Friedrich Nietzsche von heute gesehen

 

In: Neue Wege 37, 1943

 

Im Steine schläft mir ein Bild, das Bild meiner Bilder!  Ach, daß es im härtesten, häßlichsten Steine schlafen muß! Nun wütet mein Hammer grausam gegen sein Gefängnis.  Vom Steine stäuben Stücke.  Was schiert mich das? Zarathustra

 

Im nächsten Jahre ist es ein Jahrhundert, seit Nietzsche geboren wurde, ein Jahrhundert, dem er in entscheidender Weise seinen Stempel aufgedrückt hat. Aber die Zeichen dieses Aufdrucks sind nicht einfach zu entwirren. Sie sind so zwiespältig und verschlungen, daß der große Nihilist Friedrich Nietzsche das Werk, in dem die Forderung steht: „Nichts wäre nützlicher und mehr zu fördern als ein konsequenter Nihilismus der Tat“, mit dem Wort Dantes geschlossen hat: „Come l’uom s’eterna.“[i]

Damit ist der ganze Umkreis seines Geistes, die ungeheure Weite der Spannungen und Gegensätze, aus denen sein Leben und Denken besteht, umschrieben. Es gibt nur zwei Dinge, diese beiden völlig unvereinbaren Dinge, die Nietzsche zeitlebens beschäftigt haben: die Vollstreckung des Nichts und die Verewigung des Menschen. Darum zerfällt er immer und überall in zwei Hälften, ist es sein Schicksal, sich immer wieder zu spalten, und zwar in zwei Hälften, die nicht zueinander passen und die wir Mühe haben, zu einem Ganzen zusammenzufügen.

Und doch muß es immer wieder versucht werden. Denn die große Grundspannung, in die alle einzelnen Widersprüche und Spannungen seines Wesens und seines Denkens sich einfügen, ist darum für die Welt von so entscheidender Bedeutung geworden, weil sie ein letzter Ausdruck der Lage seiner Zeit selbst war. Denn mögen rein als Denker die großen deutschen Systematiker vor ihm größer gewesen sein (vielleicht erscheinen sie uns aber auch nur so, weil ihr einheitliches, logisch geschlossenes Denken uns noch vertrauter ist) – als geschichtliches Phänomen, als Ausdruck und Ausbruch seiner Zeit, als Vollstrecker eines Weltschicksals kommt ihm keiner gleich.

Nicht umsonst hat Nietzsche in einem Wort seines letzten Werkes, in dem er seines eigene Lage und Tat mit alle ihren Konsequenzen ausgesprochen hat, die heraufkommende Weltwirklichkeit selbst an seinem Namen gebunden: „Ich kenne mein Los. Es wird sich einmal an meinen Namen die Erinnerung an etwas Ungeheures anknüpfen, – an eine Krisis, wie es keine auf Erden gab, an die tiefste Gewissenskollision, an eine Entscheidung, heraufbeschworen gegen alles, was ist dahin geglaubt, gefordert, geheiligt worden war. Ich bin kein Mensch; ich bin Dynamit.“

Mit diesem Wort hat Nietzsche das Schicksal seiner Weltstunde unmittelbar als sein eigenes ausgesprochen. Er war wirklich dies: die sprengende Kraft eines Zeitalters, der Blitz, der notwendig aus der grauen und doch schon mit den ungeheuersten Spannungen geladenen Atmosphäre seiner bürgerliche beruhigten Welt aufzucken mußte, – notwendig, insofern eben dieser Mensch alle Spannungen seiner Zeit in sich trug und bis zum Ende austrug. Denn das wahrhaft Ungeheure dieses Schicksals liegt erst darin, daß er gezwungen war, in der Sprengung seiner Welt sich selbst und alles Eigene zu sprengen, weil das, was er zerstören mußte, sein lebendiges Erbe selbst war. Und die Furchtbarkeit des geschichtlichen Auftrages wird noch weiter verstärkt dadurch, daß zu seiner Vollstreckung das Schicksal wie mit geheimer Absicht sich das zarteste und empfindlichste Gefäß erwählt hatte, damit es, unter der Wucht des ihm Aufgetragenen zerbrechend, seinen Gehalt umso restloser in die Welt verströme.

Nietzsche ist eine der großen Randgestalten der Geschichte. Er steht am Ende einer Epoche. Er ist selbst ihr Ende und auch schon ihr Umschwung: ein einziges ungeheures Würfelspiel des geschichtlichen Daseins um den ihm entgleitenden Sinn. Am Eingang in die Epoche, die in ihm auf ihren steilsten Gipfel steigt und in ihm zusammenbricht, am Ausgang aus der christlich gebundenen Welt des Mittelalters steht eines der unheimlichsten und widersinnigsten Worte, die je ein Denker gesprochen hat, das, indem es blitzartig das Verhängnis des modernen Erkennens überhaupt erleuchtet, wie ein Pfeil auf das Schicksal hinzielt, das sich in Nietzsche erfüllt. Es ist das Wort des etwas früheren Zeitgenossen von Descartes, Campanella: „Wissen ist Entfremdung, Entfremdung ist Wahnsinn, das eigene Sein verlieren und ein fremdes erwerben. Das Wissen weiß die Dinge nicht, wie sie sind, sondern gerade im Wissen rast der Geist wie in ein fremdes Sein verkehrt.“ Dies erschreckende Wort weist auf ein Wissen hin, das im genauesten Gegensatz steht zu dem Wissen des Korintherbriefes: „Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunkeln Wort, dann aber von Angesicht zu Angesicht.“ Dies Wissen, in dem das göttliche Antlitz im menschlichen, das menschliche im göttlichen sich spiegelt, so daß am Ziel beide einander erkennen, ist es, das im jenem Augenblick über einem rein menschlichen Wissen zu erlöschen beginnt. In dem Wort des Campanella erkennt der sich losreißende Geist mit Entsetzen sein Schicksal, von nun an immer weiter hinausschweifen zu müssen in eine unendliche Fremde, jenseits deren ihn keine Heimat mehr ruft, in der er sich selbst und die Dinge nicht mehr in dem dunkeln Wort, das der Spiegel der ewigen Wahrheit ist, sondern nur noch als verlorene, ziellose Träume und Wahnbilder erfassen kann. Mit dieser Erkenntnis beginnt die Epoche, die in dem Wort Nietzsches in die heutige Wirklichkeit einmündet: „Für das Nichts Gott opfern, dies paradoxe Mysterium letzter Grausamkeit blieb dem Geschlecht, welches eben jetzt heraufkommt, aufgespart.“

Nietzsche sah dies Mysterium letzten Grauens, das wir heute um uns her sich erfüllen sehen, noch in der nahen Zukunft. Es war für ihn noch nicht bis zum Ende vollzogen. Letzte sterbende Ausläufer des alten Wissens verstellten noch den nackten Horizont, zu dem er aufbrach.

Immer noch übte die frühere Weise des Erkennens ihre Macht in einer ihr längst entfremdeten Welt aus. Denn das Erkennen von Angesicht zu Angesicht als Zielbild alles Erkennens war viel zu mächtig, um mit einem Schlage, um auch nur in einer langen Zeitspanne ganz erlöschen zu können. Durch viele Jahrhunderte eines immer mehr sich loslösenden Denkens hat sich die christliche Ungewißheit als immer schwächer werdende Lichtspur im europäischen Geist erhalten und ihn noch mit einem langsam schwindenden Schimmer von Göttlichkeit erhellt. Wie zuerst Campanella selbst, so hat das Denken der ganzen auf ihn folgenden Epoche noch den Heimweg zu Gott in irgendeiner Form gefunden. Immer weniger freilich als zu dem wirklichen lebendigen Gott, immer mehr zu einer gedanklich verblassenden „Gottheit“. Schließlich blieb auch von der Gottheit nur noch die gründende Weltvernunft, der „absolute Geist“ übrig, in dem immer noch ein Funke des göttlichen Geistes glomm. Um welchen Preis diese Verflüchtigung des Göttlichen im abendländischen Denken geschah, zeigt ein Wort des zugleich am reinsten gedanklichen und weitaus reichsten deutschen Denkers vor Nietzsche – das Wort Hegels: „Der Geist zeigt sich so arm, daß er sich, wie in der Sandwüste der Wanderer nach einem einfachen Trunk Wassers, nur nach dem dürftigen Gefühl der Göttlichkeit für seine Erquickung zu sehen scheint. An diesem, woran dem Geiste genügt, ist die Größe seines Verlustes zu ermessen.“

Es war Nietzsches Tat, daß er den rein gedanklichen Weg zu Gott, auf dem nur noch dieses dürftige Gefühl der Göttlichkeit zu finden war, mit einem Schlage als einen nicht mehr gangbaren abgeschnitten hat. Diese ebenso gewaltige wie verhängnisvolle Tat stand im Zeichen einer neuen, drängenden Wahrhaftigkeit. Nietzsche gehört zu jener Generation einsamer, an allem Bestehenden verzweifelnder Geister: eines Kierkegaard, Strindberg, Tolstoi, Dostojewski, die alle auf völlig voneinander verschiedenen Wegen, die einen leidenschaftlich für, die anderen wider Gott und Christentum entschieden, das Gleiche suchten: den Weg fort von einem allgemeinen, abstrakten Denken zu einer lebendigen Wahrheit und von einem halb und unwahr gewordenen Leben zu einer wahrhaftigen Wirklichkeit. Sie alle trug die Wahrheit ihrer Gegenwart nicht mehr. Unter ihnen allen wankte der Boden; sie brachen aus in Ungewisses, Unnennbares. Schwermut, Dunkel und Wahnsinn umgab ihrer aller Leben. Es war eine Welt von Zusammenbrüchen und Katastrophen.

