In: Das
Flugblatt 4, 1918
Wir deutschen Frauen waren bisher noch weit weniger politisch,
als es die deutschen Männer waren. Wohl war es bei den Frauen auch weniger zu
verwundern, daß sie sich den politischen Fragen fernhielten, weil sie keine
Stimme in ihnen hatten. Aber das kann bei weitem nicht zur Erklärung ihrer
unpolitischen Haltung ausreichen; gab es doch in anderen Ländern Frauen, die
leidenschaftlich um diese Stimme kämpften, während die deutschen Frauen, auch
gerade die der gebildeten Stände, mit verschwindend wenigen Ausnahmen gar nicht
das Bedürfnis hatten, in den öffentlichen Fragen mitzureden. Die englischen
Suffragetten wurden bei uns mit einem Achselzucken abgetan, als närrische
Mannweiber verspottet, und vollends die Frauen der französischen Revolution und
die leidenschaftlich und bis zum Märtyrertum politischen Russinnen erschienen
uns Deutschen als fremde, schreckhafte und nicht mehr weibliche Typen.
So fand die deutschen Frauen der Krieg. So brach das Entsetzliche, von Grund aus Fremde über sie herein, und sie hatten ihm nichts an Fragen, Erkenntnissen, Entscheidungen entgegenzuhalten – mit maßloser Gewalt schlug die Woge über ihnen zusammen und warf alle ihre bisherigen Begriffe von Recht und Pflicht, von Unschuld und Liebe mühelos über den Haufen. Was der Krieg in ihnen auslöste, war eine jäh und zusammenhangslos aufflammende, an alten Symbolen und übermächtigen Worten ungeprüften Inhalts sich entzündende Begeisterung und bei den besten eine dienende Bereitschaft, eine heiße Hingebung und schmerzliche Liebe angesichts der jäh heraufsteigenden Flut von Leiden und Verzweiflung. Eine Unsumme von reinstem Opfermut, helfender Güte, schweigendem Heldentum wurde im Dienst dieser furchtbaren Sache verbraucht; freiwillige Hilfskräfte gaben sich ihr in Massen und aus reinem Herzen hin.
Nicht
an reinen Herzen hat es in Deutschland gefehlt – es fehlte an dem System, in
dem ihr Tun und Geben fruchtbar werden konnte zum Segen für die Gesamtheit;
denn im bestehenden System war die Möglichkeit der lebendigen Verantwortung
der Einzelnen für das Ganze ausgeschaltet. Freiwilligkeit
im Dienst des Geschehenden gab es in überströmender Menge; aber Freiheit: lebendige Entscheidung für
oder gegen das Geschehen, gab es nicht; und konnte es nicht geben; denn jeder
Schritt über das Geschehen hinaus war schon zuvor gebrandmarkt als Schande und
Verrat. So wurden die Frauen willenlos mitgerissen – dahin, wo man sie haben
wollte, wo man sie brauchte. Aber das Wort Krieg, das in der ersten Zeit mit
Flammenschrift in ihren Tagen und Nächten gestanden hatte, verkohlte langsam zu
trostlosem Schwarz. Und in wie zahllosen Frauenseelen mag im Lauf dieser vier
langen Qualjahre immer deutlicher und brennender die Frage heraufgetaucht sein:
Mußte dies sein? Kann das Unmenschliche sein müssen? Und darf es sein? Dürfen wir dieser Sache dienen? Aber sie konnten
nicht hindurchdringen durch das dichte Geflecht von Vorurteilen, allgemeinen
Bindungen und falschen, machtvollen Ideologien, in das man ihr Leben eingepreßt
hatte. Das innerste Menschliche, das freie Gewissen konnte die mächtige
Umschnürung mit Vorläufigem nicht zersprengen; denn es war noch nicht erstarkt
durch das, was ihm allein zu sich selber helfen kann: die Erziehung zur Freiheit. So blieben die Frauen eine dumpfe tragende
Masse, auf deren Rücken sich all das Grauenvolle abspielte, und das einzige,
worin ihr Weh und ihre Gewissensnot sich äußerte,
waren Tränen.
