Moses Mendelssohn und seine Entscheidung. Zur Tragödie des deutschen Judentums

 

In: Neue Wege 40, 1946

 

Von Moses Mendelssohn und seiner Entscheidung sprechen heißt von Entstehung, Schicksal und Wesen des deutschen Judentums sprechen. Denn dieser eine Mann hat für die Befreiung der deutschen Juden aus dem Ghetto, und das heißt für die Entstehung der Lebensform, die wir im eigentlichen Sinne deutschen Judentum nennen, nicht weniger, ja, in gewissem Sinne mehr getan als die gesamte Französische Revolution mit ihrer gewaltigen Wirklichkeitsumwälzung für das übrige Weltjudentum. Es ist gerade darum wohl begreiflich, daß in dem Augenblick, in dem diese Lebensform in einer Katastrophe ohnegleichen zusammengebrochen ist, ein hartes Urteil über den Mann gesprochen worden ist, in dem sie ihren Anfang genommen hat, daß eine heutige christliche Theologie von einer ganz anderen Weltschau als der eines Lavater und Lessing aus ihn ablehnt, daß aber besonders die Juden der anderen Richtungen: der Orthodoxie und des Zionismus vor allem, sich mit Leidenschaft von ihm abgewandt und seine Führerschaft bedingungslos verneint haben.

Und doch liegt darin nicht nur eine Verkennung des großen und seltenen Mannes – es liegt darin auch eine Verkennung des Diasporaproblems und der Gesetze des geschichtlichen Daseins überhaupt. Ist es möglich und richtig, in Mendelssohn nichts anderes als den Initiator eines Irrweges zu sehen, weil dieser Weg heute ein jähes und furchtbares Ende gefunden hat? Müssen wir uns, den Gesetzen des geschichtlichen Daseins nachgehend, nicht vielmehr fragen, ob etwas, das heute vielleicht reif war zum Fallen, das jedenfalls von einem ungeheuren Sturm abgerissen worden ist, damals nicht vielleicht reif war zur Blüte, zu einer Blüte von einmaliger und besonderer Art?

Deutsche Juden – das war freilich ein eigentümliches und vielfältiges, ein problematisches und schicksalsträchtiges Gebilde, das vielleicht kein Jude eines anderen Landes je ganz begreifen konnte, dem vor allem das in sich geschlossene Ostjudentum immer fremd und fast feindlich gegenüberstand. Es war eine aus zwei verschiedenen geistigen Welten gewobene Einheit, die so tief, so fest und durchdringend gesponnen war, daß sie in dem Augenblick, in dem dies plötzlich von ihr gefordert wurde, nicht mehr aufzulösen war, ohne daß das ganze Gewebe zerriß.

Wenn man, ganz abgesehen von Aussagen über eine Verwandtschaft zwischen deutschem und jüdischem Geist und Wesen, die heute schwer aufrechtzuerhalten sind, nach den geschichtlichen Gründen für diese besonders festgesponnene Einheit fragt, so stößt man gleich zu Beginn auf eine entscheidende Tatsache: die nämlich, daß das deutsche Judentum, anders als das der anderen europäischen Länder, vom Geist aus, eben durch die Tat einer geistigen Persönlichkeit begründet worden ist. Aus dieser seiner Entstehung ist sowohl die soziologische wie den psychologische Struktur des deutschen Judentums zu begreifen. Denn seine soziologische Zusammensetzung, weicht von der der anderen Länder dadurch ab, daß wir gleich von Anfang an, schon in den Zeiten schwerster äußerster Bedrückung und Unfreiheit, in den obersten gesellschaftlichen Schichten Juden finden. Aber auch psychologisch hat die Tatsache, daß es in der Sphäre des Geistes begründet worden ist, das deutsche Judentum in besonderer Weise geprägt: aus ihr stammt die eigentümliche Wirklichkeitsblindheit der deutschen Juden, ihre restlose Selbstidentifizierung mit einem Lande, das sie in seiner Wirklichkeit nie vorbehaltlos aufgenommen hat. Die deutschen Juden waren recht eigentlich der Don Quichotte der deutschen Wirklichkeit: sie sahen nicht, sondern sie liebten und träumten. Sie setzten sich, bevor ihnen die deutsche Wirklichkeit auch nur um einen Spalt breit geöffnet war, in die deutsche Geisteswelt rückhaltlos mit Geist und Herz, mit Leistung und Tat ein. Ein besonders klares Beispiel für solchen alles Wirkliche überfliegenden Selbsteinsatz ist schon eine Tat von Mendelssohn selbst, und sie ist dies um so mehr, als er sonst mit großer Klarheit die Wirklichkeiten zu erkennen und gegen einander abzuwägen wußte: er, der arme, aus dem Dessauer Ghetto eingewanderte Jude, der in Berlin, in Deutschland überhaupt, bürgerlich ganz im Leeren hing, brachte aus Liebe zur deutschen Sprache sein Leben in Gefahr, indem er, was kein Deutscher gewagt hätte, Friedrich den Großen öffentlich wegen seines Gebrauches der französischen Sprache tadelte.

Diese ebenso seltsame wie großartige Tat führt uns, indem sie uns in die Eigenart des deutschen Judentums hineinführt, zugleich mitten in Leben und Geistesart dieses einzigen Mannes hinein. Wer war Moses Mendelssohn? Wer war dieser ebenso bescheidene wie entschiedene, ebenso mutige wie zurückhaltende Mann, der eine so einzigartige geschichtliche Wirkung ausgeübt hat? Wie können wir uns in diesem Augenblick, auch noch abgesehen von seinem Werk und seiner Leistung, die uns heute in jedem Sinne fern liegende und fremd gewordene Gestalt dieses Mannes selbst vergegenwärtigen? Es hat seit Mendelssohns Zeit, sogar die unmittelbar auf ihn folgende Epoche der Romantik mit ihrem radikalen Umschlag gegen die Zeit Mendelssohns nicht ausgenommen, keine Zeit gegeben, die ihm schwerer Gerechtigkeit widerfahren lassen, ihn schwerer in seiner Eigentümlichkeit begreifen konnte als die unsere. Die ganze Struktur unseres Lebens, unser Empfinden, unser Denken, unser von grausamsten Erfahrungen, von unablässigen katastrophalen Verschiebungen des Wirklichen erschüttertes und geschütteltes Dasein mit seinen erschreckenden Einsichten und Durchsichten in ungeahnte geistige und reale Welten ist fast brückenlos von dem Dasein und Denken Moses Mendelssohns getrennt. Wie sollen wir heutigen Menschen einen Zugang finden zu dieser Gelassenheit, dieser Stille, dieser Klarheit, dieser Milde, dieser Sicherheit und Reife, diesem Frieden und dieser menschlichen Unerschütterlichkeit eines Mannes, der von Haus aus ein bettelarmer, heimatloser, in jeder äußeren Hinsicht vom Leben schwer benachteiligter Jude war? Wie können wir, die schon an sich einer so geschlossenen, menschlichen Erscheinung fremd und zweifelnd gegenüber stehen, wir, die soviel Untergründiges gelernt und begriffen haben, die soviel von der schweren Schädigung der Menschen durch ihre äußere und innere Situation, durch Existenzkampf, Ächtung, Verletzungen jeder Art wissen, – wie können wir das Unfaßliche begreifen, daß der durchsichtig lauteren Menschlichkeit dieses Mannes keine Spur der ursprünglichen Wunden, der durch seine Herkunft immer wieder zwangsläufig wiederholten Verletzungen aufgeprägt blieb? Daß an ihm keine Narben des Lebens sichtbar waren? Erscheint uns, die wir der beängstigenden Problematik und Zerrissenheit menschlichen Daseins so tief auf den Grund geblickt haben, der feste, reine Umriß dieser Gestalt nicht wie eine wirklichkeitsfremde, der letzten menschlichen Wahrheit ermangelnde Stilisierung?