Man muß von dieser Generation aus einen Blick auf Goethe zurückwerfen, auf den, wenn auch schon mit tiefer und weiser Vorsicht gewahrten Gleichgewichtszustand, in dem bei ihm Leben und Wissen, Göttliches und Menschliches, Geist und Natur, die objektive Welt und das menschliche Dasein noch standen, um den Höllensturz aller dieser Geister in die Weglosigkeit eines alleingelassenen, rein menschlichen Wissens zu ermessen. Goethe selbst hat in seiner Spätzeit bereits klar die Mündung eines solchen entleerten Wissens in ein sinn- und menschenfremdes Zweckwissen und damit in eine total entleerte Wirklichkeit vorausgesehen und in dem Wort zusammengefaßt: „Es wird durch die Maschine eine neue Welt mit neuen Menschen kommen, die wir nicht mehr verstehen.“

Diese neue Welt mit neuen Menschen, die Goethe als eine Welt ohne jede Möglichkeit zu persönlicher Größe, als eine Welt, in der „eine mittlere Kultur gemein wird“, gekennzeichnet hat und aus der er selbst sich noch mit den schwermütig entschlossenen Worten an den alten Freund Zelter zurückzog: „Laß uns solange wie möglich an der Gesinnung halten, in der wir herankamen“ – diese Welt war es, die Nietzsche für sein Leben und Schaffen allein angewiesen war. Es war eine Welt, aus der er nichts, gar nichts mehr für die Gestaltung dessen entnehmen konnte, was er als obersten Auftrag sich auferlegt fühlte: den Aufbau eines neuen, hohen Menschenbildes. Wohin sollte der in diese Zeit Verschlagene greifen, um das Material zu diesem Bau zu finden? Mußte er nicht, um nicht in eine leere, unfaßbare Zukunft zu greifen, doch wieder zurückgreifen auf Einstiges, Vergangenes? Dieser Angst ist er selbst nie entgangen. Und die Gefahr dazu war um so größer, als gerade dieser Mensch ein überaus mächtiges und vielfältiges geistiges Erbe angetreten hatte. Ganz und gar lebt in ihm die große, überreiche Epoche des deutschen Idealismus und der Romantik; ganz und gar verwirft er sie, ist zugleich ihr Auflöser und Zerstörer. Und sehr viel ursprünglicher und mächtiger noch ist die andere Prägung seines Wesens: die christliche. Von beiden Eltern her der nachkomme einer ganzen Reihe protestantischer Geistlicher, trug er ein mächtiges christliches Erbe im Blut. Das Christentum selbst aber fand er in seiner Zeit und Umgebung nur noch als ein tief gesunkenes, in konventionell, halb und unwahr gewordenen Formen vor. Damit geriet er früh in die allertiefste, schicksalhafteste Spannung seines Lebens: Vom Christentum seiner Zeit aus bekämpfte er zeitlebens mit der ganzen Kraft seines Geistes das lebendige christliche Erbe in seinem Blut.

Einzig das dritte große Erbe schlug er nicht aus. Und gerade mit ihm geriet er in eine zutiefst wirklichkeitsfremde Haltung. Mit Leidenschaft ergriff er die früh sich ihm erschließende Welt der griechischen Antike. In zweifacher Weise wurde sie ihm zum Gegenbild alles dessen, was er verwarf, zum Urbild alles dessen, was er suchte. Der sterbenden christlichen Welt, in der er lebte, stellte er die griechische als eine Welt lebendiger Göttlichkeit gegenüber; der Halbheit und Unschönheit, der Unkultur der deutschen Welt seiner Zeit, and der er qualvoll wie nur noch ein Hölderlin litt, stellte er gleich diesem als Inbegriff der Ganzheit, Wahrheit und Schönheit das Bild jener Kultur gegenüber, die er mit dem überschwenglich schönen Wort einer „verklärten Physis“ bezeichnet hat. Aus dem göttlich verklärenden Zentrum jener Welt wollte er die eigene Gegenwart schöpferisch umgestalten.

Damit hat dieser rein um Wirklichkeit und Zukunft ringende Geist sich für eine Welt entschieden, die eine reine Vergangenheit und als solche in der Gegenwart ein bloßer Traum war. Was Nietzsche in Wirklichkeit hier gewollt, wie der um der Wahrheit willen an jedem Bestande der Menschheit Rüttelnde, der große Skeptiker und kritische Historiker diese völlig ahistorische Wiedererweckung der Göttlichkeit einer längst versunkenen Welt, die er selbst einmal mit Fausts Beschwörung der Helena verglichen hat, in der vollen Wirklichkeit seiner Zeit sich geträumt hat, das wird letzthin nur verständlich aus der Begegnung mit einem andern großen Deutschen, den man für Nietzsche wie für Deutschland gar nicht entscheidend und verhängnisvoll genug sehen kann: mit Richard Wagner.

In mehr als einer Hinsicht ist die Begegnung mit Wagner für Nietzsche entscheidend geworden. Wagner war der einzige große Deutsche, ja (wenn man von Jakob Burckhardt absieht, zu dem aber die Beziehung viel oberflächlicher und vor allem einseitiger war) der einzige große Mensch, dem Nietzsche in seiner Zeit begegnet ist. Mußte schon dies für den so ganz um menschliche Größe Kreisenden ein Äußerestes bedeuten, so wurde die Ehrfurcht vor dem Ausmaß der großen Erscheinung von der Gemeinsamkeit der Gehalte erst lebendig gefüllt. Was den jungen Nietzsche mit Wagner verband, war jeder Wert seines Lebens. Es war einmal die große Metaphysik Schopenhauers, unter der beide sich sogleich wie unter einem Zeichen verstanden. Es war ferner die Schönheit, die Kunst, die Kultur, der Rausch dichterischer Sprache, es war nicht zuletzt Wagners eigenstes Reich: die Musik, die, als die Welt reiner Gesetze ohne Gehalte, am Anfang wie am Ende auch von Nietzsches Lebenserfassung steht, – es war dies Wohnen in einer gemeinsamen geistige Welt, was der Verehrung Nietzsches den festen Grund schuf, was den leidenschaftlichen jungen Denker, der sich von dem gereiften Meister ganz aufgenommen fühlte, fast zu einer Einheit mit ihm zusammenschmelzen ließ.

Und doch war all dies nur erst der Schleier vor einem noch größeren Mysterium, das Nietzsche von Wagner empfing. Es liegt dieser Beziehung als letztes eine Tat Wagners zugrunde, die nicht nur Nietzsches Leben und Schaffen, sondern die ganze deutsche Wirklichkeit zutiefst geprägt hat. Mit Wagner beginnt, nachdem lange schon die Erforschung und Neubelebung der versunkenen Mythenwelt den deutschen Geist erfüllt hatte, die Wiedererweckung des Mythos in der deutschen Wirklichkeit selbst. Hatten bis dahin die Dichter und Forscher, Romantiker wie Klassiker, – sie alle wie Goethe vom anderen Ufer „das Land der Griechen mit der Seele suchend“ – klar den ungeheuren Abstand ihrer Gegenwart von jener alten Götterwelt ermessen und gerade an ihm leidvoll die Leere ihrer geschichtlichen Stunde ausgemessen, so ist bei Wagner diese Kluft mit einem Schlage übersprungen. In dem Augenblick, in dem die letzten Spuren des Göttlichen im gemeinsamen Leben erloschen, in dem Deutschland mit dem ganzen übrigen Europa in eine völlig veränderte Epoche hineinzuwachsen begann, in eben jene Epoche, die Goethe vorausgesehen hatte: in die Welt der Maschine, der Technik, der Industrie, des kahlen Nutzwissens, der Flucht der Menschen vom Lande in die Großstädte, die alles in allem einen nüchternen, betriebsamen, gegen die menschlichen und göttlichen Dinge immer gleichgültiger werdenden Menschentypus hervorbrachte, – in eben jenem Augenblick rauschte aus den Tiefen eines menschenfremden, wirklichkeitsentrückten Nirgendwo, aus dem Abgrund des Nichts selbst, als den Schopenhauer das Leben enthüllt, Wagner es mit metaphysischer Leidenschaft angenommen hatte, in Wagners großer Kunst eine ganze uralte Mythen- und Mysterienwelt empor: Götter und Heldengestalten, von denen die Menschheit seit Jahrtausenden losgerissen war, und verdeckte mit ihrer verführerischen Gewalt alle Wirklichkeiten und Probleme des realen menschlichen Daseins. Es kennzeichnet diese Tat noch tiefer, daß Wagner anfangs von ganz realen Gegenwartsfragen, Fragen der Wirklichkeitsgestaltung, von politischen und sozialen Fragen ausgegangen war, um sich dann plötzlich mit ungeheurer Gewalt in den Venusberg der Kunst zu flüchten, dessen Tore sich für immer hinter ihm schlossen. Aber diese Flucht, durch die, geschichtlich betrachtet, der von Luther begonnene, von der deutschen Romantik weiter verfolgte Weg ins Innere im Taumel des Venusberges endet, hat erst dadurch ihre mächtige Bedeutung und Wirkung bekommen, daß Wagner die Verborgenheit, die die Sphäre alles Romantischen ist, und damit die Innerlichkeit selbst, in ihr zugleich wieder preisgab. Denn indem er sich der Welt, in der er lebte, durch eine Flucht bis weit in die Unendlichkeit, des Inneren und in eine nicht mehr existente Vergangenheit entzog, hat er sich ihr doch zugleich wieder eingefügt und unermeßlichen Einfluß auf sie gewonnen – und zwar durch die Art seiner Kunst selbst: durch die verhängnisvolle Gestalt der Oper. Denn Oper, das bedeutet ja nicht nur den Zusammenklang von Musik und Dichtung, nicht nur das Erwachsen der Dichtung aus dem Flammenkern des Klanges, wie Nietzsche es in seinem Frühwerk dargestellt hat: es bedeutet auch die Schaustellung vor einer großen Menge von Menschen. Nicht vor einer Gemeinde, sondern vor einem Publikum: einer beliebig zusammengewürfelten Menge von Großstadtmenschen hat Wagner in seiner rauschenden Musik die letzten Mysterien des Inneren entschleiert, übergroße Götter- und Heldengestalten heraufgeführt und die bürgerlichen Menschen, die sich mit ihnen identifizierten, sich selbst unkenntlich gemacht. Und dieser trunkene Einbruch einer versunkenen Götterwelt in ein ihr entfremdetes Dasein wurde noch berauschter und verwirrter dadurch, daß es nicht die Götter der griechischen Antike, sondern die scheinbar vertrauteren der germanischen Götterwelt waren, in der das Erlebnis der Nähe sich intensiver noch mit dem dunklen irdischen Rausch des Blutes färbte.