Aber diese Tränen haben sie
einen gewaltigen Ruck vorwärtsgetrieben zur Politisierung. Sie lernten sehen,
wie tief die Politik in ihr Leben einschnitt, ja, wie die politischen
Ereignisse plötzlich die ihres eigenen Lebens wurden; immer mehr von ihnen
versuchten, sich den drückenden Schlaf aus den Augen zu reiben und endlich klar
zu sehen, was mit ihnen und durch sie geschah. Sie konnten die toten
Schlagworte nicht mehr hinnehmen, an denen sie ihr Liebstes, ihr Land und die
ganze Welt zu Grunde gehen sahen. Sie fühlten sich in diesen Ölbergstunden des
Menschlichen angeredet, aufgerufen mit den gewaltigen Anklageworten Christi:
Könnet ihr denn nicht einen Augenblick mit mir wachen? Und sie lernten immer
klarer begreifen, daß äußerstes Wachsein jedes Einzelnen, lebendigste Entscheidung
jeder Seele bereit sein muß und nottut, wo es um das Letzte, die Rettung des
Menschentums selbst geht.
Gewiß waren es immer nur noch einzelne Wenige, die diese
gewaltige Stimme schon lange klar aus dem verworrenen und so furchtbar
verwirrenden Geschehen sich loslösen hörten, die begriffen, was von ihnen
gefordert wurde. Zu fest waren die Bindungen durch das Bestehende, zu fern und
vernichtend die Antworten, die auf die letzten Fragen drohend herauf tauchten.
Aber selbst für die, die ihnen mit Ernst und Wahrheit zustrebten, war der Weg
dahin durch politische Erkenntnis nicht gebahnt.
Und sicher ist es kein Zufall, daß gerade für die
deutschen Frauen dieser Weg so ungangbar geblieben ist, daß Politik bei uns bis
jetzt als ein dem weiblichen Wesen an sich Fremdes angesehen wurde. Von
weither ist dies alte Vorurteil bedingt: es lag in unserer besonderen
Auffassung des Wortes Politik, die ihrerseits wieder gestützt und getragen
wurde von der eigentümlichen moralischen und geistigen Verfassung, zu der sich
das deutsche Wesen seiner Grundtendenz nach bis in unsere Zeit hinein
entwickelt hat. Diese Grundverfassung des deutschen Wesens, aus der sich
letzten Endes die gesamte Gestaltung seines Lebens in der neueren Zeit
herleiten läßt, ist das, was man die deutsche
Innerlichkeit nennen möchte und was man kurz zusammenfassend als das
verhängnisvolle Erbteil der großen schöpferischen deutschen Metaphysik in
unschöpferischen Zeiten begreifen könnte. Denn diese metaphysische Kraft, die
Kraft zur Idee, Deutschlands größte Gabe in schöpferischen Zeiten, mußte ihrem
Wesen nach in unschöpferischen Zeiten seine größte Gefahr werden – eine Gefahr,
der Völker mit einfacheren, leichter lösbaren moralischen Aufgaben und
Begriffen entgehen. Denn eben jene gewaltigen, hoch über aller Empirie
lebenden Ideen der deutschen Metaphysik, die es den Menschen unmöglich machten,
sich unmittelbar und eindeutig an ihnen zu orientieren, weil dem Einzelnen
keinerlei inhaltlich bestimmte oder bestimmbare Aufgabe, ja auch eigentlich
kein Ort darin zugewiesen war: das gewaltig Überinhaltliche, Allgemeine,
lediglich Richtung gebende und damit allem Bestimmten und Äußeren grundsätzlich
Fernbleibende, das seit Luthers Isolierung des Einzelgewissens die ganze
deutsche Metaphysik und Moral durchzieht, wiesen den Deutschen immer tiefer und
ausschließlicher in sein Inneres. Und es kam wie es kommen mußte: im Maße als
die schöpferische Kraft in Deutschland abnahm, im Maße also, als die gewaltigen
Gedanken und Vorbilder, die nur durch ihre eigene Schöpferkraft den Abgrund zu
überbrücken vermochten, nicht mehr lebendig erlebt und erfüllt werden konnten,
wuchsen Inneres und Äußeres immer hoffnungsloser auseinander. Das deutsche
Volk, das sich mit Recht als das tiefste Volk Europas empfand – so weit es