Aber sobald wir ihm und seinem Leben näherten, fühlen wir unmittelbar, daß es mit einer solchen bloß formalen Erfassung diesem Manne gegenüber nicht getan ist, daß wir in ihm auf wahrhaftiges, und mehr: auf aus der letzten Tiefe der Wahrheit und Wirklichkeit gelebtes Leben stoßen. Es ist nicht allein seine gewaltige zeitgenössische und geschichtliche Wirkung, die uns die Vorläufigkeit eines solchen Urteils zeigt – eine Wirkung, wie sie nur von mächtigen und verhängnisvollen Naturen ausgeht, – es ist nicht minder die deutliche Empfindung, die uns aus jedem von Mendelssohns geschriebenen wie gesprochenen Worten, aus jeder seiner Entscheidungen und Handlungen, ja, aus jeder der zahlreichen Anekdoten über sein Leben, und mit all dem aus dem Ganzen seines Daseins anweht: daß die Wahrheit, und zwar gerade die gelebte, die lebendig verantwortete Wahrheit – der Lebensatem dieses Daseins selbst war. – Wo müssen wir also ansetzen, um das Eigentliche und Wesentliche dieser Gestalt zu begreifen, die sich durch die glatte unzugängliche Geschlossenheit ihres Umrisses jedem Ansatz von außen ursprünglich zu verschließen scheint? Es ist klar, daß wir die Wahrheit dieser uns fremdgewordenen Erscheinung nur berühren können, wenn wir uns nicht nur in Mendelssohns persönliches Leben zurückversetzen, sondern auch in den geschichtlichen Zeitpunkt, in dem dies Leben möglich und wirklich war.

Und da zeigt sich uns etwas eigentümlich Klärendes: der geschichtliche Augenblick, in dem Moses Mendelssohn lebte, war seine Begnadung selbst – eine Begnadung freilich, die, wie alle Gnade, keineswegs ein bloßes passiv hinzunehmendes Geschenk war, sondern die eben nur von dieser einen Persönlichkeit so ausgeschöpft zu werden vermochte. Aber ohne diese eigentümliche geschichtliche Begnadung könnten wir uns niemals ein Leben zum Verständnis bringen, in dem nicht nur die qualvollsten äußeren Umstände zu einem Quell der Selbstgestaltung und inneren Härtung wurden, sondern in dem auch die an sich unvereinbarsten Umstände auf einander trafen und sich zu einer Harmonie ohnegleichen versöhnten: zu jener einzigen an keinem Punkte je brüchigen, an keiner Stelle des Denkens, Lebens oder Tuns je anzuzweifelnden Einheit von Geist und Existenz, die wir im eminenten Sinne Charakter nennen.

Charakter – dies unserer Zeit fremd gewordene Wort (Charakter als Wesensstruktur, als natürliche Anlage eines Lebens, wie sie die Psychologie, die Astrologie, die Graphologie zu entziffern suchen, ist unserer Zeit mehr als geläufig; Charakter aber im ethischen, im Wertsinne, im Sinne der Selbstschmiedung einer Persönlichkeit aus dem Kern lebendiger Verantwortung ist keine Form unserer Zeit) – Charakter eben in diesem Sinne war der Zeit, in der Moses Mendelssohn lebte, Ideal, Vorbild und wahrhaftige Möglichkeit menschlichen Daseins. Denn Charakter in dieser Bedeutung erwächst allein aus der festen Wurzelung in einer Welt, wie sie dem heutigen Menschen radikal verloren gegangen ist. Und dies ist nun das für Mendelssohns ganzes Leben Entscheidende: der arme, verkrüppelte, gesellschaftlich und wirtschaftlich völlig im Leeren hängende Ghettojude aus Dessau, der es in Berlin sein ganzes Leben hindurch noch nicht einmal zum Schutzjuden brachte (das heißt für den klein Berliner Bürger, wie es damals für alle Juden Vorschrift war, der Regierung gegenüber garantierte), der später nur der Angestellte eines Schutzjuden wurde, – dieser ganz preisgegebene, irdisch wurzellose Mensch befaß dennoch das göttliche Geschenk der festen Wurzelung in einer klar umrissenen geistigen Welt. Durch dies Geschenk, diese Gnade konnte jeder der Umstände, die ihn nach unserer heutigen Berechnung hätten zerstören müssen, ihm zu einer Kraftquelle mehr für die Gestaltung einer Menschlichkeit werden, durch die der häßliche, buckelige kleine Jude Mendelssohn zu einem der schönsten Menschen wurde, die je gelebt haben. Und diese Schönheit muß doch auch in sein unschönes Äußeres ausgestrahlt und sogar seine Formen mitbestimmt haben; sonst hätte Lavater in seiner Physiognomik nicht das Gesicht Mendelssohns als das eines edlen und weisen Menschen allen anderen Gesichtern seiner Zeit voranstellen können.

Und die geistige Wurzelung, aus der er lebte, war dadurch nicht lockerer, sondern sogar fester und tiefer, daß sie eine doppelte war; denn beide waren letzthin von einer gemeinsamen Quelle gespeist. Zwei durch Jahrhunderte, ja, durch Jahrtausende getrennte Welten flossen in diesem Geist wieder zu ihrer ursprünglichen Einheit zusammen, flossen so vollkommen, so rein zusammen, wie es wiederum nur in diesem einen einzigen Augenblick in der Geschichte Europas denkbar war. Und wenn Mendelssohn das Schicksal des Zusammenströmens dieser Wahrheiten, das sich in ihm vollzog, notwendig selbst noch nicht durchschauen konnte: der geschichtlichen Begnadung, in der er lebte, war er sich durchaus bewußt. Sein durchdringendes Heimatgefühl in seiner Zeit hat er einmal in den Worte ausgesprochen: „Ich habe nie den Plato mit den Neueren und beide mit den düsteren Köpfen der mittleren Zeiten vergleichen können, ohne der Vorsehung zu danken, daß sich mich in diesen glücklichen Tagen hat geboren werden lassen.“

Mendelssohn nannte seine eigene Zeit mit einer seltsamen geschichtlichen Blindheit und doch mit tiefer persönlicher Klarsicht die glücklichere schlechthin, weil er in ihr unmittelbar die Bedingung und Gewähr einer Daseinsform fand, zu der sein ganzes Wesen hinstrebte; weil in ihr jene durchdringende Helligkeit des Erkennens herrschte, die wir Aufklärung nennen, die wirklich die Wolken alles dunkleren Lebens, aller trüberen Problematik, aller Gewalten und Dämonen vor sich herjagte und zerstreute. Denn das europäische Geistesleben stand damals unter einem anderen Gestirn als heute: unter dem der allbeherrschenden Ratio, der klaren Gesetzlichkeit der Vernunft. Der geistige Globus hat seit jener Zeit genau eine halbe Drehung um seine Achse gemacht: er steht unter den entgegengesetzten Gestirnen. Die Ratio ist auch heute, in unserem buchstäblich bis zum Zerspringen von irrationalen Mächten beherrschten und durchwalteten Leben nicht tot; aber sie ist an den äußersten menschenfernsten Rand des Geschehens hinabgesunken: in Technik, Wirtschaft, Berechnungen jeder Art, die von unserem Leben unabtrennbar sind, in gewissem Sinne sogar seine Grundlage bilden, aber vom Menschen nicht als zentral erlebt werden können, weil von ihnen aus eine menschliche Daseinsgestaltung unmöglich ist, leiht sie nur objektiven, menschenfremden Sphären ihr kaltes Licht. Wird eine Gestaltung des menschlichen Daseins dennoch von ihr aus versucht, wie etwa von Ernst Jünger, so führt sie notwendig in die Herrschaft der toten Sache über den Menschen, in eiserne, eisige Unmenschlichkeit hinein. Zu Mendelssohns Zeit aber stand sie im Mittelpunkt des geistigen Kosmos und machte alles Menschliche zu sich erblühen. Diese Herrschaft der Ratio, die eigentümliche Helligkeit der Aufklärung bedeutet nicht, daß die Dunkelheiten des Lebens ungelebt oder sogar auch bis zu einem gewissen Grade ungewußt geblieben wären; sie bedeutet nur, daß die Sonne der Vernunft sie überstrahlte, daß es ein sie alle richtendes kosmisch-geistiges Gesetz gab: die Vernunft, der Geist, würden wir heute sage, gab – im genauen Gegensatz zu seiner Stellung im heutigen Leben – allem menschlichen Sein und Tun die unanzweifelbare Richtung.

