dies Wunder der Einswerdung hat eine bestimmte Voraussetzung, die keine andere Revolution kennt, ohne die aber die des Anarchismus unvollziehbar ist: die der persönlichen Reinheit. So spricht es hier der Führer der Täuferrevolution aus: „Prüft euch; denn nur dem Reinen/ Gereicht zum Heile die Freiheit!“ Wie zum Erleben jedes Mysteriums bedarf es auch zu dem des Pfingstwunders der Einweihung. Die Massen der Uneingeweihten, die bürgerlichen, am Alltag hangenden Menschen aller Zeiten, alle, die immer zu Hause bleiben, die nie aufbrechen zur Tiefe des Lebens, haben von je die Anarchisten aller Arten Schwärmer, Schwarmgeister, weltfremde Träumer genannt. Solche Menschen vermögen vielleicht noch den Ikarusflug des Geistes zu verstehen, den sichtbaren Flug nach oben zur Sonne; sie verstehen niemals die schweren Flügel der Seele, die sie hinabziehen in die Nacht des Irdischen, in Armut und Leid, in Verachtung, Kerker und Tod.       

          In dieser Reinheit einer ursprünglichen Einweihung liegt der Grund der großen Noblesse aller so verschieden gearteten Gestalten des Anarchismus, die, auch wo sie sich ganz und gar weltlich geben, aus der reinen Quelle, aus dem verborgenen Mysterium unmittelbaren Einsseins leben. Sie alle sind von dem, was am meisten die moderne Welt verwüstet: vom Geschäft und Geschäftsgeist jeder Art weltenweit getrennt. Sie stehen wie ein geheimer Ritterorden, ein Gralsorden seltsamer weltlicher Heiliger am Rande unserer so anders gearteten Welt.

          Es gibt heute wohl überall, es gibt auch in der Schweiz noch kleine anarchistische Gruppen, die abseits von der vollen geschichtlichen Wirklichkeit, um ihre Seele zu retten, bestimmte Formen eines reinen Anarchismus vertreten. Aber auch in zwei großen geschichtlichen Formen ragt der Anarchismus noch in unsere Welt herein; die erste freilich ist uns durch das geschichtliche Geschehen heute verdeckt. Es ist der furchtbar blutig niedergeschlagene spanische Anarchismus, in dessen Zeichen als einzige in der Welt eine Arbeiterschaft als solche sich dem Faschismus entgegengestellt hat. In Spanien hat, wie überhaupt in den romanischen Ländern, der Sozialismus dem deutschen und russischen gegenüber eine individuellere, dem Anarchismus nähere Gestalt bewahrt; als eine föderalistisch-revolutionäre Gewerkschaftsbewegung, die die Arbeiter dazu erzog, ihre Betriebe und Werkstätten selbst zu übernehmen und aus ihnen die sozialistische Gesellschaft in anarchistischem Geist genossenschaftlich zu erbauen, war der spanische Sozialismus echter Anarchismus.

          Die zweite, heute noch lebendige Form des Anarchismus ist der Gandhis, der als Schüler Tolstois seinen großen realen Kampf gegen die Gewalt geführt hat – nicht nur in der Form des Kampfes gegen die Fremdherrschaft, der als politischer Kampf seinen rein anarchistischen Kampf gegen die Gewalt eher trübt. Aber allein schon seine Rückkehr zum Spinnrad, diese ganz persönliche, widergeschichtliche Tat, die er der gesamten Weltentwicklung, den Mächten und Übermächten der Industrie und Technik entgegengestellt hat, ist ein echt anarchistischer Kampf. Hier steht noch einmal in fast mythischer Größe ein Einzelner als Vertreter einer großen Gemeinschaft gegen alle schädigenden geschichtlichen Gewalten, gegen die Weltentwicklung selbst auf, gegen die er sich empört. Darum sehen wir freilich auch überall bei Gandhi ein tiefes Unverständnis für die realen Gegenwartsprobleme, für alle europäischen Fragen und Lösungsversuche. Und wie könnte er sie begreifen? Er steht im Rahmen seiner großen, uralten, zeitlos scheinenden, auch uns schwer verständlichen Welt, deren substantielle Überlegenheit wir tief fühlen. Wir können ihn bewundern und verehren; aber die Lösung auch nur eines unserer brennenden Probleme kann uns sein anarchistischer Kampf nicht geben.

          In einem gewissen Sinne kann man auch die Widerstandsbewegungen der verschiedenen Länder zum Anarchismus rechnen: insofern sie nicht nur Kampf gegen eine Fremdherrschaft, sondern gegen eine gemeinschaftswidrige, eine Herrschaft der Niedertracht und des Verbrechens waren; dies gibt ihnen ihre übernationale Würde.