nämlich die Tiefe als eigentümliche Dimension seiner großen Geister angeht –
begann immer mehr, sich bei seiner eigenen Tiefe auszuruhen, die ungeheure
Aufgabe in dieser Tiefe zu vergessen und im bloßen Leben nach innen und für das
Innen, im Verschmähen und Liegenlassen des Außen bereits die Erfüllung dieser
Aufgabe zu sehen. So wurde die Innerlichkeit immer mehr eine Zuflucht der
Gebildeten, der Studierstuben und vor allem auch der Frauen, die noch nie einen
Zusammenhang mit dem äußeren Leben gekannt hatten. Gewiß trieb die
Innerlichkeit gerade bei den edelsten Frauen noch schöne, unendlich reine
Blüten; aber der Zusammenhang des Innern mit dem Außen, den unmittelbar nur der schöpferische,
repräsentative Mensch darstellt, der aber als Forderung der Sinn aller Moral ist, ging immer hoffnungsloser
verloren. Denn im selben Maße, als man sich in die Innerlichkeit zurückzog,
verdarb das Außen, dem die lebendige Liebe der Menschen entzogen wurde und
schwoll zu einer leeren, unförmlichen und übermäßigen Gewalt empor. Die nach innen
gewandten Seelen verstanden zuletzt nicht mehr, was geschah, sahen gar nicht,
wie das Außen, das Geist von ihrem Geist hätte sein sollen, durch sie selber
peisgegeben, blind, leer und seelenlos weitertrieb. Sie sahen da noch einen
Altar für ihre heiligsten Opfer, wo längst ein kahler Machtwille menschenfremde
Gesetze gab.
Und so geschah das Furchtbarste und Trostloseste: daß
Deutschland der ganzen Welt als ein verlogenes Land erschien. Kein Mensch
außerhalb Deutschlands konnte diesen Abgrund zwischen dem Geist der Einzelnen
und den Taten der Gesamtheit verstehen. Und noch unfaßlicher mußte es
scheinen, wie dieser reine nachdenkliche Geist der Einzelnen, den man verehrt
hatte, sich plötzlich ohne Einschränkung hinter die politischen
Gesamthandlungen stellen konnte. Und doch log gerade hiermit gewiß niemand in
Deutschland, weil nur so verschwindend wenige sich dieser Kluft zwischen dem
deutschen Geist und der deutschen Politik überhaupt bewußt wurden. Man verschob,
verschleierte, duldete, nahm hin, weil man immer noch in diesem Deutschland das
eigene Deutschland sah und sehen wollte. Und es wurde nicht nur von den Regierenden als Verrat betrachtet, wenn
ein Mann oder eine Frau während des Krieges aufstand und verlangte, daß, was im
deutschen Namen geschah, auch wirklich deutsches Wesen und Wollen ausdrücken
solle.
Denn das war das Verhängnisvolle: Der überwältigenden
Mehrzahl der Deutschen und vor allem auch der edleren deutschen Frauen genügte
es völlig, rein zu sein vor sich selbst, unbefleckt mit persönlicher Schuld. Und in wie vielen mag auch nur die eine
furchtbare Frage aufgetaucht sein: Welches Recht haben wir Frauen voraus vor
den Männern, daß uns die furchtbare Gewissensqual erspart bleibt, unsern Bruder
töten zu müssen? Was gibt uns das Recht auf unsere Reinheit in einer Welt, in
der jene, die nicht schlechter sind als wir, sich hoffnungslos beflecken im
Kampf des Einzelnen mit seiner unmenschlichen Pflicht? Soll darum unsere
Sterbestunde leichter sein als die ihre? Wahrhaftig, diese Reinheit wird im
Himmel und auf Erden nicht gewogen werden gegenüber dem, was wir alle ohne
Ausnahme an Schuld der Gesamtheit auf uns geladen haben. Müßte nicht schon an
dem einen Beispiel jeder, der vor diesem Schwersten persönlich bewahrt geblieben
ist, müßten nicht vor allem die Frauen in ihrer Gesamtheit hieran mit einem
Schlage inne werden, wie wenig das Gewissen zu isolieren, wie unmittelbar es
der Gesamtheit verhaftet ist, die für uns handelt?