Es zeugt von der ganzen unheimlichen Größe Wagners, daß er den jungen Nietzsche anfangs nicht nur mit seiner Person, sondern auch mit seiner Kunst derart überwältigte, daß er, der den Abstand seiner Zeit von allen göttlich geprägten Kulturen mit so düsterer Klarheit sah, in dieser Kunst die Wirklichkeitsverfälschung nicht erkannte, ihre Götter gläubig aufnahm und ihr mit ganzer Hingabe diente. Und wenn er seinen Irrtum auch bald schon einsah und die Irrkunst und Irrlehre Wagners mit Leidenschaft, ja mit Raserei bekämpfte – die Spuren des gewaltigen Erlebnisses, das Wagner ihm vermittelt hat, sind für immer in sein Leben und Werk eingezeichnet geblieben.

Wie tief dies Erlebnis sich mit seiner noch früheren Beziehung zur griechischen Antike verschlungen hat, zeigt sein Frühwerk „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“, in dem die Motive sich seltsam mischen. Einmal ist darin mit genialem Blick aus Schopenhauers Metaphysik die Welt der griechischen Tragödie und damit die griechische Welt überhaupt in seither unverlierbarer Weise neu gedeutet; und zugleich ist darin mit einem kühnen Sprung das Gesamtkunstwerk Wagners als Erfüllung des griechischen Kunstzieles aufstellt. In diesem so wunderbaren wie bizarren Werk geschieht aber vor allem die für Nietzsches ganzes Leben und Denken entscheidende Entdeckung jenes Gottes, den wir von nun an bis ans Ende als den Schlüssel zu allen Verborgenheiten, den Faden durch alle Labyrinthe seines Denkens wiederfinden: die Entdeckung des Dionysos, des Gottes der Tragödie, der Musik, des Rausches, des Schöpfertums, des rauschhaften Lebens selbst. Dieser aus ferner Vergangenheit emporgeschöpfte, ausdrücklich gegen Christus gestellte Gott ist insofern zugleich ein eminent gegenwärtiger, als er immer und überall die Züge dessen trägt, der ihn heraufbeschworen hat. Er ist also keineswegs ein dichterisches Fabelwesen, sondern er vertritt genau die letzte, gedanklich nicht mehr aussprechbare Wahrheit seines Erweckers. Nietzsche beschreibt ihn in seinem Frühwerk mit den tragisch erleuchtenden Worten: „In seiner Existenz als zerstückter Gott hat Dionysos die Doppelnatur eines grausamen, verwilderten Dämons und eines milden, sanftmütigen Herrschers.“

Wenn Nietzsche es so Wagner verdankt, daß in seinem Denken als tiefstes Zeichen und letztes Begründung an Stelle eines abstrakten Begriffes der Name eines Gottes tritt, so mußte doch auch gerade von diesem Gott aus der entscheidende Bruch mit Wagner erfolgen. Sobald Nietzsche den Opercharakter von Wagners Götterwelt durchschaute, mußte vor dem Lebens- und Todesernst seines eigenen Gottes die Verbindung mit Wagner bis zum Grund zerreißen. Dies Geschehen, das mehr als sein halbes Leben mitriß, war selbst eine zerreißende dionysische Tragödie, wie sie sich jedem seiner entscheidenden Lebensschicksale in verwandelter Weise ausprägt. Die Keulenschläge, mit denen er von nun an Wagner und sein Werk traf, waren eine reine Selbstzerstörung. Wie tief und unaufhebbar er sich mit Wagner identifiziert hatte, darauf weist ganz erst eine Äußerung aus der Zeit seines Wahnsinns hin. Aber es war eine Einswerdung eben nicht nur in jenen dumpfen, unbewußten Schichten, der der Wahnsinn bloßlegt; sie ging vertikal durch alle Schichten seines Wesens hindurch; er war ja mit Wagner gerade in einer Sphäre eins geworden, in der ihm das Ur- und Zielbild seines Lebens aufgeleuchtet war. Der Gott, der ihm aus dieser Verbindung erwachsen war, blieb für immer das Zentrum seines Lebens.

Aus der unheimlichen Selbstspaltung, die er so im Namen seines Gottes vollzog, ist das Werk erwachsen, das Nietzsche im räumlichen wie im geistigen Sinne von der Eisgrenze des Lebens aus in die Welt sandte: „Also sprach Zarathustra“. Aber dies Werk schließt nicht einfach an jenes frühe an. Zwischen der Geburt der Tragödie und dem Zarathustra liegen Werke, die eine einzige grausame, zerstörende Kritik an allen Werten und Wahrheiten sind, die die Welt je hervorgebracht hat. In ihnen sehen wir den Nihilisten Nietzsche, der die Vollstreckung des Nihilismus, vor dem ihm graute, sich selbst auferlegt fühlte, mit voller Wucht am Werk. Aus einer Raserei des Wahrheitssinnes, wie sie so nur einmal in der Geschichte erschienen ist, verwirft er alles und jedes, was Menschen an Erkenntnissen und Einsichten gefunden, als Ideen erblickt, als Gesetze über sich gestellt haben. Nichts ist ihm unbedingt, nichts rein, nichts göttlich genug. Hinter allem sieht er verhehlte Wünsche und Absichten und jene geheim schwelende Rachsucht verborgen, die er auf den Namen Ressentiment getauft hat. Wahrlich war in jenem Augenblick im europäischen Leben vieles reif zum Fallen, und nicht umsonst heißt es im Zarathustra: „Was fallen will, das soll man auch noch stoßen“. Aber Nietzsche bekämpfte nicht nur bestimmte ohnehin sich auflösende Wahrheiten; er wollte eine ganze, lange und tief eingewurzelte europäische Gesinnung zu Fall bringen. Darum hat er hier den Kampf gegen alle, aber auch alle göttlichen und menschlichen Wahrheiten aufgenommen. Er greift hinter sie alle zurück, um hinter ihnen mit einer wahrhaft dämonischen Psychologie das „Allzumenschliche“ sichtbar zu machen und sie so als absolute Wahrheiten zu zerstören. An Stelle jeder festen Wahrheit tritt eine weißglühende, alles Bestehende zu Asche brennende Wahrhaftigkeit. Ein durchaus göttlicher Wahrheitssinn raste ins Dämonische verkehrt wider alles Göttliche, das je Gestalt geworden war. Selber des Göttlichen voll in widergöttlicher Zeit und zugleich tief in seine Auflösung hineingerissen, steht dieser Geist unter dem Zwang, es zu verschenken und zu zertrümmern zugleich, nimmt er in seiner Wahrheitsraserei ganz die Züge des grausamen, verwilderten Dämons an, der wider die herrscherliche Milde und Sanftmut seines eigenen Wesens rast. Es ist unfaßlich, wie er diese Zerstörung ausgehalten hat. Denn auch hier ging es ja durchaus um eine reine Selbstzerstörung. Wie sein Gott Dionysos zerstückt wurde, so zerstückte er in diesem Erkennen sich selbst. Aber eben wie sein Gott Dionysos wurde er auch aus dieser Zerstückung wieder neu geboren. Diese Wiedergeburt ist der innerste Kern des Zarathustrabuches.

Der Zarathustra ist nach Nietzsches eigenem Wort „mit einem Fuß jenseits des Grabes geschrieben“. Zerstörung und Neugeburt, Gestorbensein und Auferstehung ist sein ganzer Sinn. In ihm erhebt sich der Phönix der Wahrheit aus der Asche, zu der er sich selbst verbrannt hat. Nietzsche selbst hat später den Nerv dieses Buches bloßzulegen und seinen tief paradoxen Charakter zu begründen unternommen, indem er den frühen Perser Zarathustra, dem er seine Wahrheiten in den Mund legte, als den Schöpfer der Moral gekennzeichnet hat, der eben als solcher auch allein „den Irrtum der Moral überwinden“ könne. „Denn“, so fügt er hinzu, „Zarathustra ist wahrhaftiger als sonst ein Denker.“ Indessen so sehr dies auf ihn selbst zutrifft, so sehr er der Immoralist aus Moral, der Leugner aller Wahrheit aus Wahrhaftigkeit war, es ist im Zarathustra unterhalb dieser rationalen Vorgänge und Motive noch eine andere, dunklere Kraft am Werk. Die letzte Triebfeder dieses aus unterster Tiefe aufschäumenden Werkes ist wiederum eine dionysische: jene dunkle, verborgene Kraft des „Stirb und werde“, die als das Geheimnis der Verwandlung dem Saatkorn und allem schöpferische Lebendigen eingeboren ist. Nur dies: das Mysterium lebendiger Verwandlung konnte der Grund dieses unablässigen, ganz und gar lebendigen Umschlagens einer Wahrheit in die andere und damit aller der ungeheuren Spannungen und Widersprüche sein, aus denen dies Werk wie in einem Wirbel sich erbaut.

Das Buch vom Übermenschen, vom höchsten, alles Menschliche übersteigenden Menschenbild geht aus von einer Menschenverachtung, die das „Moi haissable“ Pascals insofern noch übersteigt, als hier das Erniedrigende, Haßenswürdige des Menschen nicht von Gott aus, sondern nur von der Natur aus begriffen wird. Der Mensch wird definiert als Tier, als das böseste, leidendste, freilich auch das interessanteste Tier. Der Mensch ist also nicht liebbar. Beim Menschen darf es nicht bleiben. „Der Mensch ist etwas, was überwunden werden muß.“ „Was geliebt werden kann am Menschen, ist, daß er ein Untergang und ein Übergang ist“ – Untergang des Menschentieres, Übergang zu einer Gestalt, die mehr als Mensch ist. So, im Wirbel tödlicher Menschenverachtung und rauschhafter Menschenbejahung bis ins Göttliche empor, wird in Sterben und Auferstehung über die Seele seines Schöpfers hinweg der Übermensch geboren.

Aber dieser Wirbel wird erst wahrhaft tödlich dadurch, daß er nicht nur unter sich den Abgrund zerreißender menschlicher Skepsis, sondern daß er über sich keinen Himmel, kein Firmament mehr hat, aus dem alleingelassenen Menschen der Schimmer eines Sternes zu seinem überschweren Aufstieg leuchten könnte. Der Übermensch hat zu seiner ausdrücklichen Voraussetzung den Tod Gottes. Der Zarathustra ist ebenso die Totsagung und der Grabgesang Gottes, wie er die Geburtsstätte des Übermenschen ist. Die dunkle Grabmusik des gestorbenen Gottes rinnt mit dem ersten Jubelschrei des sich vergöttlichenden Menschen zusammen. Beides ist ein Geschehen. Unmittelbar tritt an die Stelle des gestorbenen Gottes als der, der sein Erbe antreten soll, der göttliche Mensch, der Übermensch.