Denn das Wort Vernunft in seinem echten, ursprünglichen Sinne hat eine durchaus andere Bedeutung als die, die wir in einer Welt, in der sie zur bloßen Randerscheinung herabgesunken ist, mit dem Wort verbinden; gerade für unsere extrem durchrationalisierte Welt, in der sie zu einer Kraft der Bewältigung rein äußeren Daseins herabgesunken ist, ist das Wort Vernunft behaftet mit der Dürre des rein Nützlichen und Abstrakten, geschlagen mit der Unzulänglichkeit zur Erreichung des Wirklichen und Lebendigen in seiner Fülle, das seinerseits dadurch, daß die Ratio es nicht mehr beherrscht und gliedert, als ein vernunftfremdes, völlig irrationales zurückbleibt, sodaß in einer modernen Lebensdeutung bizarrerweise der Geist geradezu als Widersacher des Lebens gesehen wurde. Zu jener Zeit aber hatte das Wort Vernunft seinen ursprünglichen großen, zugleich gesetzhaft kosmischen und göttlich-menschlichen Sinn.

Denn dies war die zweite geschichtliche Begnadung, in der Mendelssohn lebte: in der von den Zeiten der Renaissance und der Reformation an im europäischen Leben erwachten Vernunftgewißheit, die im achtzehnten Jahrhundert auf ihren Gipfel stieg, steckt im Rückgang auf ihre letzten Quellen neben der kosmischen Begründung der griechischen Antike die göttlich-menschliche im alten Testament, als die Besinnung auf den Bund, den Gott nach der Sündflut im Zeichen des Regenbogens mit dem Menschen geschlossen hat: die Verheißung, ihn von nun an nicht mehr durch ein Ungeheures, Unverständliches zu entsetzen, sondern der Welt, der Natur ein Gesetz zu unterlegen, das unverbrüchlich und dem Menschen als Gesetz faßbar sei: „nicht aufhören zu lassen Same und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht.“ Aus dieser klaren göttlichen Weltgesetzlichkeit erwächst zuerst für den Menschen die Möglichkeit des Begreifens der Welt durch die Vernunft. Vernunft bedeutet das Gesetz des Geistes, in dem die Gewähr der Übereinstimmung des menschlichen Erkennens mit dem göttlichen ruht, kraft der der Mensch fähig ist, das Werk des Schöpfers und damit sich selbst in seiner Sinnhaftigkeit und Gesetzmäßigkeit zu begreifen. Die Vernunft ist das Geschenk Gottes an den Menschen, sie bedeutet die Möglichkeit einer Harmonie zwischen göttlichem und menschlichem Geist und damit die Gewähr der Einen Menschheit.

In der in Gott gegründeten menschlichen Vernunft ist also eine uralte Quelle jüdischen Wissens aufgebrochen. Der Strom des europäischen Geistes, der eine andere Straße genommen, eine völlig andere Entwicklung durchlaufen hat, vermag doch gerade an diesem Punkt den jüdischen wieder in sich aufzunehmen, mit ihm zu verschmelzen. So lag in diesem geschichtlichen Augenblick, der dem Charakter die Möglichkeit gab, fast mit der Gesetzlichkeit eines Sternbildes seine Bahn zu ziehen, zugleich das andere für Mendelssohns Leben Entscheidende: daß in diesem einen Augenblick der deutsche Geist wie nie vorher und nie nachher geöffnet stand für den jüdischen. Lessings Nathan, die ganze Gestalt und das ganze Werk Lessings zeigt, wie wenig Mendelssohn in diesem Augenblick zum Verräter an seinem Eigensten werden mußte, um das große und verhängnisvolle Bündnis mit dem deutschen Geist zu schließen.

So konnte Mendelssohn von seiner Zeit in mehr als einem Sinne als von einer glücklichen sprechen. Er lebte trotz alles äußeren Drucks in der kurzen Brautzeit des deutschen und des jüdischen Geistes, und dies Bündnis war geschlossen im Zeichen der in Gott gegründeten Vernunft. Und welche Gewißheit könnte dem Menschen reineres Glück, tiefere Wurzelung im Leben geben als die Gewißheit, eines Geistes mit Gott zu sein, durch ihn befähigt zur Erkenntnis der Welt – diese Gewißheit, die schon so bald darauf durch den, den Mendelssohn mit so sicherem Blick von seiner Gewißheit aus dem Alleszermalmer nannte: durch Kant, der dem menschlichen Erkennen den Zugang zur Welt verschloß, im abendländischen Denken zerstört wurde? In Mendelssohns Geist und Leben stand diese Gewißheit in ihrer vollkommensten Blüte.

So war der Augenblick, in dem der arme, kleine jüdische Junge, der Sohn des Dessauer Lehrers und Thoraschreibers Mendelssohn im Jahr 1740 dreizehnjährig durch das Rosenthalertor in Berlin einzog, um völlig mittellos seinem Lehrer Rabbi Fränkel zu folgen, ein geschichtlicher Augenblick. Von zartem Körperbau, schwacher Gesundheit, mit dreizehn Jahren schon das Rückgrat verkrümmt vom Übermaß des Studiums bei bitterer Armut, zeigt Mendelssohn durch die erste Tat, die wir von ihm erfahren, schon seine entscheidende Doppelveranlagung: die Leidenschaft zum Geist und die Kraft, ohne die alle Gaben nichts sind: die Kraft eines eisernen Willens. Und zwar war es jene unbedingt durchhaltende Willenskraft, die sich nicht in einzelnen Aufschwüngen äußert, sondern, von den äußeren Umständen unabhängig, mit der vollkommenen Ruhe einer steten Präsenz verbunden ist, die so in ununterbrochener Stetigkeit allen Umständen zum Trotz die geistige Leidenschaft dieses Lebens zu reifen und aus dem widerstrebendsten Elementen die Frucht dieser einzigen Persönlichkeit zu entwickeln vermochte.

In Berlin durchlebte der zarte heranwachsende Jüngling zunächst siebe schwere Jahre – Jahre, in denen er sich oft an seinem Brot die Rationen anzeichnete, um auf einmal nicht mehr zu essen, als er durfte – Jahre, in denen er trotzdem rastlos neben dem notwendigen Gelderwerb sein Wissen vervollkommnete. Er trieb anfangs das begonnene Talmudstudium weiter. Aber immer mehr trieb es seinen lebendigen Geist, sich auch der herrschenden europäischen Bildung zu bemächtigen, die ihm in diesem Augenblick ihres mächtigen Aufblühens wie eine zweite Heimat seines Geistes entgegenkam. Er konnte das seinen Glaubensgenossen gegenüber nur in aller Heimlichkeit tun; denn schon ein deutsches Buch zu lesen, galt ihnen als Verbrechen. Auch das muß im Auge behalten werden, wenn man die ganze Weite seines Weges ermessen will. Eine fast unglaubliche Sprachbegabung muß ihm bei seinen Studien zu Hilfe gekommen sein. In kürzester Zeit erlernte er neben den alten Sprachen das Deutsche und dann auch das Französische und Englische, so daß ihm alle Werke der alten und der neuen Zeit offenstanden. Die deutsche Sprache machte er sich so zu eigen, daß er nach kurzer Zeit einen Stil von so reiner Vollendung schrieb, daß er schon allein durch seine Sprache der deutschen Klassik angehört. Und sicher dürfen wir auch eine dritte geschichtliche Begnadung Mendelssohns in der damaligen Lage der deutschen Sprache sehen, die eben reif geworden war, jede Bedeutung klar und genau in sich aufzunehmen. Im Gegensatz zu unserer heutigen Sprachlage, die dadurch gekennzeichnet ist, daß die Worte die Erscheinungen und Ereignisse auf jedem Gebiet nicht mehr zu bewältigen vermögen, daß die Begriffe und Wirklichkeiten sich den Worten wie in einer rasenden Flucht entziehen, so daß die Sprache in Wissenschaft und Dichtung und sogar im Alltagsleben in einer fortwährenden unerhörten Bemühung begriffen ist, die wechselnden Geschehnisse, die heutigen Lebens- und Todeserfahrungen, die Entdeckungen und Erkenntnisse durch Abpassung, Umgestaltung, Neubildung von Worten einzuholen, im Gegensatz zu dieser verwirrenden Lage war die deutsche Sprache, die Mendelssohn vorfand, zuerst von Luther mit gewaltigem Griff aus der Wirklichkeit in den Geist empor gerissen, dann von den größten Genien der deutschen Sprache weiter entfaltet, gerade in jenem Augenblick zu einer Form entwickelt, in der Wort und Wirklichkeit sich wie nur auf den seltensten Höhepunkten der Sprachen deckten. 