          Im übrigen aber hat in unserer Welt unter dem Druck der vom Nationalsozialismus zum Wahnsinn gesteigerten Kriege des Imperialismus und Kapitalismus und der durch sie ins Riesenhafte angeschwollenen Not der Massen eine andere, gleichzeitig mit der des Anarchismus entstandene Durchdenkung des sozialen Problems, deren Träger und Vollstrecker nicht mehr der Einzelne und das Gewissen des Einzelnen ist, sich der Wirklichkeit bemächtigt und sie umzugestalten begonnen.

          Zu einem Einverständnis zwischen diesen beiden in ihrer modernen Gestalt ungefähr gleichzeitig entstandenen Formen des Sozialismus konnte es, so nahe sie sich im Ziel standen, bei der Verschiedenheit ihrer Voraussetzungen und ihres Weges von Anfang an nicht kommen. Viele der bedeutenden Anarchisten sind Marx persönlich begegnet; einige waren, wie Bakunin, eine Zeitlang mit ihm befreundet; alle haben sich von ihm abgewendet, und Marx hat sie seinerseits mit noch größerer Schärfe abgelehnt. Marx nannte die anarchistischen Revolutionäre Phantasten; Landauer, der noch die ersten zwei Jahre der Revolution Lenins miterlebte, nannte die russischen Revolutionäre „tragische Toren“. Man versteht seine erbitterte Gegnerschaft gegen Marx und Lenin schon aus dem einen, der ganzen kommunistischen Überzeugung entgegengesetzten Worte: „Auch die Aufhebung des Privateigentums wird im wesentlichen eine Umwandlung unseres Geistes sein.“ Denn darin liegt ja die Überzeugung, daß unser Geist nicht durch die Aufhebung des Eigentums umgewandelt wird, sondern daß umgekehrt die Wandlung unseres Geistes der Aufhebung des Eigentums vorangehen und sie bewirken muß. Und das bedeutet, daß nicht wie bei Marx das Sein dem Bewußtsein, sondern das Bewußtsein dem Sein vorausliegt.

          Mit der Autonomie und Unmittelbarkeit des Einzelnen war aber im Anarchismus auch ein anderes Verhältnis zur Sache, zu allem Objektiven gegeben und damit auch ein anderes Verhältnis zur Theorie. Weil dem Anarchismus alle Revolution Selbsteinsatz, und nichts als dies, bedeutet, darum ist eine Theorie der Revolution für ihn eine Absurdität. Selbst ein so großartig wissenschaftlicher Geist wie Kropotkin, der die denkbar umfassendsten Kenntnisse von Natur und Geschichte besaß und seiner anarchistischen Lehre zugrunde legte, hätte nie darauf kommen können, wie Marx eine Theorie des gesellschaftlichen Entwicklungsprozesses aufzustellen, weil eine solche Theorie den Einzelnen nicht nur in seiner Handlungsfreiheit beschränken, sondern als aus sich wirkende Kraft aus dem geschichtlichen Prozeß ausschalten mußte. Bakunin hat deutlich gegen Marx das Wort gerichtet, daß er die Revolte des Lebens gegen die Wissenschaft oder doch gegen die Herrschaft der Wissenschaft predige.