Aber diese Einsicht war darum so schwer zu gewinnen, weil
das Wort Politik durch die Entseelung des Außen einen so falschen Sinn
gewonnen hatte, daß es fast wie eine Befleckung des rein Menschlichen erschien,
sich mit ihr zu befassen. Man verstand bei uns unter Politik ein Ordnen
äußerer Zusammenhänge, zu dem wohl ein sicherer, fachmännisch kundiger Blick
und eine feste Hand, aber keinerlei menschliche Qualität verlangt wurde. Ja,
letzthin verstand man unter Politik nur noch ein Überlisten, ein Ergattern von
Vorteilen, von Besitz und Macht, ein Feilschen um ein Stück Land, Erzlager und
Kohlenbecken – und zu allerletzt ein Feilschen darum mit Millionen lebendiger
Seelen. Wer einmal offenen Auges in diesen Abgrund geblickt hat, dem mußte es
gewiß sein, daß nur eine Umwälzung der gesamten Lebensgrundlagen aus ihm heraus
zu einem neuen bessern Leben führen könne.
Und doch ist der Sinn des Wortes Politik einfach und klar
genug; Politik bedeutet nichts anderes als die Ordnung der menschlichen
Beziehungen in großen Gemeinschaftsgebilden – der menschlichen Beziehungen in
ihrer Totalität, der niedersten, wie der höchsten. Wie es geschehen konnte,
daß mehr und mehr der verderbliche Wahn Platz griff, daß diese Beziehungen mit
dem wachsenden Umfang der staatlichen Gebilde keine moralischen, d. h.
menschlichen, sondern nur noch technische, wirtschaftliche seien und damit
letzten Endes nur nackte Machtfragen, denen die dürftige Umschleierung mit
einer fadenscheinig gewordenen Moral um so häßlicher stand, darauf besitzt
jedes Land seine besondere Antwort. Aber nirgends ist die Politik so kahl und
aller menschlichen Gesichtspunkte bar geworden, wie im Lande der das Außen
brach liegen lassenden Innerlichkeit. Nirgends ist der
Gedanke der Freiheit in so erdgelöster Reinheit über den Häuptern der Menschen
empfangen wie in Deutschland, wo sie das reine Sollen bedeutete; nirgends ist
der Gedanke der mit dem Sollen identischen Freiheit so mißbraucht und in den
Staub gezogen worden wie im preußisch–autokratischen Deutschland. Denn
Deutschlands gewaltigste Träume verliefen sich in die kraftlos gewordene Innerlichkeit.
Was diesen Krieg verloren hat, das ist das unpolitische
Deutschland – aber unpolitisch nicht etwa im Sinne einer nur ungeschickten und
unerfahrenen Politik, sondern im Sinne der vom Menschlichen verlassenen leeren
Machtorientierung und schwankenden Doppelzüngigkeit. Denn was man auch von den
feindlichen Ländern sagen möge, wie hoch man ihren Anteil an der Gesamtschuld
werten mag: das eine wird man ihnen allen zugeben müssen: daß die Politik eines
jeden von ihnen die Wirklichkeit des Landes und damit auch die Seele seiner Menschen
irgendwie ausdrückt. So kommt es, daß, wenn auch keines der Völker in diesem
Kriege rein ist – wie wäre das angesichts einer so furchtbaren Wirklichkeit
möglich? – doch die Politik der Anderen wenigstens nicht jedes menschlichen Gesichtspunktes
bar war wie die unsere. Und so kommt es, daß – wie gewaltsam wir uns dagegen
sträuben mögen – es schließlich das moralische Übergewicht war, das uns
besiegte (sowie es schon das Moralische war, was Deutschland vor dem Kriege so
furchtbar wie nie zuvor ein Land in der Welt vereinsamte). Aber das geschah
nicht etwa, weil die einzelnen Engländer, Amerikaner oder gar Franzosen
moralischer gewesen wären als die Deutschen, sondern weil sie politischer waren, d. h. weil mehr von
ihrem Menschentum in ihrer Politik war.