Wertvolle Freunde standen ihm beim Beginn seiner Studien zur Seite, halfen ihm, förderten ihn. Vom Jahr 1750 an war Mendelssohn Lehrer und Erzieher im Hause des Seidenfabrikanten Bernhard, um dann vier Jahre später, als dessen Söhne erwachsen waren, als Buchhalter und Korrespondent in Bernhards Geschäft einzutreten. Materiell war er damit jeder Not enthoben; aber der weitaus größte Teil seiner Zeit ging im Geschäft auf. Wie er daneben bei zartester Gesundheit noch das Werk seines Lebens leisten und sich selbst zu der durchdringenden Klarheit und Weisheit seines Lebens entfalten konnte, das gehört zu den Wundern des Geistes, denen man durch kein Forschen auf die Spur kommt.

Zur selben Zeit, als er in das Geschäft Bernhards eintrat, machte Mendelssohn die entscheidende Bekanntschaft seines Lebens: die mit Lessing, aus der bald eine der fruchtbarsten und schönsten Freundschaften wurde, die die Geistesgeschichte kennt. Gewiß war Lessing der noch Größere; aber er war keineswegs allein der Gebende. Man versteht, was Moses Mendelssohn zu dem großen Freunde hinzog, in dessen Person die Aufklärung Flamme und Licht zugleich war. Wenn man sich aber fragt, was Lessing von allem Anfang an so mächtig an Mendelssohn angezogen hat – und vielleicht war diese Anziehung die noch stärkere –, so liegt die Antwort sicher in etwas anderem als in dem, was er rein geistig von Mendelssohn empfing, und auch nicht allein in der seltenen Lauterkeit und Schönheit von Mendelssohns Persönlichkeit. Beides war nur ein Ausdruck von dem, was gerade dieser Mensch in diesem Menschen finden mußte: den reinsten Gegenstand nämlich für seine großartige Toleranz – diesen Begriff, der mit dem heutigen verblaßten Wort kaum mehr als den Namen gemein hat. Denn diese Toleranz war keineswegs eine gegen Wert und Besonderheit gleichgültige bloße Duldung alles Menschlichen; sie war im Gegenteil eine höchst fruchtbare, auf die Vervollkommnung, Bereicherung, Erhöhung des menschlichen Lebens in seiner Ganzheit gerichtete Kraft. Nicht um der Ruhe und Bequemlichkeit der Menschen, auch nicht einmal nur um ihres bloßen friedlichen Nebeneinanderlebens willen verlangte Lessing Duldung, Anerkennung alles Menschlichen, sondern um der Entfaltung immer neuer, immer reicherer, höherer Werte willen. Damit weitere, erfülltere, wertvollere menschliche Gemeinschaften entstehen, damit der Baum der Menschheit wachse und blühe bis empor in eine ferne unausmeßbare, in eine messianische erschaute Zukunft, verlangte er Pflege und Förderung jedes Keimes echter Menschlichkeit, nicht sowohl unbekümmert um Herkunft, Rasse, Nationalität, wie vielmehr um ihrer Entfaltung selbst willen.

So war es ein in Lessings Welt tief verwurzeltes, ein geradezu eschatologisch gerichtetes Interesse, das er an Mendelssohn als an dem Ereignis einer neuen Weise menschlichen Daseins nahm. Denn in Mendelssohn begegnete ihm ein neues einziges Menschenwesen: der erste Jude, der ganz deutscher, der erste Deutsche, der ganz Jude war, – und in dieser Vereinigung unter dem ihnen gemeinsam leuchtenden Sternbild der Vernunft eine lichte Weisheit und Menschlichkeit ohnegleichen. Wir können ihren mächtigen Eindruck an Lessings Nathan ablesen, der in all seiner Wirklichkeitsenthobenheit ein mit dem zartesten Pinsel gemaltes, bis in alle Einzelheiten getreues Bildnis Mendelssohns ist.

Denn schon in Mendelssohn ist die Einheit von Deutschtum und Judentum nicht mehr aufzulösen: er ist so rein in die deutsche Bildungswelt hineingestellt, wirkt so sehr in ihren Zusammenhängen denkend und schaffend mit, daß er, der fromme, strenggläubige Jude, nur als Deutscher faßbar ist. Auch wurde er von der deutschen Geisteswelt, von allen bedeutenden Mitlebenden durchaus so empfunden. Kaum ein durchreisender Gelehrter kam durch Berlin, ohne ihn als eine der berühmtesten deutschen Persönlichkeiten aufzusuchen. Und Moses Mendelssohn hatte, bei aller Beschränktheit seiner Lage, immer ein für Gäste offenes Haus, das uns in seinen Briefen und in den Briefen vieler anderer bedeutender Menschen in seiner lebensvollen Geistigkeit so anmutig wie bedeutend geschildert wird. Es war jene ganz neue Form deutscher Geselligkeit, zu der von Anfang an auch die Frauen hinzugezogen wurden, die bei den übrigen deutschen Gelehrten am gesellschaftlichen Leben noch gar nicht teilhatten. Das Haus Mendelssohns ist so der Keim des berühmten Salons der Romantikerzeit geworden – und damit der Keim der geistigen Geselligkeit Deutschlands überhaupt. Liest man etwa im Wilhelm Meister die Schilderung der Geselligkeit aus Goethes Jugendzeit (die zusammenfällt mit der Blütezeit von Mendelssohns Leben), liest man diese Schilderung, wie Goethe sie in den Bekenntnissen des Fräuleins von Klettenberg aufgezeichnet hat, so sieht man den Unterschied zwischen dieser noch verblüffend rohen Geselligkeit und der, die gleichzeitig durch Moses Mendelssohn in das deutsche Leben eingeführt wurde.

Die gesellschaftliche Atmosphäre seines Hauses konnte aber nur darum eine so wohltätige sein, weil ihr ein vollkommen schönes, von der Eheproblematik der Romantik noch unberührtes und doch schon von ihrem geistigen Anspruch mitgeformtes Familienleben zugrunde lag. Mendelssohn hatte aus Liebe ein liebenswertes und mittelloses Mädchen geheiratet. Die Geschichte seiner Verlobung, wie sie uns überliefert ist, ist für ihn und seine Art nach so vielen Seiten hin aufschlußreich, daß ich sie kurz erwähnen möchte. Er hatte seine Braut, Fromet Gugenheim aus Hamburg, nach kürzester Bekanntschaft liebgewonnen; sie aber hatte ihrem Vater, der die Verbindung wünschte, gesagt, daß sie bei aller Bewunderung und Verehrung für Mendelssohn über sein verwachsenes Äußere nicht hinwegkommen könne. Darauf ließ er um die Erlaubnis bitten, sie nur noch einmal aufsuchen zu dürfen. Bei diesem ruhigen und heiteren Abschiedsbesuch brachte Mendelssohn schließlich langsam und auf mancherlei Umwegen die Sprache auf die Ehe und auf das bekannte Wort, daß die Ehen im Himmel geschlossen werden. Und zwar werde, so fügte er, eine schöne alte Überlieferung aufgreifend, hinzu, bei der Geburt eines Kindes jedesmal der Name des ihm bestimmten Menschen ausgerufen, „Wie ich nun geboren wurden“, fuhr er fort, „Wir mir auch meine Frau ausgerufen; aber dabei heißt es: sie wird leider Gottes einen schrecklichen Buckel haben. Lieber Gott, habe ich da gesagt, ein Mädchen, das verwachsen ist, wird gar leicht bitter und hart; ein Mädchen soll schön sein. Lieber Gott, gib mir den Buckel und laß das Mädchen schlank gewachsen und wohlgefällig sein.“ – Wie hätte es anders sein können, als daß darauf das Mädchen ihm um den Hals fiel und daß, da ja die Liebe zu ihm schon in ihr war, aus diesem Bündnis die denkbar glücklichste Ehe wurde?