Wie Nietzsche das verstanden hat, zeigt in großer Schlichtheit eine frühere Stelle: „Es gibt einen See, der es sich eines Tages versagte, abzufließen, und einen Damm dort aufwarf, wo er bisher abfloß: seitdem steigt dieser See immer höher. Vielleicht wird gerade jene Entsagung uns auch die Kraft verleihen, mit der die Entsagung selber ertragen werden kann; vielleicht wird der Mensch von da an immer höher steigen, wo er nicht mehr in einen Gott ausfließt.“

Es handelt sich also um eine Hybris ohnegleichen: um den unerhörten Versuch, den Menschen gerade durch die Absage an Gott zur Göttlichkeit zu steigern. Und doch lebt auf dem Grund dieser Hybris unverkennbar eine leidenschaftliche Demut. Denn diese Absage ist ja Entsagung. Und zwar eine Entsagung von so schmerzlicher Gewalt, daß sie es ist, die zum Quell höchster Kraft, einer Kraft zum Ertragen des Verlustes selbst erden soll, die den Menschen zum Göttlichen steigert.

So wird im Sich-Losreißen von Gott zugleich die ganze Tiefe der Wunde sichtbar. Und wahrlich: keiner hat wie der, dem es gewiß war, daß die europäische Menschheit Gott verwirkt, daß sie durch ihr Leben und Wissen Gott zu Ende gelebt, ihn getötet habe, die ganze Größe und Entsetzlichkeit dieser Tat, den Abgrund der Menschheitsschuld in ihr ermessen. „Wir haben ihn getötet – ihr und ich! Wir alle sind seine Mörder! Aber wie haben wir dies gemacht? Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was taten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Gibt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? ... Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder? Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besaß, ist unter unseren Messern verblutet – wer wischt dies Blut von uns ab?“

Mit Mörderhänden, mit vom furchtbarsten aller Morde befleckten Händen also greift die Menschheit nach dem neuen Leben, das ihr aufgegeben ist. Mit so grauenvoller Finsternis hat der Künder eines neuen Lebens ihren Weg belastet. Wohl gibt es bei Nietzsche, bei dem nichts ohne seinen Gegensatz auftritt, auch den Jubel über den Tod Gottes; aber er hat nichts von der ungeheuren Gegenwärtigkeit des Schmerzes. Es ist der von Schreien zerrissene Jubel der Geburt des neuen Menschen, dessen, was erst werden soll, neuer unendlicher Möglichkeiten für Leben und Erkennen.

Denn eben von hier, von diesem zentralen Ereignis aus galt es, alles Bisherige zu sprengen. Es was Nietzsche gewiß, daß nach dem Tode Gottes nichts, schlechterdings nichts im Leben der Menschen beim alten bleiben könne und dürfe. Von dieser Gewißheit aus mußte jede alte Wahrheit umgestoßen, jeder bisherige Wert umgewertet, mußte alles Leben umgelebt, mußte ein Äußerstes, völlig Ungewisses gewagt, mußte der Mensch selbst umgestaltet werden. Woher aber sollte, wenn Gott aufgegeben war, dem Menschen die verlorene Göttlichkeit wieder zuströmen? Wie konnte die Entsagung einem Gestorbenen gegenüber umschlagen in lebendige Göttlichkeit? Dazu mußte eine tiefere, mächtigere Macht, eine macht der Umgeburt, Neugeburt aufgerufen werden. Und Nietzsche rief sie auf. Er gibt die gefahrvolle, den Menschen und alles Menschliche in einen Strudel hinabreißende Antwort: Die Göttlichkeit soll dem Menschen wiederkommen aus dem Leben.

Damit erklärt Nietzsche das Leben als göttlich in einem Augenblick, in dem, wie er selbst mit so voller tödlicher Klarheit wußte, der letzte Schimmer von Göttlichkeit aus dem Leben der Menschen gewichen war, wo ein wurzelloses, von der Maschine und allen ihren Begleiterscheinungen entseeltes und entmenschlichtes Leben, wie Goethe es vorausgesehen hatte, wirklich geworden und schon weit übertroffen war. Aber Nietzsche schöpft seinen Begriff des Lebens nicht so sehr aus der Geschichte, aus dem eigentlich menschlichen Leben wie aus der unterhalb seiner gelegenen dunkleren Sphäre der Natur. Und doch war er als Begriff ein geschichtlicher. Denn Leben – das war der Begriff, der damals im Gegenschlag gegen die wachsende Mechanisierung und kahle Rationalisierung der Zeit in verschiedenen Formen an vielen verschiedenen Orten zugleich im Geiste heraufstieg und die alte Wahrheitserfassung, in der das Denken den Vorrang gehabt hatte, umstürzte. Wenn wir uns aber fragen: Was ist das: Leben? so geraten wir in einen Wirbel. Denn es zeigt sich: wir können diesen Begriff nicht eindeutig bestimmen. Es ist in ihm keine Auswahl, kein Prinzip. Das Leben umschließt alles. Es kann alles sein und nichts. Es ist im Grunde nur ein Zeichen für das unserem Denken nicht mehr zugängliche Geheimnis, das uns überall umgibt und das wir selber sind. Mit dem Leben an Stelle des Denkens kommt so an Stelle einer klaren, vorgegebenen Ordnung ein bestimmungsloses Chaos, es kommt aber auch in ihm an Stelle des abstrakten Geistes der ganze lebendige Mensch herauf. Leben bedeutet also ebenso das Zerbrechen jedes festen Denkgerüstes, den Sturz des Geistes ins Bodenlose wie den Durchbruch des zentralen Kernes des menschlichen Daseins. Leben und Leben ist nie dasselbe; dies Wort bestimmt sich im Munde dessen, der es ausspricht. Aber wie sprach dieser Mund es aus! Mit welchem Klange der Inbrunst und Leidenschaft hat Nietzsche das Wort Leben zu sich verwandelt und in seinem Nichts das All gefunden! Kein Wort ist fähig, auszusprechen, was er hier sah. Ohne Nietzsches wahrhaft dionysische Lebenserfassung ist hier überhaupt nichts zu erkennen. Einzig der trunkene Gott gibt auch hier den Schlüssel. Die brausende Fülle des Göttlichen, die mit ihm in das Leben eingeströmt ist, ist das, was Nietzsches Lebenserfassung von allen anderen Lebenserfassungen seiner Zeit scheidet. Was mit dieser Vergöttlichung geschehen ist, wird erst ganz klar an Nietzsches Stellung zu Schopenhauer. Er hat dessen düstere Lebenskonzeption, die das Leben als bare Sinnlosigkeit und qualvolles Leid verwarf, nicht abgelehnt oder auch nur umgebogen; er hat sie in ihrem vollen Umfang angenommen. Aber zugleich hebt er mit einer gewaltigen Geste dies vollkommen sinnverlassene, von Leid und Nacht und Nichts randvolle Leben als Becher aller Fülle an den Mund, erhebt er es so zum absoluten Wert. Damit ist alles verändert. Der Mensch entzieht sich nicht dem Leben, sucht nicht wie bei Schopenhauer in Mitleid, asketischer Läuterung und reinem Schauen aus ihm emporzusteigen, sondern er gibt sich vorbehaltlos den Gewalten das Lebens preis; er will das Leben bestehen. Er hat ihm nichts, gar nichts entgegenzusetzen als wiederum die Macht des Lebens selbst, die in ihm in zusammengepreßter Wucht und Fülle emporsteigt, und der er, indem er sie sich kraft ihrer unterwirft, den Stempel menschlich-schöpferischer Macht aufdrückt. Das bedeutet Nietzsches Wort: „Das Leben ist Wille zur Macht und nichts außerdem.“

Wir sehen dies Wort wie eine riesenhafte schwarze Wolke über der Menschheit aufsteigen. Und viel Untergang ist in ihm, wenn es auch, von Nietzsche selbst aus gesehen, grauenhaft mißverstanden worden ist. Dem, was heute Wille zur Macht heißt, steht der lebendige Schöpferwille des Lebens, wie Nietzsche ihn in diesem Begriff gefaßt hat, gegenüber, wie einer rasselnden Riefenmaschine eine lebendig lodernde Flamme. Oder wie einem todkalten Zerstörungswahn die heiße Frühlingssonne, die aus jedem kahlen, dunklen Ding machtvoll die in ihm angelegte Form herausreißt. Und doch ist in diesem glühend schöpferischen Lebensbegriff deutlich auch schon die wachsende Roheit der Zeit am Werk. Auch er ist ein doppelgesichtiger, der dadurch zum furchtbarsten Verhängnis geworden ist, daß nur sein eines Antlitz in der geschichtlichen Wirklichkeit sich ausgeprägt hat. Die Züge des milden, sanftmütigen Herrschers der reinen, segnenden Lebensbejahung, die er tief in sich trägt, blieben im Inneren von Nietzsches Schicksal verschlossen, die des grausamen Dämons chaotischer menschenfremder macht traten allein nach außen, und durch das Gefäß des sanften und hohen Geistes, der das Wort prägte, bricht eine der ungeheuersten Dämonien der Geschichte sich Bahn. (Schluß folgt.)

 

Nietzsche von heute gesehen.

(Fortsetzung und Schluß.)

