Das Reich und die Nachfolge

 

In: Neue Wege 32, 1938

 

Nur der Tritt des lebendigen Gottes

erzeugt das Erdbeben der Welt.

 

Wer sich zu Christus bekennt, der

darf ihm nicht ausweichen.

                             Leonhard Ragaz

 

Wenn wir aus der Fülle der großen Wahrheiten, die das neue Buch von Leonhard Ragaz vor uns aufsteigen läßt, diese beiden Sätze auswählen, so ist es, weil sie vereint vielleicht am klarsten auf die Grundrichtung des Werkes, auf den Gesamtsinn hinweisen, mit dem es sich aus den übrigen theologischen Büchern unserer Zeit hinaushebt. Denn von diesen dreien handelt das Buch: von dem lebendigen Gott, der unsere Welt durchschreitet, von dem Erdbeben, das sein Tritt erzeugt, und von dem wahrhaftigen Bekenntnis zu dem als Mensch Erschienenen, vor dem es ein Ausweichen nicht gibt.

In dem furchtbaren Weltsturm, der uns heute umbraust, der Menschen und Werte wie Spreu umherwirbelt und vernichtet, in dem aller nur menschliche Trost versagt, ist das Buch von Leonhard Ragaz ein einzig kostbares Geschenk. Weit mehr als ein Buch – ein Ruf, ein Aufruf von Gott aus zu Gott hin. Inmitten des Schwankens und Wankens aller Dinge ist hier ein Stehender – stehend in den Weltwirbeln auf dem einzigen Felsen, der aus der Flut aufragt – unüberschwemmbar, von ihrem Steigen nicht erreichbar – hinausgehoben über alle irdischen Kräfte und Maße: dem Glauben.

          Es ist ein Glaube von besonderer Art. Zwischen den beiden entgegengesetzten geistigen Grundströmungen unseres heutigen Lebens, von denen die eine um der Verwirklichung der Gerechtigkeit willen Gott von sich gestoßen und den Menschen zum einzigen Verwalter der Gerechtigkeit gemacht hat, während die andere (die weitverbreitete negative Theologie), indem sie einem, den Gegensatz zwischen Gott und Mensch verwischenden Denken entgegen, Gott wieder in sein volles Reich eingesetzt hat, zugleich den Menschen als reines Nichts unter seiner Übergewalt dahinsinken ließ – zwischen diesen beiden entgegengesetzten Grundrichtungen, die beide den Menschen in das Nichts führen, steht die aufrechte, menschliche und männliche Frömmigkeit dieses Buches. Es ist, obwohl durchaus ein geistliches, nicht ein theologisches Buch im üblichen Sinne; denn es behandelt die göttlichen Wahrheiten nicht in sich gesondert in fortlaufender Wissenschaftlichkeit; es ist ihm nirgend um eine bloß wissenschaftliche Auslegung der Bibel zu tun. Aber noch weit weniger ist es, obwohl von allen Wirklichkeiten unseres Lebens handelnd und auf sie hinweisend, ein soziales oder gar ein politisches Buch. Sondern es ist ein Buch von Gott und vom Menschen und von dem lebendigen Geschehen zwischen ihnen. Es ist ein Buch von der Ewigkeit und von der Zeit. Es kommt mitten aus dem blutenden Herzen der Zeit und greift in leidenschaftlichem Ringen um das heutige Weltgeschehen mitten in sie hinein, und doch bleibt über jedem seiner Worte die Ewigkeit still und unverrückbar ausgespannt. Denn es ist eine Welt: eine Welt aus Himmel und Erde. Die Welt Gottes und die Welt des Menschen sind auch hier durch die ganze Unendlichkeit getrennt; das paradoxe Verhältnis zwischen ihnen ist nirgends aufgehoben; aber dennoch wird die eine nur an der anderen sichtbar. Die geschichtliche Welt taucht herauf einzig im Zeichen und in der Beleuchtung von Gott her; die Gotteswelt wird sichtbar nur an und in der geschichtlichen Welt.