Und ganz gewiß ist es kein Zufall, daß gerade die Frauen
Englands und Amerikas, der Länder, in denen dies am deutlichsten der Fall ist,
im politischen Leben eine so völlig andere Rolle spielen und spielen wollen als
die deutschen. Wie wir die Politik verstanden, konnten wir diese Teilnahme am
politischen Leben unmöglich begreifen. Wir konnten nicht verstehen, daß es
jenen Frauen um nichts anderes ging als um die Bestätigung ihres Menschentums.
Denn wir wußten ja nicht, daß alles Menschentum im Leben der Gemeinschaft
wurzelt und damit die lebendige Verantwortung des Einzelnen für das Ganze
bedeutet.
Bei uns verlangten die Frauen von sich, daß ihr Tun
persönlich gut, rechtlich, hilfreich und voll Liebe sei. Jede Verantwortung gegenüber den großen Geschehnissen des Gesamtlebens
lag ihnen fern; hier war ihr Verhältnis das des dienenden Glaubens. Aber
nur als religiöses Verhalten ist der G1aube sittlich; d. h. ein Glaube darf nur
da stattfinden, wo ein unserm Verstande grundsätzlich Unzugängliches, ein
Letztes, durch uns nicht weiter Aufzulösendes vorliegt. Allem andern gegenüber
ist der Glaube Schwäche und Schuld. Denn es ist unsere menschliche Pflicht, die
uns gewordenen Werkzeuge in dem übermächtigen Dunkel und Dickicht unseres
Lebens zu gebrauchen, uns Wege zu hauen ins Unwegsame und das Licht unseres
Verstandes den ganzen Umkreis erleuchten zu lassen, den sein Schein noch irgend
zu erreichen vermag. Nicht eher dürfen wir den Schleier niedersinken lassen,
als da wo er mit allen Kräften nicht mehr gehoben werden kann. Dann erst wird
ein Wirkliches, kein nur Geträumtes, Selbsterschaffenes dahinter verehrt werden
können.
Gewiß war es den deutschen Menschen der Gegenwart auch
über die Maßen schwer gemacht worden, hier bis ans Ende zu gelangen, weil ein
raffiniertes, bis in alle Einzelheiten des öffentlichen und privaten Lebens
hinein ausgebildetes System die Menschen zur Verantwortungslosigkeit erzog.
Aber eben dies ist es, was von heute an anders werden muß. Daß von nun an jeder
Einzelne sich selbst für die Gesamtheit verantwortlich fühlen lerne, daß er
aufblickend gewahre, welch ungeheurer Verrat an seinem Menschentum begangen
worden ist, und wie er dadurch selbst zum Verräter am Menschlichen wurde, das
ist der letzte, tiefste Sinn der deutschen Revolution. Es ist eine gewaltige
Umkehr, die da geschehen muß. Kein Mensch, der dem alten anhing, darf glauben,
anders als durch ein innerstes Bekehrungserlebnis, durch eine volle Erkenntnis
der begangenen Schuld und den heiligen Willen, sie wieder gutmachen zu helfen,
sich auf den Boden des Neuen stellen zu können.