Eine ganze Welt von Anschauungen und Beziehungen steckt in dieser kleinen Erzählung. Für uns ist das Wesentlichste an ihr die tiefe geistige Sicherheit Mendelssohns. Die unerschütterliche Sicherheit, mit der hier der Geist gegen den Körper eingesetzt wird, – auch und gerade in der Lieben – , die Selbstverständlichkeit, mit der der Geist den Körper besiegt und beiseite schiebt, wäre keinem heutigen Menschen denkbar. Denn sie stammt aus jener ursprünglichen Wurzelung im Geist, aus der die feinsten Säfte verklärend in die Krone des ganzen Wesens aufsteigen und jene wunderhafte Einheit von Geist und Existenz schaffen, wie sie jede Äußerung Mendelssohns und sein gesamtes Leben durchdringen. Die besondere seelische Anmut aber, die uns aus dieser Erzählung anweht, spiegelt zugleich deutlich die Zusammensetzung seines Wesens wieder: jenen eisernen, unablenkbar auf das einmal erwählte Ziel gerichteten Willen, dessen Werkzeug die feinstgeschliffene Klugheit war – gepaart mit dem zartesten menschlichen Verstehen, einem letzten Wissen um die Seele des anderen Menschen. Diese seelische Anmut, die aus dem Gleichgewicht ungleichster Gabe und Kräfte entsprang, war es zweifellos, die Mendelssohn – dem äußerlich Häßlichen, Mißgestalteten – die glückliche Gabe verlieh, von der er einmal spricht: immer da wiedergeliebt zu werden, wo er liebte. – Aber diese Anmut ist als Ausstrahlung einer vollkommenen Lebenseinheit auch zugleich wieder ein Zeichen, wie wunderbar in der Gestalt Mendelssohns die Verschmelzung von jüdischem und deutschem Wesen gelungen war. Und nur weil diese Verschmelzung in ihm selbst gleichsam mit einem Schlage eine neue geschichtliche Wirklichkeit geschaffen hatte, konnte auch seine geschichtliche Wirkung eine so durchdringende sein.

Es ist aber begreiflich, daß für die meisten Menschen seiner eigenen Zeit hier ein Problem verborgen lag. Der einzige Lessing nahm diese Verschmelzung beider Welten ohne Frage, ohne Bedenken und Einschränkung beglückt als ein Geschenk des Schicksals, als unersetzliche Erschließung einer neuen gewachsenen Einheit hin. Für alle anderen Menschen seiner Zeit, war diese Erscheinung zu neu, zu befremdend, um einfach hingenommen zu werden. Und wie groß die Bewunderung, die Verehrung, die Liebe war, die Mendelssohn ganz persönlich auf Schritt und Triff begegneten und die Kränkungen und Leiden, die ihm als Juden widerfuhren, immer mehr aufwogen: die Frage, die plötzlich aus der deutschen christlichen Welt heraus an ihn gestellt wurde, mag auf dem Grunde vieler Seelen verborgen gelegen haben. Mendelssohn hatte sich so ganz in die europäische Bildungswelt hineingearbeitet, daß er an ihr nicht nur teilnahm, sondern durch seine philosophischen Schriften weit in sie hineinwirkte. Die erste von ihm veröffentlichte Arbeit: „Die philosophischen Gespräche“ wurde, anonym erschienen, für ein Werk Lessings gehalten, und einem Kant machte er anfangs derart den Rang streitig, daß bei einer Konkurrenz seine Schrift den ersten, die Kants den zweiten Preis erhielt. Dieser Mann, den ein Lessing zum Freunde wählte, den ein Herder umwarb, den der Antisemit Hamman, den der abweisende Goethe verehrte, dem Fürsten ihre bewundernde Huldigung darbrachten und den sie um seinen Rat baten: dieser Mann, der so ganz Deutscher war, daß er jene heroische Tollheit beging, aus Liebe zur deutschen Sprache sein Leben in Gefahr zu bringen, – dieser so ganz der deutschen und damit doch einer christlichen Bildungswelt angehörige Mann war und blieb ein frommer, gesetzestreuer Jude.

Wie wenig dies seinen Zeitgenossen selbstverständlich war, zeigt die bekannte Aufforderung Lavaters an Mendelssohn, die zwar durch ihre Öffentlichkeit nicht nur von Mendelssohn nahen Freunden als eine schwere Verletzung des Taktes empfunden wurde, die aber auch schon ihren Beweggründen nach durchaus verständlich ist. Lavater verehrte Mendelssohn nicht nur, er liebte ihn. Und weil er ihn liebte, wollte er, der protestantische Geistliche, ihn da haben, wo er selbst stand und wo seiner Überzeugung nach auch Mendelssohn durch seine ganze Geisteshaltung hingehörte. Wie sehr dies von vielen wesentlichen Menschen seiner Zeit, Christen wie Juden, als Irrtum empfunden wurde, – was aus solcher eifernden Liebe geschieht, kann niemals nur falsch sein. Und auch die Öffentlichkeit von Lavaters Schritt ist so gesehen über die bloße Taktfrage hinaus.

Dennoch hätte er, soweit es nur die Persönlichkeit Mendelssohns anging, als Freund sich sicher zuerst die Frage vorlegen müssen, warum Mendelssohn von sich aus den Schritt zum Christentum nicht getan hatte. Daß ihm eine Welt offen gestanden hätte, wenn er das Bekenntnis seiner Umwelt angenommen hätte, während er und seine Familie so dennoch immer unendlich Plagen, Hemmungen und Demütigungen ausgesetzt waren, wußte Lavater, wie Mendelssohn es wußte. Vielleicht hätte bei der Art seines Charakters gerade dies ihn bestimmen können, der angestammten Religion treu zu bleiben. Aber diese Erklärung reicht doch für einen Erforscher und Sucher der Wahrheit nicht aus, und selbst das Solidaritätsgefühl mit den benachteiligten Brüdern konnte bei Mendelssohns Verhältnis zur Wahrheit nicht der letzte Grund seines Festhaltens an der angestammten Religion sein. Die Wahrheit war – das hat Lavater sehr klar gesehen – das Erste und Letzte, das durchweg die Wirklichkeit formende Element in Mendelssohns Leben. Die Wahrheit selbst also mußte der Grund sein, aus dem er als deutscher, mit europäisch-christlichem Geist ganz gesättigter Denker Jude blieb. „Sobald ich die Religion meiner Väter nicht als die wahre erkannte, mußte ich sie verlassen“, mit diesem Wort hat Mendelssohn selbst die Wahrheit zum alleinigen Maßstab seiner letzten und tiefsten Entscheidung gemacht. Er mußte also, um ihr treu zu bleiben, in der Religion seiner Väter eine Wahrheit finden, die er der ganzen europäischen Geisteswelt gegenüber, der modernen wie der antiken – , und was bedeutete ihm, der in seinem „Phädon“ Platos Gespräch über die Unsterblichkeit der Seele aufgenommen und fortgeführt hatte, schon allein Plato, die griechische Antike überhaupt! Was bedeutete ihm auf der anderen Seite Spinoza, Lessing, Leibnitz vor allem! – er mußte all dem gegenüber und dem Christentum selbst gegenüber in der Religion seiner Väter eine Wahrheit finden, die er diesen großen Wahrheiten nicht nur als ebenbürtig, sondern als überlegen erkannte. Keine irrationale, volkhafte Wurzelung konnte ihm, dem Bekenner der Vernunft, wie früheren und späteren Geschlechtern ein Gran seiner Wahrheitsentscheidung abnehmen; seine Entscheidung mußte allein in der Wahrheit begründet sein. Und nicht einmal Lessings Fabel von den drei gleichen Ringen konnte für ihn die volle Antwort auf die an ihn gerichtete Frage sein; er war nach dem Vorrang seiner Religion gefragt worden; sein Bekenntnis mußte nicht nur den beiden anderen gleichwertig, es mußte ihnen an Wahrheit überlegen sein.