          Das Buch handelt von unserer geschichtlichen Gegenwart im Ganzen wie im Herzen jedes einzelnen Menschen. Hier wird nicht weiter gearbeitet, weiter gedacht, „als ob nichts geschehen wäre“, sondern eben um unsere heutigen Gefahren, Verantwortungen, Probleme und Aufgaben geht es hier überall; alles Wissen um Gott hat seinen Sinn nur in der unablässig wirkenden Verknüpfung mit der menschlichen Verantwortung. Denn es handelt sich einzig und allein um die Gestaltung der Wirklichkeit aus dem Glauben. Der Glaube selbst ist der Verwalter der menschlichen Wirklichkeit.

          So ist es ein wahrhaft evangelisches Buch: inmitten der tiefen Finsternis unserer Zeit ein Buch der frohen Botschaft. Gerade weil es mitten aus dem Herzen der Zeit und zu unserem Herzen gesprochen ist, weil es an keinem ihrer Abgründe und Probleme vorbeigeht, weil der, der es schrieb, um diese Welt und ihr Grauen weiß wie wenige, hat er auch die Macht, das unvergängliche Licht über ihr in seiner Wahrheit zu enthüllen und seine Strahlen mitten in das Dunkel fallen zu lassen. Er entfernt sich nirgends einen Schritt breit von der Wirklichkeit; die Wirklichkeit ist ja sein ganzes Anliegen. Er ruft zu ihr auf mit jenem durchdringenden Wirklichkeitssinn, den wir bei fast allen großen Schweizern – bei so ungleichen Geistern wie einem Zwingli, einem Pestalozzi, einem Gottfried Keller und in ganz anderer Weise bei einem Jakob Burckhardt – finden. Es ist nicht jener flache Sinn für die Wirklichkeit, wie man ihn heute allgemein versteht, sondern man könnte ihn auch mit einem anderen Wort die Unverwirrbarkeit, Unbestechlichkeit des Herzens nennen. Aber eben weil es echter Wirklichkeitssinn, der Sinn für die ganze, gottumschlossene Wirklichkeit des Menschendaseins ist, darum stellt dies Buch uns unmittelbar an unseren wahren Ort im Weltgeschehen und schützt uns vor Verzweiflung.

          Mehr noch: es enthüllt vor uns die Grundstruktur des Weltgeschehens selbst in ihrer letzten Tiefe. In einem Augenblick, wo Gerechtigkeit und Recht, Göttlichkeit und Menschlichkeit immer mehr aus dem Völkerleben und damit auch aus dem Leben der Einzelnen verschwinden, wo alles Geschehen sich verwirrt und überschlägt, wo nur noch die nackte Gewalt das Wort hat und die Wahrheit als Grundlage des menschlichen Zusammenlebens durch Wort und Tat verhöhnt wird, wo selbst die kargen Bestrebungen zum Guten nicht mehr den Boden echter ursprünglicher Gesetzlichkeit finden, in dem sie verankert wären, – in einem solchen Augenblick legt dies Buch als ewiges Gerüst des Weltgeschehens die großen biblischen Wahrheiten wieder bloß.

          Die Dogmen werden nirgends gesondert, in sich selbst behandelt, und doch ist die ganze Wirklichkeit, die sich in diesem Buch vor uns entrollt, von den Wahrheiten des Dogmas getragen. Das christliche Dogma ist das eherne Fundament, auf dem sie sich erbaut. Die Göttlichkeit Christi, Geburt, Passion, Tod und Auferstehung – wo wären diese Wahrheiten klarer und leuchtender aufgezeichnet als hier? Nur daß es sich nirgends um eine in sich geschlossene Dogmatik handelt, sondern, daß das Dogma sich als lebendige Wahrheit in der menschlichen Wirklichkeit selbst entfaltet. Die Dogmen sind die grundlegenden Lebenstatsachen, auf denen alles geschichtliche Dasein sich erbaut. In den Formen der Geburt, des Lebens, des Todes und der Auferstehung Christi spielt sich, wenn wir nur tief genug blicken, alles geschichtliche Leben selbst ab. So spricht es vielleicht am schlichtesten und vollkommensten das Wort aus: „Das Osterwunder war, ist und wird sein; es ist das Zentrum der Geschichte.“ Und eben dadurch, daß die christlichen Wahrheiten nirgends als in einer eigenen Sphäre lebende, sondern als Struktur des menschlich-geschichtlichen Lebens selbst erfaßt sind, haben die hier dargestellten Vorgänge oft die dramatische Wucht alter Mysterien. Die Wechselwirkung zwischen Mensch und Gott ist das große Thema des ewigen Weltdramas, das so schlicht wie großartig, so heutig wie ewig sich in diesem Buche abspielt.