Damit gilt es zu erfassen, daß der innerste Sinn der
Revolution Sühne ist. Das bedeutet,
daß sie nicht für die Gegenwart, sondern erst für die Zukunft handelt, daß das
Schicksal der Gegenwärtigen auf
jeden Fall in ihr bedroht und fragwürdig ist und daß nicht wir es sein dürfen,
die ihre Früchte ernten wollen. Zahllose Menschen unserer Generation und
jüngere als wir ruhen im Boden; wie dürften wir Überlebenden uns da wehren,
wie sie Saat für die Zukunft zu werden? Unsere Generation hat die Aufgabe des
Sühnens und des Wiedereinrichtens. Dazu muß sie bereit sein.
Aber damit diese in ihrer Strenge ungeheuerliche Forderung
auf den Schultern der schon so tief gebeugten Menschen nicht zu schwer werde,
bedarf es vor allem der Kraft, die alles vermag, weil sie alles glaubt, alles
hofft, alles duldet: es bedarf der Liebe. Nur sie, die nicht eifert, die das
Böse nicht zurechnet, kann den über alles Verworrne, Häßliche und Halbe des
Heute in die Zukunft hinübergespannten Bogen der Revolution in seiner ernsten,
fordernden Größe erkennen und ohne Haß und Verzweiflung sühnen lehren. Sie
allein kann dem Heutigen den schärfsten Stachel nehmen, die brennenden Wunden
mit heilendem Glauben verbinden und dem geängsteten Geschlecht den schmalen Weg
weisen, auf dem es zwischen lauer Verstocktheit und verwüstendem Chaos fest
und sicher hinübergeht zu einer bessern Welt.
Hier steht den Frauen der unmittelbarste Zugang zur Revolution
offen. Nicht nur, weil die Liebe die Stelle ist, die der Krieg am tiefsten in
ihnen verwundet hat – sondern auch, weil dies das Wort ist, auf das jede echte
Frau wie auf das erste flammende Signal aus einer bessern Welt hört. Wenn die
Frauen gewiß sein werden, daß die Revolution im Zeichen der Liebe steht, wird
keine Frau sich von ihr ausschließen wollen. Aber es muß viel weiter kommen: es
muß dahin kommen, daß die Frauen der Revolution nicht nur dienen wollen, weil
und sofern sie im Zeichen der Liebe steht, sondern weil sie ihre eigene Liebe
hineingeben, sie durch ihre Liebe erwärmen und zu sich selbst führen wollen.
Dazu ist heute der Weg offen.
Die weitaus überwiegende Mehrzahl der deutschen Frauen
ahnt freilich heute noch nicht, was ihnen mit der politischen
Gleichberechtigung und durch sie werden soll: daß sie mit ihr nicht nur zu
freien bewußten Menschen, sondern auch zu Menschen ihrer eigensten Art erzogen
werden sollen. Denn die gleiche Verantwortung für das öffentliche Leben soll
ganz gewißnicht zu der so sehr gefürchteten Vermännlichung der Frauen führen;
diese pflegt nur eine Art Mimikry tapferer einzelner Vorkämpferinnen in Zeiten
zu sein, wo die Gleichberechtigung noch aussteht. Mit einer Vermännlichung der
Frauen überhaupt ginge unserm Leben eine tiefe Kraftquelle verloren. Die
Lahmlegung irgendeiner Kraft aber ist nie und nirgend Sinn und Absicht einer
sozialistischen Bewegung – ganz im Gegenteil ist es ihr Ziel, alle Kräfte
lebendig zu sich zu entfalten, zu ihrer äußersten Fruchtbarkeit zu steigern.
Dies und nichts anderes muß auch der Sinn der politischen Gleichberechtigung
der Frauen sein. Was wir bedürfen, ist nicht eine bloße Vermehrung der
Stimmen; es ist der Ausdruck eines bestimmten lebendigen Wollens, das bisher
in unserm öffentlichen Leben fehlte.