Es war also schon in dieser Hinsicht ein Äußerstes, das Lavater mit seiner Frage Mendelssohn auf die Schultern bürdete. Bonnet, der Verfasser der Schrift, in deren Namen Lavater Mendelssohn zum Entscheidungskampf herausforderte, hat dessen schwere und verantwortungsvolle Lage sehr viel tiefer und ehrfürchtiger begriffen als Lavater selbst. Er hat es Lavater bitter und mit tiefem Kummer über den Mißbrauch seiner Schrift vorgeworfen, daß er diese Schrift, die allein an die Ungläubigen der eigenen Kirche gerichtet war, einem gläubigen Juden gewidmet und das er diesen ausgezeichneten Juden damit in die dornige Alternative gebrachte habe, die Schrift entweder zurückzuweisen oder sich zu bekehren. Indessen: Lavater konnte das Urteil des Mannes, auf den er sich berief, nicht abwarten; ihm war es um eben diese dornige Alternative zu tun, die jener als unritterlich zurückwies. Er übersandte Mendelssohn eine Übersetzung von Bonnets „Palingénésie philosophique“ mit einer eigenen Widmung, in der er ihn öffentlich beschwor, entweder die in dieser Schrift niedergelegten Beweise für die Wahrheit des Christentums zu widerlegen oder aber, wenn ihm dies nicht möglich sei, die Konsequenz daraus zu ziehen und zum Christentum überzutreten.

Diese Aufforderung traf Mendelssohn mitten ins Herz. Eine schwere Nervenkrankheit, von der er sich mit Aufbietung seiner ganzen Charakterkraft erst im Laufe von sieben dunklen Jahren erholte, war die Folge. Man hat diese Erkrankung auf Mendelssohns von Jungend auf zarte, durch ein Übermaß von Arbeit immer mehr geschwächte Konstitution zurückgeführt, die zweifellos auch Anteil an ihr hatte, aber die eigentliche Quelle des Zusammenbruchs nicht berührte. Die Mitwelt hat nicht verstehen können, und auch die Nachwelt hat kaum zu ergründen versucht, wie gerade die Aufforderung Lavaters bei dem ruhigen und klaren, seiner selbst so tief sicheren Mann dieses schwere Nervenleiden, diese Verstörung und Schwermut auslösen konnte, die ihn jahrelang zu jeder zusammenhängende Arbeit unfähig machte. Gewiß: man sah und anerkannte, daß Lavaters Aufforderung Mendelssohn in eine schwere Lage brachte: er hatte Religionsstreitigkeit schon seiner friedfertigen, allem Streit abholden Natur nach, aber auch um seiner unseren bürgerlichen Lage und seiner Stellung zwischen den beiden Lagern willen, vor allem aber aus seiner tiefen Überzeugung von der Unfruchtbarkeit solchen Streites stets vermieden; aber niemand konnte und durfte annehmen, daß auch die schwierigste äußere Lage, ja, daß auch einer dieser mehr innerlichen Gründe die gefestigte Persönlichkeit Mendelssohns mit einer solchen sein ganzes Wesen verstörenden Krankheit hätten treffen können.

Und es ist in der Tat kein Zweifel, daß etwas weit Tieferes und Gewaltigeres dieser Krankheit zugrunde lag. Mendelssohn, der Klare, Durchsichtige, Einheitliche, in der einen göttlich-menschlichen Vernunft Wurzelnde, wurde durch Lavaters Aufforderung an der entscheidenden Stelle seines Lebens getroffen, an dem Punkt, wo sich die Einheit seines Lebens selbst konstituierte. Die unsichtbare Naht seines Daseins zerplatzte. Das Untervernünftige, das Übervernünftige, das unter jedem Dasein schläft, über jedem Dasein ruft, und um so mächtiger, je schicksalsträchtiger es ist – , brach als unmittelbare Lebensgewalt in die klare Vernunfteinheit dieses Lebens ein. Mendelssohn stand vor dem Ganzen seines Lebens, vor der ungeheuren Weite und Tiefe der geschichtlichen Verantwortung, in die er eingetreten war.

Das Judentum hatte in Mendelssohns Leben bis dahin nur in zweierlei Hinsicht sichtbaren Ausdruck gefunden: wenn es galt, den benachteiligten Brüdern zu helfen, sich in einer besonders schweren Lage für sie einzusetzen, und in seltenen schmerzlichen Klagen gegenüber vertrauten Freunden über den niedrigen Kulturstand, in dem er sein Volk festgehalten sah und den er mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln zu heben suchte. Seine Übersetzung der Schrift in ein reines, mustergültiges Deutsch sollte diesem Zweck dienen, und sie hat tatsächlich mächtig mitgeholfen, die nächsten Generationen in der deutschen Geisteswelt heimisch zu machen. Hier tritt aber zugleich ein Widerspruch in seinem Verhalten zutage: dieselbe Übersetzung, die Mendelssohn zur Förderung der Bildung seines Volkes, zu seinem Heimischwerden in der deutschen Geisteswelt unternahm, unternahm er – und dies war sogar ihr noch ursprünglicherer Zweck – , um seine schon in dieser neuen Welt erwachsenen Kinder bei dem Glauben ihrer Väter festzuhalten.

Dieser fast bestürzende Widerspruch, der ein so scharfes Licht auf seine Doppellage wirft, war dennoch in Mendelssohns Leben kein eigentlicher Widerspruch, weil er – hier ganz im Einklang mit Lessing – geglaubt hatte, in der neuen Kulturwelt sich selbst, den Seinen und seinem Volk sein großes religiöses Erbe ungeschmälert wahren zu können. Gerade diese Gewißheit war es, in der er durch die Frage Lavaters erschüttert wurde: an ihr mußte ihm mit einem Schlage klar werden, daß die neue Geisteswelt, in die er sein Volk geführt hatte, nicht ein neues gelobtes Land, sondern auch für den Bestand seines Volkes eine schwere Gefahr war, weil er in ihr der ganzen Wirklichkeit nach nicht nur in die deutsche, sondern auch in eine christliche Welt eingetreten war. So mochten die Folgen seiner Tat sich in jenem Augenblick in dem schreckensvollen Umriß vor ihm aufrichten, in dem die Geister Shakespearescher Tragödien vor dem Täter seiner Tat emporsteigen, oder wie der Engel Gottes, der Bileam auf seinem Weg erscheint und ihn weder zur Rechten noch zur Linken ausweichen läßt. Die Vergangenheit seines Volkes mit ihren mächtigen verblaßten Ordnungen, älter, schmerzlicher als die aller anderen Völker, griff aus dem Dunkel der Jahrhunderte und Jahrtausende nach dem eben erst ins Licht Getretenen und forderte ihn ein.

Nicht als ob die Auseinandersetzung mit dem Judentum ihm erste von außen aufgezwungen worden wäre, als ob sie jetzt erst begonnen hätte. Ausdrücklich heißt es in seinem Antwortschreiben an Lavater: „Ich darf sagen, daß ich meine Religion nicht erst seit gestern zu untersuchen angefangen. Die Pflicht, meine Handlungen und Meinungen zu begründen, habe ich gar frühzeitig erkannt, und wenn ich von früher Jugend auf meine Ruhe- und Erholungsstunden der Weltweisheit und den schönen Wissenschaften gewidmet habe, so ist es einzig und allein in der Absicht geschehen, mich zu dieser so nötigen Prüfung vorzuarbeiten. Andere Beweggründe kann ich hierfür nicht gehabt haben.

In diesen Worten wird eine gewaltsame Wendung und Rückwendung Mendelssohns sichtbar. Es zeigt sich – und zwar zum ersten Mal in seinen Schriften: der letzte Beweggrund all seines Forschens und Denkens, seines Durchbruchs in die europäische Bildungswelt selbst war nicht der Erwerb ihrer Güter, nicht die Bereicherung seines aller lebendigen Wahrheit aufgeschlossenen Geistes, nicht das Wissen, nicht die Vernunfterkenntnis selbst, – sondern dies alles war nur Mittel, nur Vorbereitung zur Prüfung und Begründung seiner Handlungen und Meinungen – und letzthin und vor allem zur Prüfung und Begründung seiner Religion. Das Judentum, über das wir bis dahin im Gedanklichen kein Wort von ihm vernommen haben, rückt so mit einem Schlage ins Zentrum seines Wissens und Lebens.