          Dies Drama aber ist gekleidet in die Form der Andacht. Das Buch besteht aus einer Sammlung von Andachten, die wir zum Teil schon aus den „Neuen Wegen“ kennen. Aber was sie dort nur vereinzelt aussprachen, worauf sie gleichsam erst hinwiesen, das wird in ihrer Gesamtheit als ein ganz Neues offenbar. In dem tiefen, ursprünglichen Zusammenhang, der ihnen innewohnt, enthüllen sie sich in allem Wechsel und Reichtum als eine strenge Einheit, als ein Gesamtbekenntnis und eine ganze Lehre. Es ist im Grunde Eine große Andacht, ein gemeinsames sich Erheben aus dem Dunkel der Zeit in das Licht der Wahrheit. Und eben weil es Andachten sind, weil sie eine menschliche Gemeinschaft voraussetzen und auf sie abzielen, weil das tiefe Schriftwissen dieses wahrhaft biblischen Geistes sich nirgends als Gelehrsamkeit gibt, sondern sich überall in das schlichte Gewand des Wortes von Mensch zu Mensch verhüllt, weil es ihm um das Offenbarwerden der biblischen Wahrheiten im menschlichen Dasein selbst geht, darum ist die frohe Botschaft, die es uns aus der Ferne der Ewigkeit bringt, unserem Herzen so unmittelbar nahe, uns so unmittelbar ans Herz, ins Herz gelegt. Wahrlich, vor dem Christus, der hier verkündet wird, gibt es kein Ausweichen. Denn es geht allein um die lebendige Fleischwerdung des Wortes. Nicht nur um die einmalige, vorausgesetzte, auf die hier alles gegründet ist, sondern um die Forderung seiner immer wieder neuen Verlebendigung: der Verwirklichung der Sache Christi im Leben der Menschen.

          Es ist prophetischer Geist, der in diesem Buche lebt: Die Wahrheit Gottes ist hier wie in der gesamten Prophetie gemeint als die, die in der geschichtlichen Wirklichkeit sich als unablässiger Aufruf an die Menschen und als immer neu aufbrechendes Gericht über sie offenbart. Das Gericht, das aus dem Versagen der Menschen stammt, wird in seiner ganzen Wucht aufgezeigt. Aber nicht so, daß unter ihm der Mensch in seinem Unwert als bloßes Nichts versänke – sondern das Gericht kann dem Menschen nur darum widerfahren, weil er der ist, dem die Verwirklichung des göttlichen Willens in der Erschaffung des Reiches Gottes aufgegeben ist. Gott entläßt den Menschen nicht aus seinem Dienst. Heute nicht und niemals. „Gott rechnet mit den Menschen.“ Er bedarf ihrer zur Verwirklichung Seines Reiches. So erweist es sich, daß beide Begriffe: das Reich und die Nachfolge, untrennbar zusammengehören; denn es ist die Nachfolge, aus der das Reich sich erbaut.