 

Man muß einen Blick zurückwerfen auf den Lebensbegriff Goethes, um den ungeheuren Verlust an Menschlichkeit und damit auch an wahrhaftiger Göttlichkeit in dem strömend reichen Lebensbegriff Nietzsches zu erkennen. Als der vogelkundige Eckermann Goethe von den Vögeln erzählt, die nicht nur ihre eigenen Jungen, sondern auch hilflose fremde Vögel füttern, von dem alten Hänfling, der das fremde Rotkehlchen bei sich bei sich aufnimmt, von der Grasmücke, die wie eine Mutter für eine ganze Schar fremder Vögel sorgt, da antwortet Goethe: „Wäre es wirklich, daß dieses Füttern eins Fremden als etwas allgemein Gesetzliches durch die Natur ginge, so ... könnte man mit Überzeugung sagen, daß Gott sich der jungen Raben erbarme, die ihn anrufen.“ Und als Eckermann ihm dies Gesetz durch weitere Beispiele bestätigt, da bricht Goethe in das Wort aus: „Wer das hört und nicht an Gott glaubt, dem helfen nicht Moses und die Propheten. Das ist es nun, was ich die Allgegenwart Gottes nenne, der einen Teil seiner unendlichen Liebe überall verbreitet und eingepflanzt hat.“

Von diesem Kein menschlicher Göttlichkeit, göttlicher Menschlichkeit, der für Goethe zu einem Gottesbeweis in der Natur, im Leben selbst wurde, ist in dem Lebensbegriff Nietzsches, der reiner Wille zur Macht ist, nichts übrig geblieben. Es ist das sinnverlassene Leben in seiner ganzen chaotischen Wildheit und Grausamkeit; die aus ihm selbst geschöpfte Vergöttlichung durch den Menschen, der nur sein höchster Ausdruck und Gipfel ist, hat mit der Göttlichkeit, die Goethe im Leben angelegt fand, nicht mehr gemein. Der Gott, den es bezeugt, ist Dionysos, „ein Ungeheuer von Kraft“. Dies Leben ist nicht länger liebevoll, hilfreich, gut; es ist „jenseits von Gut und Böse“. Dadurch wird es zum Taumel. Denn das Verhängnisvolle ist nicht, daß Nietzsche dem schwächlichen, halben Menschen seiner Zeit, der weder gut noch böse war, entgegen das Böse machtvoll wieder in sein Menschenbild einbezieht – das tut auch das Alte und das Neue Testament und jede wahrhaft tiefe Weltdeutung – das ganz und gar Verhängnisvolle ist, daß er zwischen Gut und Böse keine Entscheidung legt, keine Überwindung oder auch nur Verwandlung fordert, sondern daß er beide, und zwar nicht nur mit gleichen Rechten, neben- und miteinander bestehen läßt, daß er vielmehr das Böse als steigernde, mächtigere Kraft und als die schwerer zu erfüllende Aufgabe dem hohen, schöpferischen Menschen mit weit größerer Strenge auferlegt.

Im „Zarathustra“ heißt es: „Es ist mit dem Menschen wie mit dem Baume. Je mehr er in die Höhe und Helle will, um so stärker streben seine Wurzeln erdwärts, abwärts, ins Dunkle, ins Böse.“ In diesem Wort, in dem nach Nietzsches Überzeugung ein letztes, nur den Wenigsten zugängliches Mysterium geschichtlichen Daseins sich ihm erschlossen hat, ist er, der von seiner lebendigen Erfassung des Ganzen aus zeitlebens den übermäßigen Anspruch der Einzelwissenschaften in seiner Zeit bekämpft hat, dennoch der seinem Lebensbegriff so gefährlich nahe liegenden, rein naturwissenschaftlichen Erkenntnisweise verfallen. Denn es ist ja mit dem Menschen nicht wie mit dem Baume; dies rein biologische Wachstumsgesetz reicht für die Erfassung des inneren menschlichen Wachstums nicht aus. Auch diese Gleichsetzung hat in unserem Leben ihre unheilvollen Früchte getragen.

Im Rückblick vom Heute auf das Damals zeigt sich der furchtbare Ernst des halb scherzhaften Volkswortes, daß man den Teufel nicht an die Wand malen soll. Denn genau dies hat Nietzsche getan: auf die graue Wand seiner Zeit hat her das flammende Bild eines Lebens jenseits von Gut und Böse und damit einer widermenschlich-dämonischen Macht aufgemalt. Damals war es ein Bild von hoher, leuchtender Schönheit. Gebannt und verzaubert starrten die Menschen es an. Aber es konnte nicht Bild bleiben. Indem Nietzsche das Böse als bejahte Lebensmacht in sein Menschenbild aufgenommen hat, hat er es unmittelbar zum Leben entbunden und damit das Gute maßlos überwältigt. Denn man kann den schönsten, holdseligsten Engel an die Wand malen; dadurch verändert sich nicht notwendig etwas in der Wirklichkeit. Der Teufel aber, den man an die Wand malt, bleibt nicht Bild; er gewinnt unverzüglich Leben, steigt herab in den realen Raum, in das Leben selbst, mischt sich mitten unter uns. Denn das Böse hat eine andere Beziehung zum Leben als das Gute. Und es ist genau diese verschiedene Beziehung zum leben, die Nietzsche in seiner Gleichsetzung beider verkannt hat. Ein anderer hat sie erkannt, als er befahl: „Widerstehet nicht dem Bösen! Wenn jemand dich auf die rechte Backe schlägt, so halte ihm auch die linke dar!“ Denn das bedeutet: „Gebt dem Guten Macht im Leben, die Macht, die es von sich aus nicht hat! Denn im Leben, im bloßen, blinden Leben ist es vollkommen machtlos. Gebt ihm seine eigene, nur ihm eigene, aus einer völlig anderen Quelle: aus der menschlichen Entscheidung für es stammende Macht, damit es dem Bösen von sich aus selbstherrlich, herrlich begegne! Denn das Böse wuchert, es ist dynamisch, es wuchert rein lebensmäßig, sobald es nicht beschnitten wird, es bedarf keiner Pflege, weil es im Leben weit gewaltigere Wurzeln hat.“ Darum ist in dem rein biologischen Bild vom Baum, der gleich stark nach unten wie nach oben wächst, das Verhältnis von Gut und Böse zum Leben in seinem echten Verhängnis gar nicht begriffen; denn sie stehen unter verschiedenen Gesetzen.

Und noch ein weiteres Gesetz hat Nietzsche in diesem Zusammenhang verkannt: der Teufel sinkt. Er hat eine Tendenz nach unten. Nicht umsonst ist die Hölle unter uns, das absolute Unten. Der Teufel kann seine Anfangsgestalt im fortlaufenden Leben nicht wahren; er wird je mehr Macht er im Leben gewinnt, um so lasterhafter, hemmungsloser, niedriger, schmutziger, gemeiner. Daß der Weit- und Tiefblickende dies Gesetz nicht einmal ahnungsweise gesehen hat, liegt daran, daß er auch das Bild des Bösen nach seinem eigenen Bilde formte. Denn wohl kannte er das Böse als Dämonisches, war er selbst ein von allen Dämonien menschlicher Leidenschaften und menschlichen Schöpfertums geschüttelter Mensch. Aber er kannte es nur als echte Dämonie. Nietzsche konnte rasen, zerstören, zweifeln und verzweifeln, er konnte das Heilige lästern, blasphemisch verspotten (freilich nicht, ohne es sogleich wieder als dennoch Bejahtes in den großen Götterreigen des Lebens aufzunehmen); aber er, der das Gute wie das Böse in gleich strenge Zucht nahm, wußte nichts von dem Schmutz, der dem wild wachsenden Bösen unweigerlich sich anhängt. Ganz und gar fehlte ihm der Sinn für das Niedrige, Gemeine. Das Wort, das Goethe Schiller nachgerufen hat:

 

„Und hinter ihm in wesenlosem Scheine

Lag was uns alle bändigt: das Gemeine“,

 

hätte auch über Nietzsches Grab gesprochen werden können. So ist noch seine Reinheit, die hohe und zarte Güte, die jeder, der ihm je begegnete, erschüttert erlebte, in diesem Augenblick der Welt zum Verhängnis geworden. Ihm, dem es als das am schwersten zu Verwirklichende erschien, war das Böse nicht eine niedrige, erniedrigende, sonder eine hohe Kraft. Im „Willen zur Macht“ steht das Wort: „Der mächtigste Mensch, der Schaffende, müßte der böseste sein, insofern er sein Ideal an allen Menschen durchsetzt gegen alle ihre Ideale und sie zu seinem Bilde umschafft. Böse heißt hier: hart, schmerzhaft, aufgezwungen.“ Hart, schmerzhaft, aufgezwungen erscheint ihm das Böse immer, im Gegensatz zum als selbstverständlich erlebten Guten. So rückt ihm das Böse ganz auf die Seite des Starken, Edlen, während das Gute zum Schwachen, Geringen, ja Erbärmlichen wird. Ja, das Böse wird als Inbegriff der Selbstüberwindung zum innersten Antrieb schöpferischer Güte selbst. Und gewiß ist es wahr, daß die volle, die starke, die schöpferische Güte – und alle wahrhafte Güte ist schöpferisch – nicht denkbar ist ohne das Böse. Wer hat das besser gewußt als der, der mit Sündern, mit Zöllnern und Dirnen am Tisch faß, ganz gewiß nicht nur aus Erbarmen, sondern weil er hier – wo hebt sich das unsterblicher ans Licht als in der Erzählung von der Sünderin, die seine Füße wäscht und alle ihre Kostbarkeiten über ihn ausgießt? – die größeren menschlichen Möglichkeiten, das tiefere Aufgerissensein des Grundes, die schrankenlosere Hingabe, die heißere, schmerzlichere Lebensfülle fand? Und auch nur darum ist sicher über einen Sünder, der Buße tut, im Himmel mehr Freude als über neunundneunzig Gerechte, weil die ganze Fülle der Gnade nur dem wird, dem sie über den dunkelsten Abgrund herüberstrahlt.

Dies inbrünstige Wissen um die größere Tiefe des von den dunklen Kräften zu sich selbst entbundenen Lebens hat auch Nietzsches Erfassung des Bösen deutlich bestimmt. Aber nun mit dem gewaltigen Unterschied, daß für ihn das Tiefste des Lebens nicht Umkehr und Buße, sondern das Schöpferische ist. Damit ist das Gute nicht das Ziel, dem letzthin auch das Böse dient, auf das es durch die Umkehr hindurch gerichtet ist; sondern der ziellos fortstürzende Lebensstrom selbst drängt durch seine Gewalt das Böse wie das Gute an den Rand: das tiefste Leben in seiner Kraft und Fülle ist jenseits von Gut und Böse. Und an die Stelle des Schriftwortes: „Es ist dir gefragt, o Mensch, was gut ist“ tritt das Wort Zarathustras: „Was gut und böse ist, das wissen wir noch nicht.“

Auf beide Gedanken aber: das Gute und das Böse vom vollen Leben aus zu entwerten, wie das Böse sorgfältiger, strenger als das Gute im Menschenleben zu züchten, konnte Nietzsche nur in einem Augenblick verfallen, wo beide: das Gute wie das Böse, im Leben der Menschen so schwach und jämmerlich geworden waren, daß sie kaum mehr zu unterschieden waren. Aus der Lauheit seiner Zeit, im Gegenschlag gegen sie, ist sein Traum von einem heldisch starken, an Kräften des Bösen wie des Guten reichsten Menschen erwachsen, der – und das ist das Entscheidende – die unbedingte Herrschaft über seine Kräfte besitzt und aus ihnen sich selbst und das Leben schöpferisch umgestaltet.