Damit stellt sich die Doppelfrage: Warum hatte er bisher immer von seinem religiösen Bekenntnis geschwiegen? Und warum konnte, ja mußte die Aufforderung zur öffentlichen Auseinandersetzung mit ihm ihn in diesem Maße verstören? Es ist offenbar dieselbe Frage von zwei Seiten gestellt. Alle Gründe, die Mendelssohn angibt, die ihn von jeher verhindert hatten, in Religionsstreitigkeiten einzutreten: seine friedfertige Natur, seine unsichere äußere Lage, seine Überzeugung, daß das Judentum keine Proselyten mache solle und dürfe, daß es von jeder Bekehrung Fremdgläubiger sich zurückzuhalten habe – und sogar seine tiefe vernunftgeborene, sich mit der Lessings einende Überzeugung, daß Glaubenseinheit die schlimmste Vergewaltigung der Glaubensfreiheit sei, daß man darum jedem Menschen seinen eigenen Glauben lassen müsse – alles dies sind zwar keineswegs Vorwände, aber es sind doch nur Teilgründe und Vordergründe, dem Wahren und Innersten gegenüber immer noch äußere Gründe seines bisher nie gebrochenen Schweigens über seine Religion.

In einem einzigen Wort in der Nacherinnerung zu dem Briefwechsel mit Lavater, wo Mendelssohn selbst fühlt, daß er Bonnet gegenüber nicht ganz gerecht gewesen ist, klingt der wahre und tiefste Grund seines Schweigens über die religiösen Fragen an. Er weist auf jene Worte an Lavater über die Rolle des Wissens als nachträgliche gegenüber der der Religion in Mendelssohns Leben zurück. „In einer Materie“, schreibt er, „die so sehr verwickelt ist und das Herz so nahe angeht, kann die Vernunft durch den leichtesten Schwung aus dem Geleise gehoben werden, und alsdann führt sie von dem rechten Wege desto mehr ab, je wackerer sie ist.“

Hier ist es ausgesprochen: das Reden über das eigene Bekenntnis als eine das Herz so nah angehende Sache: als da, um dessentwillen alles unermüdliche Forschen und Denken, alle Weltweisheit im Grunde nur ist, ist für die Vernunft selbst eine Gefahr und damit auch für das Verständnis der in ihr dargelegten Religion. So viel mächtiger ist die Religion als selbst die Vernunft, so schwer erhellbar und verwickelt sind ihre aller Vernunft vorgeordneten Wege, daß sie durch den leichtesten Schwung die Vernunft aus dem Geleise heben kann. Denn sie ist das Geheimere, Ursprünglichere, dem lebendigen Herzschlag Nähere. Und dieses Übermächtige, dieses Nahe und Ursprüngliche, das Mendelssohn, indem er es für sich selbst zu durchleuchten strebte, in seiner Tiefe und Verborgenheit lassen konnte, galt es nun an die helle Öffentlichkeit zu zerren und auf einer Ebene mit der Erkenntnis nicht mehr nur vor der Vernunft selbst, sondern vor den Menschen vor der Öffentlichkeit zu verantworten. Das war, als sollte die Liebe seines Lebens, für die er sich längst vorbehaltlos entschieden hatte, preisgegeben werden, als sollte er für diese Liebe vor einer Welt, die sie nicht teilte, in einer Sprache, die sie nicht fassen konnte, sich verantworten.

Er hat diese schwere Aufgabe meisterlich gelöst. Seine Antwort an Lavater zeigt ihn auf der vollen Höhe seines Erkennens, in der reinen Klarheit seiner Wurzelung in der Vernunft. Die Antwort wird ruhig, ohne Erregung (wenn man nicht eine solche aus dem ungewöhnlich schroffen Angriff auf Bonnets Schrift herauslesen will,) gegeben. Durchaus bleibt in dieser Antwort die helle Vernunft sein Maßstab; aber das, was er mit diesem Maßstab mißt, ist eine dunklere, tiefere Gewißheit. Es ist eine Gewißheit, die wir mit Mendelssohn selbst nicht Glauben nennen dürfen; ihr wirklicher Name ist Überzeugung. Und genau dies ist der Punkt, an dem nach Mendelssohn sich das Christentum von Judentum trennt: der Christi hat Glauben, der Jude Überzeugung. Das heißt: der Jude hat nach ihm nicht an etwas geoffenbartes Übernatürliches zu glauben; er hat nicht wie der Christ Heilswahrheiten, Lehrmeinungen anzunehmen: er hat nur aus innerster Überzeugung das zu tun, was Gott ihm befiehlt. Mit anderen Worten: der Inhalt der Offenbarung ist im Christentum Religion, im Judentum Gesetz.

Das Judentum ist also hier von Gott aus rein auf das Gesetz, vom Menschen aus rein auf das Tun reduziert. Alles Prophetisch-Messianische, vollends alles Priesterliche ist ausgeschieden. An die Stelle alles Mythisch-Kultischen und Dogmatischen tritt das unmittelbare Leben und Tun. An die Stelle des immer erst zu erkämpfenden Glaubens an Gott tritt die unmittelbare, im Ursprung begründete Überzeugung von Gott, die mit dem jüdischen Dasein selbst gegeben ist. So ist sie das vom Fragen und Denken gar nicht Anzutastende, weil alles Fragen und Denken sie bereits voraussetzt, auf ihr allein ruht.

Diese Vormacht der geoffenbarten göttlichen Gesetzgebung zeigt sich darin, daß Staat und Religion in der ursprünglichen Verfassung des Judentums der Theokratie, nicht nur vereinigt, sondern eins, nicht verbunden, sondern eines und dasselbe waren. Jeder Bürgerdienst war zugleich Gottesdienst, jedes Vergehen gegen Menschen wurde als Untat gegen Gott bestraft.

In dieser reinen Verstaatlichung, Politisierung des Judentums führt Moses Mendelssohn es an der Grenzscheide der modernen Welt noch einmal auf seine schlichteste, strengste Form zurück. Was hier Politik nennt, ist weitab von jeder menschlichen eine rein göttliche Staatenordnung, göttlich-ethische Durchdringung der Wirklichkeit. Wie Platon zwischen himmlischer und irdischer Liebe, so unterscheidet Mendelssohn zwischen irdischer und himmlischer Politik. Eine himmlische Politik, eine Politik Gottes, das heißt die göttliche Erziehung und Leitung der Menschen, in die der Mensch sich vollziehend einstellt, ist für ihn das ganze Judentum.

Mit dieser Fassung und eigentümlichen Reduzierung des Judentums, die voraussetzt, daß in der ganzen Politik des göttlichen Gesetzgebers nichts Übervernünftiges ist, das wir auf unseren bloßen Glauben annehmen müßten, daß im Gesetz als Vernunftgesetz Gott selbst dem Menschen die Freiheit des Glauben garantiert und nur sein Tun streng bindet, hat Mendelssohn wie so mancher jüdische Denker vor und nach ihm, wie zuletzt noch der große Neukantianer Hermann Cohen, in einer besonderen Form die Vernunft des Menschen begründet in der Vernunft Gottes. Mit dieser Verankerung der Vernunft im Element des Göttlichen ging aber nicht etwa die übliche rationalistische Auflösung der Wunder im Neuen Testament Hand in Hand; auch das Alte Testament ist ja voll von Wundererzählungen; worauf es ihm hierin ankam, war vielmehr die Widerlegung der Behauptung einer verbreiteten christlichen Theologie, daß die Wunder ein Beweis der Wahrheit seien, daß darum vom Glauben an die Wunder der Glaube an die Wahrheit abhänge. Und zwar setzt er den Gegenbeweis gegen diese christlich Auffassung bis ins Neue Testament hinein fort: In dem Wort Matthäus 24, 24: „Es werden falsche Christi und falsche Propheten aufstehen und große Zeichen und Wunder tun“, sieht her die Bestätigung seiner Überzeugung, daß die Wunder kein Zeichen der Wahrheit sein können.

Indem Mendelssohn so das Gesetz Gottes als letzte Grundlage des Judentums und damit letzthin auch des Christentums erfaßt und aufgewiesen hat, hat er gerade in dieser Gemeinsamkeit wirklich eine Überlegenheit, einen Vorrang des Judentums: den des Ursprungs begründet.