          Das Reich Gottes, das „hoch über alle Religionen und Kirchen hinweggeht“, dessen Bürge Christus selbst ist, wird uns nicht geschenkt; es bedarf unserer Entscheidung und unserer unbedingten Hingabe. Unsere Freiheit ist die Voraussetzung der göttlichen Gnade, die uns in seiner Verwirklichung zuteil wird. Und eben darum ist dies Buch nicht nur ein machtvoller Aufruf zur Entscheidung – es ist auch bis zum Rande voll überirdischen Trostes. Dieser Trost kommt nicht aus einer Unterschätzung des Grauens unserer Zeit; die unerbittliche Klarheit selbst, mit der hier das Wirkliche geschehen ist, führt ihn mit herauf. Hart und scharf, wie kaum je in der Geschichte, trennen sich heute das Gute und das Böse. Alles, was in früheren Zeiten dumpf verhüllt unter einer Decke trüber Halbwahrheiten schlummerte, das ist heute offenbar geworden. Das Böse tritt in seiner vollen Macht und Herrschaft auf den Plan und macht so erst vollkommen sichtbar, was das Gute ist. „Diese Zeit ist Offenbarungszeit.“

          Das ist der große, unüberhörbare Trost dieses Buches, der auf den Gipfel steigt in dem Wort des Glaubens: „Mitten durch das Krachen des Zusammenbruches tönt Gottes großes Ja.“ Man möchte sagen: es ist inmitten des Unterganges voll von strahlender apokalyptischer Hoffnung. Wie über Dantes Hölle das Geheimniswort steht: „Auch mich schuf die ewige Liebe“, so ist auch hier aller Triumph des Bösen, die ganze Hölle unserer Tage umfaßt von der ewigen Liebe Gottes.

          Darum ist es in allem Wissen um das Urböse, in allem Haß gegen das Böse so fern von Verzweiflung. „Verzweiflung“, so heißt es hier, „ist nur im Element des Endlichen möglich.“ Im Endlichen sind wir verloren. Aber eben diese furchtbare Täuschung des heutigen Menschen, daß wir im Element des Endlichen in Wahrheit auch nur einen Augenblick lang zu leben vermöchten, gilt es ja zu überwinden. Erst der Glaube: die feste Beziehung zum Unendlichen, schließt die Welt. Im Unendlichen, das unsere eigentliche, vom Endlichen nur verhüllte und überbrauste Wahrheit ist, „sind wir sowohl gerichtet wie gerettet.“ Und allem Zweifel und aller Verzweiflung vom Heute verstörter Seelen klingt es so tröstend wie fordernd entgegen: „Wirklicher Glaube hat einen langen Atem.“

          Das Mysterium aber, daß wir so im Glauben unsere Sorge auf den Herrn werfen, ihm alles überlassen sollen und daß wir gerade das nur vermögen, indem wir uns mit unserem gesamten Leben in den Dienst Gottes, und das heißt in den Dienst an unseren Brüdern, stellen – dies Mysterium ist selbst nichts anderes als das Wunder und die Wirklichkeit des Reiches Gottes, um das es in jedem Worte dieses Buches geht.

          Wenn uns in dunkelsten Stunden immer wieder das Entsetzen überwältigen will: zu groß ist der geschehene Abfall vom Bilde Gottes; der Mensch ist hoffnungslos – dann tut es gut, nach diesem Buch zu greifen. Denn der Verfasser hält ja den Blick fest gerichtet auf die Wirklichkeit, nichts von ihrem Entsetzen entgeht ihm. Er weiß um den heutigen Abfall in seiner ganzen Tiefe; er weiß um all die ungeheuren Verbrechen am Menschlichen und Göttlichen, um alle aufgestörten Dämonien unserer Zeit. Aber der Grundton seines Buches ist ein einziges großes Dennoch. Auf den Flügeln des Glaubens stürmt diese machtvolle Seele durch die schwarzen, donnernden Wolken der Zeit – der Taube gleich, die über die versinkende Welt das Ölblatt der Friedensverheißung herüberrettet. Und daß sie uns mit auf ihre Flügel nehmen, daß ist der Sinn dieses kostbaren Geschenkes, für das wir dem Spender nur danken können, indem wir uns mitreißen lassen in den Weg zum Reich: die Nachfolge.