Wie oft hatte man während des Krieges das – vielleicht
damals noch täuschende – Gefühl: Hätten die Frauen in aller Welt Stimme gehabt,
so hätten sie dies Unmenschliche verhindert. Und es schien einem, als müßten
sich alle diese unterdrückten Stimmen zu einem gewaltigen, lang anhaltenden
Schrei über die ganze Erde hin vereinigen. Dieser Schrei einer lebendig
ausbrechenden Liebe, eines ins Herz getroffenen Menschentums fehlte bis heute
in unserer Welt. Die Frauen waren stumme, willenlose Handlangerinnen des
männlichen Willens. Jetzt aber gilt es, eine menschliche Welt zu schaffen und dazu auch die Frauen frei zu
machen zu dem, was sie ihrem Wesen nach sind.
Gewiß als freie, verantwortungsvolle Seelen nichts
anderes als was alle Menschen sind oder sein sollen. Aber dieselbe Freiheit
wird in der Frau andere Kräfte freimachen als im Mann. Denn wenn ein letzter
Wesensunterschied hier nicht aufgestellt werden kann, weil das Menschliche ein
zutiefst Gemeinsames ist, so tritt doch von diesem aus ein Vorletztes scharf
auseinander. Man könnte es dem letzten identischen Gehalt gegenüber gleichsam
einen Unterschied der Methode nennen. Die Frau wendet sich, ihr Leben anders an
als der Mann. Wo der Mann sein Letztes stets irgendwie im Einzelnen, Werkhaften,
Formhaften und damit doch letzten Endes der Seele Äußeren festlegt, zieht die
Frau das Letzte, auch wo sie durchaus überpersönlich fühlt und erlebt, immer
tiefer in sich, in das unmittelbare, subjektive und ganze Menschentum hinein,
kann es nur von hier aus, als aus seiner innersten Kraftquelle immer wieder
erneuern und alles Einzelne allein an ihm begreifen. So ist sie innerlichst
gezwungen, alles und jedes immer wieder am ursprünglich Menschlichen, an der
Ganzheit ihres Lebens nachzuprüfen, umzuleben – und dies allein ist ihre
spezifische weibliche Art von Schöpfertum.
Und ist es nicht dies vor allem andern, was unserer so
unendlich weit vom Menschentum entfernten Zeit nottut? Lange genug hat das
Licht des männlichen Wesens allein seine kühlen Strahlen in alle Einzelheiten
und Ausläufer unseres Lebens gesandt; was wir jetzt vor allem andern brauchen,
ist die lebendige Wärme eines unmittelbaren Lebens. Und wenn es der neuen Zeit
gelingen wird, die Frau allmählich dazu zu erziehen, daß all die bisher so eng
verschlossene Wärme ihres Wesens frei wird für den ganzen Umkreis des
Gemeinschaftslebens – so wie sie es schon vielerorts für soziale Einzelaufgaben
geworden war – dann wird ganz gewiß unser gesamtes Leben ein mensch1icheres
Antlitz zeigen.
Dahin drängt alles. Wir sind so arm geworden an menschlichen
Werten, daß ein tiefes Frösteln durch die Welt geht. Wonach wir uns vor allem
andern sehnen, das ist Menschlichkeit, Liebe, Glauben und damit im tiefsten,
wundesten Winkel unserer Herzen ein neues lebendiges religiöses Erleben. Aber
hier liegt das dunkelste Problem und die allertiefste Not unserer Zeit. Gerade
manche der besten Frauen scheuen auch vor der neuen Bewegung als einer
religionsfeindlichen instinktiv zurück. Und es ist kein Zweifel, daß die
sozialdemokratische Bewegung das Religiöse im üblichen und vielleicht sogar
zunächst in jedem Sinne gewaltsam von sich ausschließt. Einmal, weil sie
überhaupt von allem nur Überkommenen, Festgewordenen, von allem, was nur noch
Form, Name und Dekoration ist, befreien will, dann aber auch, weil sie als
freie menschliche Tat selbst die Befreiung vom Himmel auf die Erde herabholen
will.