Konnte Nietzsche aber wirklich glauben, in dieser seiner Zeit eine Basis für die Verwirklichung dieses hohen, rein sich selbst gebietenden Menschen zu finden? Sah er nicht die Mächte, die ihm niederziehend entgegenwirkten? Eins jedenfalls hat er erkannt, das diesen Traum in seiner Seele hätte brechen müssen: mit Entsetzen sah er das Anwachsen des „schamlosen Handelsgeistes“ in seiner Zeit. Und was seinen reinen Willen in ihr am mächtigsten verkehrte, in ihr unaufhaltsam das Böse zu sinken zwang, war, daß der Erfüllung seiner in eine neue Wüste der Menschheit geworfenen Gesetze nicht wie einst in der größten Öde der Wüstenwanderung jenes Wunder entgegenkam, das die Menschheit frei hielt für ihren Weg: eine Himmelsnahrung, die nicht einen Tag lang aufbewahrt werden durfte, sondern das genaue Gegenteil. Die verwirrenden Lebensgesetze Nietzsches kamen zu den Menschen in einem Augenblick, in dem das Bewahren, die Aufhäufung der Güter in einem nie vorher gesehenen Maße Selbstzweck geworden war, in dem die Geldwerte sich immer mehr von den Sachwerten gelöst und damit eine unbedingte Herrschaft über Leben und Seelen angetreten hatten, in dem damit der Handelsgeist immer mehr den letzten Rest von Scham einbüßte.

Aber so sehr dreht sich hier alles, daß gerade auch als Antwort auf diese Lage, als Ausweg aus ihr, der neue, hohe Mensch gemeint ist. Denn auch aus ihr hat Nietzsche eine tief verhängnisvolle Konsequenz gezogen. Er, der nach Gemeinschaft sehnsüchtigste Mensch, gab, da er erkannte, daß in einer Welt wie dieser echte Gemeinschaft unmöglich sei, ihre Gestaltung als ganze preis. Um der Unmöglichkeit echter Gemeinschaft willen riß er sich selbst, riß er den hohen Menschen aus jeder Gemeinschaft heraus und stellte ihn unter ein neues, einsames, vereinsamendes Gesetz. Denn der Übermensch jenseits von Gut und Böse ist nicht das gesetzlose Wesen. Gegen dies nahe liegende Mißverständnis (das ihn etwas mit Stirners grob materialistischem „Einzigen“ gleichsetzen würde) hat Nietzsche sich immer wieder mit leidenschaftlicher Hoheit verwahrt. Er ist vielmehr als rein Gestalt göttlich schöpferischen Lebens das Wesen, das kein Gesetz mehr außer sich hat, das alles Gesetz in sich gezogen hat, das selbst Gesetz, unerbittliches Gesetz seiner selbst geworden ist. „Furchtbar“, heißt es im „Zarathustra“, „ist das Alleinsein mit dem Richter und Rächer des eigenen Gesetzes. Also wird ein Stern hinausgeworfen in den Raum und den eisigen Atem des Alleinseins.“ Und selig, gelöst, als erfülltes Gesetz schildert die gleiche Lage das Gedicht „Sternenmoral“, in dem die einsamste Seele sich Mut zusingt in der ungeheuren Dunkelheit, in der sie kreist:

 

Vorausbestimmt zur Sternenbahn

Was geht dich Stern das Dunkel an?

Roll’ selig hin durch deine Zeit!

Ihr Elend sei dir fremd und weit!

Der fernsten Welt gehört dein Schein;

Mitleid soll Sünde für dich sein!

Nur ein Gesetz gilt dir: sei rein!

 

Mit dieser Flucht in die reine Sterneneinsamkeit hat er der Welt das Dunkel hinterlassen. Aus Ekel wich er vor dem nahen, Häßlichen, das aus seiner Zeit auf ihn eindrang, zurück. Er glaubte der Welt den größeren Dienst zu erweisen, wenn er über das dunkle Nahe hinweg einer lichten Zukunft sein Licht schenkte. Das ungeheure Problem der in die Geschichte heraufdrängenden Hauptmassen der Menschen, die ein Christoph Blumhardt mit dem alle Dämonen bannenden Wort begrüßte: „Sie sind einmal da; Gott segne sie!“, hat Nietzsche aus Ekel vor der Masse, in der er nichts als Pöbel sah, abgewiesen. Er erkannte mit Empörung die wachsende Entrechtung der Arbeiter; aber er wollte das Problem nicht in der geschichtlich gegebenen Gestalt lösen, weil ihm diese widerstrebte. Wie sein Bild vom höchsten, vom Übermenschen, so war auch sein Bild vom geringsten Menschen: vom Armen, außergeschichtlich, zeitlos, fast legendär. Eine wirtschaftliche Neuordnung, wie sie aller Sozialismus als notwendige Grundlage erstrebt, erschien ihm als eine Entwürdigung der Arbeiter; er verlangte, daß sie sich unmittelbar auf ihre Menschenwürde besännen; daß sie sich nicht als Klasse, sondern als Stand konstituierten, wie er überhaupt eine ständische Ordnung verlangte als Abbild einer Hierarchie der Ideen, deren Zerfall er doch so gründlich mitbewirkte. Überall schiebt sich vor die gewaltige Klarheit seiner geschichtlichen Fernblicke eine eigentümliche Zwiespältigkeit und Unwirklichkeit im Nahen, dem der sein volles Licht zu verweigern scheint. Die Widersprüche sind bestürzend. Als der freie Weltbürger, der er ist, bekämpft er leidenschaftlich den Nationalismus, überschüttet er den Rassegedanken mit Spott und Hohn, und als Verkünder des Willens zur Macht bejaht er den Expansionsdrang der Völker und versucht ihr Recht auf Eroberungen. Ganz und gar Internationalist, ist er zugleich leidenschaftlicher Militarist; einzig den freien Heroismus des Einzelnen wollend, bejaht er die widerheroische, allversklavende allgemeine Wehrpflicht, und ganz auf eine neue hohe Kultur gerichtet, wünscht er eine Zukunft, in der jeder dritte Mann Soldat sei. Die große Bedeutung der sozialen Frage erkennend, verwirft er den Sozialismus, in dem er nichts als Pöbelherrschaft sieht; da ihm allein auf aristokratischer Grundlage eine hohe Kultur möglich scheint, er aus diesem Grunde sogar die Sklaverei der antiken Welt bejaht, scheint ihm die Stellung der Arbeiterfrage die Voraussetzung der Kultur selbst zu zerstören, und während er einerseits durchaus die Lage der Arbeiter würdiger zu gestalten sucht, findet er andererseits als Kritik an einer Gesellschaft, die die Arbeiterfrage zugelassen hat, ein so furchtbar reaktionäres Wort wie dieses: „Will man Sklaven, so ist man ein Narr, wenn man sie zu Herren erzieht.“ Auf dem gleichen Grunde des Widerspruches beruht, daß er, der Europa und die Internationale will, die Demokratie verwirft.

Aber überall schießen durch das Dickicht der Problemverwirrung im Nahen wahrhaft gewaltige Blicke in das Ganze der kommenden Weltentwicklung hindurch. Nietzsche hat nicht nur den Nihilismus als das unausweichlich heraufkommende Weltschicksal erkannt, er hat nicht nur für das kommende Jahrhundert Kriege und Revolutionen von nie dagewesenem Ausmaß vorausgesagt, er hat auch das Positive einer werdenden Wirklichkeit, wie sie erst heute vor unserem Blick sich zu umreißen beginnt, in Worten wie diesen vorweggenommen: „Es naht sich unabweislich, zögernd, furchtbar wie das Schicksal, die große Aufgabe und Frage: Wie soll die Erde als Ganzes verwaltet werden? Und wozu soll ‚der Mensch’ als Ganzes – und nicht mehr ein Volk, eine Rasse – gezogen und gezüchtet werden?“ Und dieser Frage entsprechend sieht er mit nicht minder scharfer Witterung: „Die große Politik, Erdregierung in der Nähe; vollständiger Mangel an Prinzipen dafür.“ Um dieser fehlenden Prinzipien willen hat er auch im Politischen den Traum von einer Auslese starker schöpferischer Menschen, einer hohen Elite, einer freien Herrenschicht jenseits von Gut und Böse geträumt, der er, wie sich selbst, das Mitleid als schwächende macht versagte. Er hat sich nicht die Frage vorgelegt, ob in einer rapide sinkenden Zeit eine solche Auslese hoher, rein sich selbst verwaltender Menschen auch nur denkbar sei, ob nicht in ihr die Forderung der Mitleidslosigkeit in nackte Unmenschlichkeit münden müsse. Schon für ihn selbst, der sie auf seinem Gebiet rein zu verwirklichen rang, war, freilich aus dem entgegengesetzten Grunde, die einzige Möglichkeit dazu das vollkommene Sich-Zurückziehen von den Menschen. Die ganze Urgewalt dessen, was er mit dieser Forderung in sich selbst zurückdrängte, wird in dem Augenblick seines Zusammenbruchs sichtbar, in dem der große Verneiner und Verächter des Mitleids, der sich vor der Nähe der Menschen in die eisigste Einsamkeit geflüchtet hatte, jäh auf offener Großstadtstraße in einem Ausbruch rasenden Erbarmens unter wild hervorstürzenden Tränen einen alten, wundgepeitschten Gaul umarmte.