          Durch diese Gegnerschaft haben aber die Anarchisten den geschichtlichen Sozialismus und dessen Revolution fatalistisch mißverstanden. Sie haben ihn so verstanden, als habe er an Stelle der revolutionären Tat ein automatisches Umschlagen der einen Wirklichkeit in die andere gesetzt. Aber auch die aus dem geschichtlichen Gesamtzusammenhang hervorgehende Revolution war ja menschliche Tat, wenn auch nicht notwendig die eines Einzelnen. Auch bei Marx stand ja im Mittelpunkt der Mensch und die menschliche Revolution; auch er, und gerade er, wollte ja mit Leidenschaft den Menschen aus der Selbstentfremdung, der Verdinglichung, der Versachlichung befreien, der er durch Kapitalismus, Imperialismus und alles mit ihnen Zusammenhängende im modernen Leben verfallen war. Von Marx stammt das Zielwort: die politische Emanzipation der französischen Revolution sei noch durch eine menschliche zu vollenden. Wie der Anarchismus hat auch er an die Sache der Entrechteten und Unterdrückten sein Leben gesetzt. Auch er gehört zu den Menschen, von denen Landauer gesagt hat: „Die es nicht aushalten wie ich.“ Aber er überwand die revolutionäre Ungeduld des Anarchismus durch jene strenge Theorie der geschichtlichen Entwicklung, die er nicht über die Einzelnen hinweg, aber als objektiven Prozeß durch sie hindurchführte. Wenn Landauer die Geschichte erklärt: „Wir verstehen das Gewesene so, wie wir sind; wir verstehen es als unseren Weg“, so steht dieser subjektiven Geschichtserfassung bei Marx die objektive entgegen, daß am Menschen das geschichtliche Schicksal, in dem er mitlebt, sich auch auswirkt. Gerade damit liegt seiner Geschichtsphilosophie kein Abstraktum, sondern das ganze geschichtliche Ich, das heißt: der wirkliche Mensch zugrunde. Und wenn Landauer das Programm des Anarchismus ganz im Sinn Kropotkins in dem knappen Wort formuliert: „In Arbeit vereinigte Menschen, die schaffen, was sie brauchen“, so sind bei Marx diese schaffenden Menschen immer auch durch ihr eigenes Schaffen gebunden, von den Gesetzen ihres eigenen Tuns abhängig geworden. „Denn“, so sagt Marx, „die Menschen müssen im Lauf der geschichtlichen Entwicklung die materiellen Bedingungen einer neuen Gesellschaft erst produzieren und keine Kraftanstrengung der Gesinnung oder des Willens kann sie von diesem Schicksal entbinden.“ Das Abweichende und Neue dieser Erfassung des geschichtlichen Schicksals: daß der Einzelne durch das, was er tut und hervorbringt, immer auch zugleich bestimmt ist, ist aber im Grunde die Wahrheit des Schicksals überhaupt; es ist dieselbe, für alles Menschliche gültige Wahrheit, die in dem Wort Goethes ausgesprochen ist: „Beim ersten sind wir frei, beim zweiten sind wir Knechte.“ Denn das bedeutet: Wo überhaupt etwas von uns Bewirktes, Geschaffenes vorliegt, da haben wir uns bereits unausweichlich gebunden, können wir aus dem Ablauf der Wirkungen unseres Tuns nicht mehr heraustreten, können wir darum allein aus diesem durch uns selbst uns Vorgegebenen noch mit Wahrheit handeln.

          Darin scheint mir die eigentliche Größe, das nicht mehr zu tilgende Erbe von Marx zu liegen, daß er im genauen Gegensatz zu Stirner den Menschen nie und nirgends allein, als ein bloßes abstraktes einzelnes Ich faßt, sondern immer in der vollen Wirklichkeit, in der und aus der er lebt, die ihm die Bedingungen seines Lebens stellt, weil er sich durch sein eigenes Tun in ihr immer schon seine Grenze und damit seine Aufgabe gesetzt hat.

          Mit diesem Gedanken der Übernahme des von uns selbst geschaffenen Schicksals stoßen wir auf die brennendste Frage unseres heutigen Leben: auf die Frage, ob und wie wir nach dem, was wir aus unserer Welt gemacht haben, nach dem Ungeheuerlichen, das durch unser eigenes Tun und Verschulden unser Schicksal geworden ist, noch das Recht oder auch nur die Möglichkeit haben, uns aus diesem Gesamtschicksal als freie Einzelne zu lösen, uns gleichsam im leeren, schicksalslosen Raum zu entscheiden. Es ist die schwere, dunkle Frage, ob ein Mensch, der heute lebt, seine persönliche Reinheit unabhängig vom heutigen Gesamtschicksal bewahren kann, ob nicht alle seine Wertungen falsch und unwahr werden, wenn er sich mit seinem Gewissen außerhalb des von ihm mitbewirkten, mitgeschaffenen Weltschicksals stellt – ja, ob er nicht selbst dann sich in dies Schicksal einordnen müßte, wenn es die Auflösung des bisherigen Europa und seiner Wertungen bedeuten würde.

Der religiöse Sozialismus, in dem Elemente des Anarchismus und des geschichtlichen Sozialismus sich mischen, hat die Forderung an den Einzelnen, sich nicht abstrakt, geschichtslos, im leeren Raum zu entscheiden, in einer noch weniger lastenden Zeit in dem schönen Wort Max Gerbers ausgesprochen, daß wir uns an das halten sollen, was Gott auf die Tagesordnung gesetzt hat. An dieser Forderung auch in einer Zeit, wo sie das schwerste Opfer fordert, mit unbedingtem Ernst festzuhalten scheint mir der letzte Sinn der im Evangelium gegründeten revolutionären Botschaft von Leonhard Ragaz.