Aber wo wäre auch etwas, an das sie noch lebendig anknüpfen
könnte? Lebten wir nicht ohnehin in einer tief irreligiösen Zeit? Wäre dieser
grauenvolle Krieg, so wie er war, auf unserer Entwicklungsstufe überhaupt
möglich gewesen, wenn nicht Gott und
Christentum in unseren Seelen tief erstorben gewesen wären? Welche Kraft zum
Göttlichen, zum ewig Menschlichen hielt diese Welt noch zusammen? Haben wir in
dieser Zeit nicht den Heiland grauenvoll wie nur je gekreuzigt? Ist nicht sein
blutüberströmtes Menschengesicht der eigentliche Ausdruck unserer Zeit? Eine
gottleerere Welt ist nie gewesen, solange wir rückwärts schauen können. Und
wenn nun, da wir wirklich neu werden wollen, die neue Zeit mit den Resten einer
Halbreligion, die keine Kraft und Wahrheit mehr bewiesen hat, als mit einer
gefahrvollen Lüge aufräumen will – wer wollte es ihr verdenken?
Aber eine Hoffnung bleibt. Wie aus dem so lange und
furchtbar geschändeten Menschentum jetzt von selbst der Mensch als die glühende
Idee unserer Zeit herausspringt, so wird, wenn wir noch einmal wahrhaft
lebendig werden können, auch die Tötung des Göttlichen gewaltsam ein neues
Göttliches aus sich erzeugen. Denn Gott und
Mensch gehören untrennbar zusammen, und das Auferstehen des einen wird auch die
Auferstehung des andern sein.
Wenn es der neuen Zeit gelingen wird, das zu schaffen,
was wir mit aller Inbrunst ersehnen: einen neuen Menschen, so wäre damit auch
das religiöse Werk getan. Gewiß sind gerade wir von der Erfüllung dieser ewigen
Aufgabe durch den tiefsten Abgrund getrennt. Aber nur aus gewaltigen
Umwälzungen wurden stets die neuen Religionen geboren. Noch ungewiß der Kräfte,
die sie wachrufen wird, wie jede noch so junge Bewegung, muß freilich auch
diese durchaus zweifeln, ob so Gewaltiges aus ihr hervorgehen könne. Aber die
Grundlagen sind gegeben. Sie sind es als die tatsächlichen Vorbedingungen
durch die radikale Umwälzung, und sie sind es vor allem dadurch, daß mit dem
Augenblick des Ausbruchs der Revolution ein rein Utopisches den Scheitel der
Wirklichkeit berührt hat. Sollte nicht mit dieser bloßen Berührung schon
unmittelbar ein bisher noch namenloses Religiöses in die Bewegung eingeströmt
sein? Gerade wir Frauen sollten in ihr das Religiöse nicht vermissen; den wenn
irgendwo, so ist dies sichtbar an der Geste, mit der die neue Zeit die Frau in
sich empfängt. Zum ersten Mal wird unser Land nicht mehr allein die Stimme
seiner Männer, es wird die Stimme seiner Menschen hören. Wenn wir uns den
letzten menschlich –göttlichen Offenbarungen zuwenden und sehen, mit welchem
brennenden Getroffensein, mit welcher namenlosen Liebe und Reue die von
Christus zum ersten Mal rein als Menschen gewerteten Frauen zu seinen Füßen
niedersinken, so muß uns klar werden, daß dies Geschenk ein religiöses, ja ein
tief christliches Vermächtnis ist. Und von welcher nüchternen Klarheit es auch
in unserer Zeit umgeben sein, wie kalt sein Name klingen mag – in dem Aufruf
der Frauen zu allgemeinsamen Aufgaben und Zielen: in der Versammlung aller Menschen
zum Menschentum lebt doch in jeder Form ein religiöser Sinn. Wir aber müssen
sorgen, daß das unfaßlich kostbare Geschenk, das wir noch in ungeübten,
zitternden Händen halten, in ihnen allmählich zu dem werde, was es zu sein
bestimmt ist: zum Zeugnis unserer eigenen menschlichen Kraft.