Aus solchem Abgrund des Mitleidens ist auch allein sein vielleicht entsetzlichstes Wort zu verstehen: „Das Leidenkönnen ist das Wenigste: darin bringen es schwache Frauen und selbst Sklaven oft zur Meisterschaft. Aber nicht an innerer Not und Unsicherheit zugrunde gehen, wenn man großes Leid zufügt und den Schrei dieses Leides hört, – das ist groß, das gehört zur Größe.“

Der tiefste Grund der Selbstqual und des unheimlichen Kampfes, zu dem Nietzsches Leben und Denken immer mehr wurde, ist, daß er im Christentum nur blasse, schwächliche Lebensverneinung sah, daß er gerade die Mächtigkeit des christlichen Gedankens völlig verkannt hat. Dadurch hat sich das, was als Wille zu einer neuen Wirklichkeit, als echter Reichswille in ihm lebte, von seinem christlichen Erbe losgerissen und ist umgeschlagen in den Willen zur leeren Macht, aus dem heraus er das Christliche in sich selbst wie in einem unablässigen seelischen Selbstmord bedrängte und zerstörte.

Aber wie weit ihn die Forderung: „Mitleid soll Sünde für dich sein!“ aus der Menschenwelt heraus, in eine Einöde trieb – in dem Reimwort: „Der fernsten Welt gehört dein Schein!“ ist noch eine andere, weitere Ferne gemeint. Die fernste Welt, der allein der einsamste Stern leuchten will, ist weder eine räumliche noch eine zeitliche Ferne; sie ist überhaupt keine Wirklichkeit mehr; sie ist als die „ewige Wiederkunft des Gleichen“ ein gewaltiges metaphysisches Bild. Nicht ein gedankliches System, sondern das Gegenteil jedes Systems, nicht ein sinnvoller Aufbau, sondern eine Verewigung des Sinnlosen. Was konnte aber Nietzsche dazu bewegen, das Gleichnis der Pythagoräer, von der ewigen Wiederkunft aller Dinge, diese längst verklungene kosmische Sphärenmusik, in einem so anderen Augenblick, in dem sie in einer vom kahlen Verstandeswissen so gründlich ernüchtern, vom Lärm der Technik durchbrausten Welt gar nicht mehr zu vernehmen war, als seine eigenste Wahrheit wieder aufzunehmen?

Nietzsche hat diese Musik nicht einfach vernommen und wieder aufgenommen; er hat sie nicht nur einer ihr feindlichen Zeit, er hat sie auch noch sich selbst und seinem eigenen Grauen vor ihr abgerungen. Als sie ihm zuerst aufging, da war es nicht als das still ihm entgegensinkende Sternbild der Wahrheit, als das er sie später feierte, sondern in einem Entsetzen, das ihn zu Boden warf. Denn die Vorstellung von der ewigen Wiederkehr des Gleichen, in der nichts Neues Geschehen kann, die Freiheit, Erneuerung, Erhöhung, alles, um das es Nietzsche letzthin ging, ausschließt, die immer nur in riesigen Ringen die gleichen Lebenskonstellationen hervorbringen kann, mußte gerade seinem Geist das schlechthin Unerträgliche sein.

Und doch ist sie von Nietzsches Lebenserfassung aus logisch, von einer unheimlichen und furchtbaren Logik, die ihn auf die Knie zwang, ohne daß er sich dieses Zusammenhanges bewußt wurde. Oder vielmehr: er sah ihn von der entgegengesetzten Seite. Jean Paul, der so vieles gesehen und vorausgesehen hat, was kein andrer Geist seiner Zeit sah, hat in einem Schreckenstraum „vom Weltall, über dem kein Gott mehr sei“, genau die Konzeption Nietzsches in dem Bild vorweggenommen: „Und die Ewigkeit lag auf dem Weltall und wiederkäuete sich.“ Genau diese Vision, die für Jean Paul noch ein furchtbarer Traum war, aus dem er erwachen durfte, ist in einer endgültig von Gott abgestürzten Welt die Vision von der „ewigen Wiederkunft des Gleichen“. Nietzsche hat sie umgekehrt begründet. „Wer nicht an einen Kreisprozeß des Alls glaubt, muß an einen willkürlichen Gott glauben.“ Um den Gott, den er nicht loswerden kann, der sich ihm überall aus der erfahrenen Wirklichkeit wieder aufdrängt, endgültig auszuschließen, um allein zu sein mit dem Leben, erschafft er das Bild einer rein irdischen Ewigkeit.

Dieses Alleinsein mit dem Leben ist teuer bezahlt; es ist bezahlt mit dem Sinn. Das alleingelassene Leben ist in all seinem dionysisch brausendem Überreichtum von grauenhafter Leere, leer wie der Wille zur Macht, dem es entspringt. Es ist das Gesetzlose, das Gesetz, das Sinnlose, das Sinn, da Chaos, das Gesang geworden ist. Aber damit war für den großen Sinnsucher in diesem Ring der Sinnlosigkeit doch zugleich Unendliches gerettet. Es war einmal das Ethische, das, nachdem er es aus allen Positionen vertrieben hatte, hier in einer Absolutheit ohnegleichen wiederkehrte. Denn mit der ewigen Wiederkehr des Gleichen entfiel ja auf jeden Augenblick des Lebens die unausdenkbare Verantwortung: jeden Augenblick so zu leben, daß man seine Wiederkehr in alle Ewigkeit hinein wollen kann. Nur dies Übermaß von Verantwortung konnte dem rasenden ethischen Bedürfnis Nietzsches, aus dem heraus er erst gezwungen war, alle Werte der Menschheit zu zerstören, zur Wiederherstellung der tödlich verletzten ethischen Sphäre genügen.

Aber nicht minder war es das entgegengesetzte Bedürfnis seines Wesens, das im tiefsten Sinne ästhetisch, das in einer Welt qualvoller Unschönheit und zerstörter Ganzheit hier eine ihm in der Wirklichkeit versagte Erfüllung fand. „Alles erlöst und heilt sich im Ganzen“, damit hat Nietzsche das Erlösende dieses Weltbildes für seinen Geist ausgesprochen. In diesem schwebenden Gleichgewicht des Ganzen lösten sich ihm alle Widersprüche und Spannungen des Lebens auf, wurde alles leicht, schön, gegenwärtig. Alles trägt und hält einander, alles wird Tanz und Reigen. Alle Gewichte des Lebens haben ihr Gegengewicht gefunden: Werden und Vergehen, Sterben und Auferstehen, Luft und Leid; nichts ist nun vergeblich gewesen, nichts fällt aus der Welt heraus. Jedes Haar auf meinem Haupte ist gezählt, kein Sperling fällt vom Dache ohne den Willen des ganzen vergöttlichten Lebens. Diese Ganzheit ist Musik, eine einzige, schwebende, wirklichkeitsenthobene Musik. Und so spricht es dieser schwermütigste Geist in der Tat aus: „Wir fürchten uns nicht vor der Kehrseite des Dinge, wir sind Musiker.“ Er war wirklich Musiker, das heißt er vertauschte in einer Sphäre, in der sie ihr Gewicht und ihren Gehalt verlieren, Seite und Kehrseite der Dinge; er konnte noch Harmonien, Versöhnungen sehen, wo er Mächte der Zerstörung aufgerufen hatte, die in Wahrheit vor nichts Halt machen. Wie er die Mächte des Guten und Bösen in einer neuen menschlichen Göttlichkeit glaubte versöhnen zu können (mit beängstigender Unwirklichkeit hat er es ausgesprochen: „Cäfar mit der Seele Christi“), so sah er in einer Welt ohne Schwere und Bedeutung alle Urspannungen seines Lebens sich lösen, fühlte er so die Welt und mehr sich selbst leicht, schwebend, drehend werden: in Reigen, Musik, Tanz.

Musik, Tanz, Reigen – damit ist die Übersetzung der Wirklichkeit in eine Sphäre ausgerückt, die in jenem Augenblick zum letzten Mal in der abendländischen Welt möglich war. Diesem spätesten, leidendsten Geist war es am Rande der Zeiten noch vergönnt, „die Flöte des Dionysos“, wie er es von Wagner vergeblich verlangt hatte, zur Weltmusik zu stimmen – , zu jener Musik, die nach dem herben Wort des späteren Dichter-Denkers Kafka für uns bis in alle Tiefen hinunter abgebrochen ist.

Was bedeutet aber dies alles? Was liegt dieser Vertauschung der Wirklichkeitssphären, dieser rauschhaften Musik, diesem Weltentanz und Wirbel als erlebte, gelebte Wirklichkeit zugrunde? Es ist wieder, und nun auf seinen steilsten Gipfel geführt, das schrankenlose Ja Nietzsches zu allen Dingen des Lebens, mit dem er über Luft und Leid, über Gut und Böse, ja, über Sinn und Unsinn hinweg, den Sinn und Unsinn und Widersinn des Lebens selbst ans Herz drückt. Aber es ist mehr als dies: zu dieser Bewältigung und Überwältigung des Äußersten reicht das bloße Jasagen nicht aus. Was hier in Wahrheit gefordert ist, ist die Verwandlung des Daseins selbst in ein einziges, über alles Eigene hinwegstürzendes Ja – vielleicht allein vergleichbar dem Ja des achtundneunzigsten Psalms, mit dem der Mensch sich über sein eigenes Dasein hinweg dem Gericht über alles Leben als der Gerechtigkeit Gottes entgegenwirft. Nur daß hier alles umgekehrt ist dadurch, daß dies Selbstopfer nicht der Gerechtigkeit, dem ewigen Sinn alles Weltgeschehens gilt, sondern der vollkommenen Sinnlosigkeit, so daß der Mensch durch sein Opfer selbst den Sinn erste erschaffen muß. Und das meint in der Tat die Forderung, die Nietzsche an sich selbst stellt: „das Ja zu allen Dingen selbst zu sein“. Mit dieser Selbstverwandlung des Denkers in seine Wahrheit, die eine Sinnschaffung im Sinnlosen, eine Neuwerdung der Wahrheit selbst ist, ist erst der innerste Sinn des Zarathustra: die lebendige Auferstehung der Wahrheit aus ihrer Verneinung und Vernichtung, erreicht.