          „Revolution, das heißt die Sünden der Vergangenheit büßen und sich für die Zukunft opfern“, in diesem unvergeßlichen Wort hat der dem Anarchismus nahestehende, vorbolschewistische Revolutionär Kerenski den Sinn aller Revolution ausgesprochen, der vom Einzelnen aus immer Opfer, von der Geschichte aus immer Scheitern ist. Keine Revolution scheitert so restlos, so unbedingt, so blutig wie die anarchistische; wie die Täuferrevolution in Münster, wie die Pariser Kommune, wie die des spanischen Anarchismus, wie die Münchener Revolution Landauers. Denn sie allein ist reines Opfer; sie kommt rein und unvermittelt aus einer fremden Ordnung: einer Ordnung des Herzens, des Geistes, der unbedingten Verantwortung in eine unaufhörlich verfallende Welt. Als Landauer das Kind im weißen Kleid an seine Mörder aussenden wollte, handelte er wie in einem leeren Raum, aber – Briefe bezeugen das – sicher nicht ohne das volle Wissen um seine Lage und die seiner Revolution. Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß er in jenem Augenblick schon begriffen hatte, daß seine Revolution gescheitert war. Hatte er aber je wirklich an ihren Erfolg geglaubt? Wußte er nicht von Anfang an, daß seine Revolution scheitern würde, scheitern müßte, wie alle anarchistische Revolution? Er selbst hatte ausgesprochen, daß keiner Revolution mehr als eine Dauer von Tagen beschieden sei. Von ihm, dem Bekenner der Revolution aus der Grundkraft des Geistes, stammt das bestürzende Wort: „In Wahrheit lebt der Geist nur in der Revolution; aber er kommt nicht zum Leben in ihr; er lebt nach ihr schon wieder nicht mehr.“ Ihm also war allein die Revolution Leben. Dieser Mann, dem alle Revolution nur ein rascheres, tieferes Aufatmen der Weltgeschichte zwischen zwei Krankheiten, des Aufschwungs zwischen zwei Zeiten dumpfen Hinlebens war – er hat ganz gewiß nicht an die Möglichkeit einer Dauer, eines Erfolges seiner Revolution geglaubt.

          Dennoch mußte sie gewagt werden; es ging allein um dies Wagnis. So wenig wie über den Erfolg seiner Revolution, deren Aussichtslosigkeit ihm damals durch die Ermordung Eisners schon bezeugt war, hat sich Landauer sicher über Beschaffenheit und Gesinnung der gegen ihn heranrückenden Truppen getäuscht. Aber alles kam darauf an, daß das Zeichen einmal in der Welt gegeben wurde. Es war ja denkbar, daß unter den verrohten Horden ein einziger war, dessen Herz rein geblieben, von Zerstörungs- und Mordwut nicht befleckt war, ein Einziger, in dessen Seele es fiel – und von ihm: diesem Einzigen konnte eine Erneuerung der Welt ausgehen. Auf diesen Einzigen, auf diesen Christophorus, der die Hoffnung der Welt unversehrt durch den reißenden Strom der Geschichte trägt, zielt, wie sie von der übergeschichtlichen Hoffnung eines Einzelnen ausgeht, alle anarchistische Revolution.

          Es war für den Revolutionär Landauer undenkbar, zu warten, es war ihm keine Zeit gegeben; es gab für ihn nur diesen einen einzigen Augenblick. Der ihm gewisse nahe Tod war nur ein Symbol der Kürze des Menschenlebens, von der alle Revolution hervorgetrieben wird und an der alle Revolution scheitert. In dem Nichtwartenkönnen, Nichtverschiebenkönnen, Nichtabschiebenkönnen in ein Jenseits liegt die Tragik aller Revolution – diese unaufhebbare menschliche Tragik, deren Verhängnis der geschichtliche Sozialismus durch die Gesamterfassung eines Geschichtsprozesses, in dem wie in einer verweltlichten Erlösungskette die Hoffnung von Geschlecht zu Geschlecht weitergegeben wird, zu überwinden gesucht hat.

          Der Anarchismus bleibt in der reinen revolutionären Ungeduld des Einzelnen stehen. Und es stellt sich die Frage: Ist nicht dies sein eigentlicher und tiefster Sinn, der, indem er ihn von allen anderen revolutionären Formen abtrennt, ihn zugleich als ihrer aller Mittelpunkt er weist? Ist nicht der Anarchismus der glühende Kern aller Revolution überhaupt? Die große Ungeduld der Seele im Irdischen, die, wo immer sie hervorbricht, die irdischen Formen sprengt und zu immer neuen Gestaltungen drängt? Diese durch die ganze Menschengeschichte ausgegossene lebendige Kraft der Seele, die die genaue Gegenkraft jener sprengenden Macht ist, die heute der Mensch aus der Tiefe des Irdischen aufgerufen hat, schmiedet aus der Verzweiflung selbst ihre Hoffnung. So spricht es das Wort des spätgriechischen Schriftstellers Maximus von Tyrius aus, das Landauer seinem Buche über die Revolution vorangeschickt hat: „Hier siehst du nun den Passionsweg, den du Untergang nennst, der du nach dem Wege derer urteilst, die schon auf ihm fortgegangen sind, ich aber Rettung, da ich nach der Folge derer urteile, die da kommen werden.“