Aber weil es eine Auferstehung aus dem Grabe jenseits ihres Gestorbenseins ist, kann sie nicht mehr dieselbe, die objektive, absolute Wahrheit sein. Die ewige Wiederkehr des Gleichen kann nur verstanden werden, wenn man festhält, daß die Wahrheit als absolute aufgelöst ist, daß darum jedes Ja sein Nein, jedes Nein sein Ja mit sich führt, daß so, anders noch als in jeder Dialektik des Denkens, alles Endgültige, Eindeutige der Wahrheit immer wieder vernichtet wird. Mit Nietzsche erst treibt die Wahrheit hinaus auf das entfesselte Meer aller Gegensätze, nimmt sie ganz die Gestalt an, als die der große Dialektiker Hegel die vollendete Wahrheit schaute, wird sie zu „dem bacchantischen Taumel, an dem kein Glied nicht trunken ist“. Und in diesem großen Taumel, diesem unendlichen Dich-Drehen der Wahrheit, dieser von der Flut des losgebundenen Lebens schrankenlos durchspülten und aufgelösten Wahrheitsmusik (wie anders klingt sie nun als der stille, selige Sphärengesang der Pythagoräer!) fühlt Nietzsches dunkler Geist sich ganz aufgenommen, wirft er, den Ekel vor der Leere und Sinnlosigkeit seiner Vision überwindend, sich über den Abgrund seines eigenen Selbst hinweg der rein irdischen Ewigkeit als seiner einzigen Geliebten in die Arme:

„Oh, wie sollte ich nicht nach der Ewigkeit brünstig sein und nach dem hochzeitlichen Ring der Ringe – dem Ringe der Wiederkunft? / Nie fand ich noch das Weib, von dem ich Kinder mochte – es sei denn dieses Weib, das ich liebe; denn ich liebe dich, o Ewigkeit!“

Pate aber stand bei diesem unerhörten Vorgang der Wiedervergöttlichung eines radikal entgöttlichten Daseins, der persönlichen Wiedergewinnung der als objektiver verlorenen Wahrheit wiederum Dionysos, der Gott des Taumels, des Rausches, der Tragödie, der Musik, alles brausend Ästhetischen. Nietzsche selbst, der ja durchaus ein Wirkliches wollte und meinte, hat, ohne sie rückgängig machen zu können, immer wieder tief die damit geschehen Vertauschung der Wirklichkeitssphären empfunden. Denn wie hätte er es je vergessen können, daß er selbst in seinem Frühwerk den Gott Dionysos als den eingeführt hatte, der nur in Augenblicken im tragischen Spiel und Schein die Menschen von der Wirklichkeit erlöst? Nun aber zieht er diesen Gott, den er sucht, den er will, den er in diesem Augenblick wie ein Ertrinkender zur letzten Rettung braucht, in einer rasenden, beschwörenden Umarmung als wirklichen Erlösergott in das Leben hinein. Aber er tut es, wie allein das Göttliche lebendig zu machen ist: indem er sich ihm mit seinem ganzen Leben hingibt, indem er sich ihm opfert, indem er sich dem Gott zu seiner Verlebendigung hinschenkt. Dieser Vorgang ist in seinem Werk vor allem ausgedrückt im „Zarathustra“ und im „Ecce homo“; in Nietzsches Leben selbst ist er in mythenfremder Zeit – das empfanden alle, auch die bescheidensten Menschen, die ihm begegneten, unterhalb der verbergenden Schlichtheit seines Wesens mit tiefem Schauder – zu einer mythischen Wirklichkeit geworden.

Wenn wir dieser Wirklichkeit bis zum Ende nachgehen, wird der Preis, den Nietzsche für sein in jedem Sinn übermäßiges Denken gezahlt hat, klar, wird damit auch das klar, was die einander widersprechenden Hälften seines Wesens dennoch zu einer tiefen Einheit verbindet und was, über alles heute Kritisierbare seines Werkes und selbst über alles heute sichtbar gewordene Verhängnis seiner Wirkung hinweg, für uns zu einem unverlierbaren Wert geworden ist. Indem er die doppelte Flucht in das Nichts durch seines zerreißende Skepsis wie in eine rauschhaft unwirkliche Sphäre vollzog, hat er zugleich der Wahrheit eine neue, tief bezwingende Gestalt geschenkt. Es ist nicht mehr die objektive allgemeine Wahrheit; die hatte sich für ihn unwiederbringlich aufgelöst, es ist die Wahrheit, die ein Antlitz, ein Menschenantlitz gewonnen hat, das uns aus einer abgründigen Tiefe des Lebens und des Leidens anblickt. Nie vorher hatte die Wahrheit eines Denkers derart ein Antlitz, war sie in einem solchen Maße Person geworden, unabtrennbar von ihrem Schöpfer, war so die leibhaftige Person des Denkers selbst seine Wahrheit.

Was immer Nietzsche an Kräften der Zerstörung und des Taumels in unserer Welt entbunden hat, es bleibt dennoch unverlierbar seine Tat: daß er in einer Zeit, in der das Denken endgültig sich von seinem Ewigkeitsursprung gelöst und dessen letzten Spuren in sich verwischt hatte, in der es überhaupt weder mehr nach Gott noch nach dem Menschen, in der es nur noch nach Naturgesetzen und Denkprinzipien fragte, die Frage nach dem lebendigen Gott und nach dem lebendigen Menschen neu mit unmittelbarer Gewalt gestellt hat. Dionysos, Übermensch, ewige Wiederkunft – das alles sind nur Zeichen dafür, daß Nietzsche das Denken von seinem leer und leblos in sich fortlaufenden, entmenschlichten und entgöttlichten Wesen erlöst und daß er ihm sein eigenes Selbst zu seiner Wiederbelebung, zu seiner Vermenschlichung und Vergöttlichung eingesenkt hat. Am Ausgang aus der Epoche, die durch das Wort eingeleitet wird, daß das antlitzlose Wissen Entfremdung, Verlust des eigenen Selbst und damit Wahnsinn ist, steht dieser rasende Versuch eines nun wirklich in den Wahnsinn hinaustreibenden Denkers, in letzter Stunde aus innerster Mitte die Rückkehr des Geistes aus der Fremde noch einmal zu erzwingen. Hier zum erstenmal wird im Denken wieder ein Angesicht sichtbar, das mit seiner zentral lebendigen Wahrheit machtvoll auf das versunkene Angesicht hinweist. So greift dies Denken, das eine Epoche auflöst, zugleich hinter die ganze Epoche zurück und läßt, indem es in tief gewandelter Form an sie anschließt, an ihrem entegengesetzten Rand in blutigem Schein ein dunkles und verzerrtes, aber ein brennend wahrhaftiges Menschenantlitz aufleuchten.

Insofern ist Nietzsche, der sich den Antichrist nennt, der es weithin auch war, der christlichste unter den modernen Denkern. Sein Denken selbst ist ein christliches, in seiner Form christlich geprägtes, obwohl der Gott, den dieser gottsehnsüchtigste Geist in ihm erweckte, für ihn ausdrücklich der Gegengott gegen Christus, der heidnische Gegenpol des versunkenen Christus ist.

Aber Pole – das sind die beiden entgegengesetzten Enden derselben Erscheinung und insofern zugleich untrennbar verbunden, ja eines und dasselbe. So ist auch dieser unendlich entfernte, ihm ausdrücklich entgegengesetzte, traumhaft aus einer individuellen Seele aufgestiegene und darum unwirklich Gegengott gegen Christus unabtrennbar von ihm in jedem Sinne, nicht nur sein Gegenpol, sondern auch nur dem Namen nach ein vorchristlicher Gott, weil er Christus tief in sich trägt.

Nietzsche hat diese Zusammengehörigkeit nicht zugegeben; er blieb bis zuletzt bei der Feindschaft seines Gottes gegen Christus. Noch in seinem Schlußwerk, das den Titel „Ecco homo“ trägt, lautet das letzte Wort – anschließend an sein früheres: „Der Gott am Kreuz ist ein Fluch auf das Leben, ein Fingerzeig, sich von ihm zu erlösen; der in Stücke geschnittene Dionysos ist eine Verheißung des Lebens: er wird ewig wiedergeboren und aus der Zerstörung heimkehren“ – : „Dionysos gegen den Gekreuzigten!“

Aber zugleich wird ihm die Entscheidung aus den Händen gerissen: Er erblickt den gemarterten Gott, der seine Züge trägt, nicht als den zerstückten Gott, sondern als den gekreuzigten. Dionysos am Kreuz – nun sieht man erst, wie ungeheuer sie einander gleichen. Dieser Dionysos ist nicht der vorchristliche Griechengott; er ist durchaus ein nachchristlicher Gott, gespeist mit dem Blute Christi. Aber er ist nicht der wirkliche Christus; er ist Christus in einem anderen Weltaugenblick: Christus nach dem Tode Gottes – Christus in Zeichen des Gestorbenseins ohne Auferstehung, Christus im Zeichen des Nichts.

Das Kreuz, das er floh, steht unwiderruflich am Ende. Es steht auch über Nietzsches eigenem Endschicksal. Die letzten zwölf Jahre seines Lebens hat er, dem kaum zwanzig kurze, von schwerer Krankheit verstörte Schaffensjahre vergönnt waren, in unheilbarem Wahnsinn verbracht. Und gleichviel ob dieser Wahnsinn einer physischen oder einer psychischen Erkrankung entsprang: er hat ihn, mit dem Wort seines Freundes Overbeck, „sich selbst zugelebt“.

„Ich spreche mein Wort, ich zerbreche an meinem Wort“, darin ist das Schicksal Nietzsches beschlossen. Daß er sein Wort nicht nur gesprochen hat, sondern daß er an ihm zerbrochen ist, daß es weit über alle nur gedachte und erkannte Wahrheit hinaus Wirklichkeit geworden ist, daß sein Leben selbst nichts anderes war als der Vollzug seiner Wahrheit, das ist sein echtes Vermächtnis. Und in diesem, einzig und allein in diesem Sinne einer neuen, schrankenlosen denkerischen Echtheit: daß ein Denker seine Wahrheit nicht nur gedacht, nicht nur erkannt und bekannt hat, sondern daß er lebendig in sie eingegangen ist, daß er so einen Menschen in seiner Wahrheit und seine Wahrheit in einem Menschen verewigt hat, dürfen wir uns das Wort seiner gebrochenen und fast schon wahnsinnigen Stimme zu eigen machen: „Erst von mir an gibt es wieder Hoffnungen.“

 

 

 



[i] Wörtlich: Wie der Mensch sich verewigt. D. R.