Und damit ist zugleich von der anderen Seite her der Anschluß an die abendländische Vernunftgewißheit erreicht. Nicht das Judentum wird auf die Vernunft zurückgeführt; die Vernunft selbst ist aus dem Judentum, das heißt: aus Gott als aus ihrer allertiefsten Quelle abgeleitet: aus derselben Quelle also, die letzthin auch die Vernunftgewißheit des abendländischen Geistes gründet. Die Vernunft selbst ist eingesenkt in jene Schicht noch unterhalb der Vernunft, die letzthin und vor allem „das Herz angeht: und die darum mit ihrer Übermacht die Vernunft, die in ihr gründet, auch so leicht aus dem Geleise heben kann. Durch Mendelssohns Darlegung aber ist sie nicht nur in ihrem Geleise geblieben, sondern in ihrem tiefsten Urgrund wieder neu und umso fester verankert. –

So überspannt seine Wahrheit doch zuletzt wieder wie ein helles Firmament das Ganze; ein sehr schlichtes Wort am Schluß der Nacherinnerung an Lavater drückt das aus: „In welcher glückseligen Welt würden wir leben, wenn alle Menschen die Wahrheiten annähmen und ausübten, die die besten Christen und die besten Juden gemeinsam haben.“

Klar und wie gemeißelt steht die Antwort an Lavater vor uns, das Zeugnis eines festen, über jeden Zweifel erhabenen Geistes. Niemand hätte hinter ihr einen in seinem gesamten Bestand erschütterten, in eine lange Krise hineingerissenen Menschen vermuten können, die anzeigte, daß in dieser Auseinandersetzung etwas sein innerstes Leben Bedrohendes geschehen war.

Und doch fand Mendelssohn noch dieser klaren Gründung und Begründung seiner Religion in der Vernunft und der Vernunft in Gott noch lange Jahre die Ruhe nicht. Tiefer als alles andere aber spricht für die Gewalt und die Lebensbedeutung dieser Krise, daß von ihr an und aus ihr heraus sein gesamtes Forschen und Denken eine entgegengesetzte Richtung nimmt: die einer Umkehr und Heimkehr. Denn von diesem Augenblick an wendet sein Geist von den abendländischen Fragen und Erkenntnissen sich ab und ist nur noch jüdischen Gegenständen zugewendet. Nicht so, daß die Brücke abgebrochen, seine bisherige Beziehung zum abendländischen, insbesondere zur deutschen Welt nun verneint würde, sondern als echter Liebender des deutschen Geistes suchte er auch jetzt noch unablässig ein Band zwischen den alten heiligen Dingen und der deutschen Geisteswelt zu knüpfen, indem er das seinem Herzen Nächste: die Schrift, ins Deutsche übertrug und in deutscher Sprache auslegte. Aber das Judentum hat ihn zurückgefordert, als hätte ihn jäh die Ahnung einer bisher vom Glanz des neuen Wissens überstrahlten dunklen Schuld am Heiligsten berührt, die er nun wieder gutzumachen strebte mit allen Kräften seines Lebens.

Und das ist darum doppelt bedeutsam, weil die eigentliche Tiefe von Mendelssohns Denken erst in seiner Auseinandersetzung mit dem Judentum, in seinen jüdischen Dokumenten überhaupt erreicht ist. Das ganze große erworbene Wissen geht in sie ein; aber es wird aus einem herrschenden zu einem dienenden. Das sehen wir in seiner Antwort an Lavater, in seiner schon früher begonnenen Bibelübersetzung und dem Kommentar zu ihr, aus dem noch die jüngste Zeit schöpft, am leuchtendsten aber in seiner herrlichen, wie keine sonst der Luthers ebenbürtigen und ganz und gar eigenen Psalmenübersetzung.

Wenn man sein früheres Denken innerhalb der europäisch-deutschen Zusammenhänge gemeinhin etwas verächtlich eine Popularphilosophie genannt hat, so liegt allerdings auch darin eine sicher ohne wirkliche Kenntnis seiner Schriften ausgesprochene Oberflächlichkeit. Es war Mendelssohns Schicksal, bei der Nachwelt von den noch größeren Geistern seiner Zeit, von Lessing vor allem, der mit ihm verwandte Wege ging, verdunkelt, und dann von Kant mit einem solchen Riesenschritt überholt zu werden, daß man seiner Philosophie plötzlich nicht mehr bedurfte. Der Geist zählt nur die Meilensteine seiner Geschichte, die langen, oft fruchtbaren Strecken zwischen ihnen, die den Weg bilden und der Grund sind, der sie trägt, zählen für ihn nicht. Moses Mendelssohn war keiner der großen Meilensteine in der Geschichte des Geistes. Mit ihm hat nicht wie mit Kant eine neue Epoche begonnen; er ist Abschluß und Vollendung einer Epoche. Wie sehr er aber wirklich deren Vollendung ist, hat der Größte seiner Zeit, mit dem eine Epoche anhebt, die noch heute nicht abgelaufen ist, hat Kant mit dem Wort bestätigt, das er über Mendelssohns Werk „Morgenstunden: gesetzt hat: daß sie „das letzte Vermächtnis dogmatisierender Metaphysik und zugleich das vollkommenste Produkt derselben, ein nie seine Werte verlierendes Denkmal des Verfassers“ seien. Das Größte aber, was Mendelssohn uns hinterlassen hat, ist trotzdem nicht sein Werk, es ist die Schöpfung einer neuen Lebensgestalt. Und diese hätte er uns nie in solcher Reinheit und Reife hinterlassen können, wenn er wie jene Allergrößten auf eine eigene Existenz verzichtet und sein ganzes Leben an sein Werk hingegeben hätte.

Aber wenn auch sein Werk nicht sein eigentliches Vermächtnis an uns ist: wo immer man Mendelssohns Schriften aufschlägt, überall trifft man auf Einsichten, die nicht nur an ihrem historischen Ort bedeutsam und wesentlich sind. Vor allem in seiner Psychologie zeigt er Einblicke von einer so leuchtenden Intelligenz, ein so tiefes, seltenes Wissen um menschliche Dinge; in der Ästhetik, wo er manches ausgesprochen hat, ohne das Kants Kritik der Urteilskraft, dies mächtigste Werk über das Schöne, von dem die ganze große deutsche Ästhetik lebt, undenkbar wäre, fühlen wir ein so ursprüngliches Wissen um das Schöne, daß sein Geist darin licht wie eine erste Morgenröte den Horizont seiner Zeit berührt.

Wo aber in die Wahrheit des Judentums hinabsteigt, färbt sein Geist sich tiefer. Und in ihr und in der Hingabe an sie hat er langsam den Frieden zurückgewonnen, der für das Bild dieses Mannes etwas so Entscheidendes bedeutet. Nirgends zeigt sich dieser Friede so rein, wie in dem Wunder der Psalmenübersetzung. Es ist, als sänge in ihr seine Seele sich selbst, als wäre in diesen Gesängen der Abgrund zwischen dem Einst und dem Jetzt, zwischen der heiligen Sprache und der Sprache seiner Liebe und seiner Wahl durch die Einheit der Seele überbrückt, die die Seele des ersten deutschen Juden war. Und was hätte für Mendelssohn erlösenderen Sinn haben können als diese Überbrückung? Diese sein späteres Leben begleitende Übersetzung muß für ihn wie eine langsame Heilung der gewaltsam aufgerissenen Wunde seines Lebens, wie eine Bestätigung seines Lebens und der Tat seines Lebens selbst gewesen sein.

Sein Arzt, Markus Herz, hat nach Mendelssohns sanftem Tode gesagt: „Nur ein Mensch wie er, von seiner Weisheit, Selbstbeherrschung, Mäßigkeit und Seelenruhe konnte bei seiner Konstitution die Flamme siebenundfünfzig Jahre brennend erhalten.“ Aber diese Weisheit, Selbstbeherrschung und Seelenruhe tritt in ihrer ganze menschlichen Größe erst hervor, wenn wir wissen, wie tief sie einmal bedroht und erschüttert war: erschüttert durch die Erfahrung des gewaltigen geschichtlichen Anspruchs, der gerade diesem zarten Leben aufgegeben war. Mendelssohn hatte geglaubt, sich ein öffentliches, verstandesmäßiges Bekennens des ihm Teuersten vor der Öffentlichkeit nicht nur ersparen zu können, sondern es sich um dem Judentum ersparen zu sollen. Die Geschichte selbst hat anders entscheiden. Gerade um dies öffentliche Bekenntnis war es – keineswegs nur von Lavaters Bekehrungseifer aus gesehen, sondern von der Geschichte aus gesehen – zu tun. Lavater erscheint hier geradezu als Beauftragter der Geschichte. Moses Mendelssohn mußte da, wo er stand, wo die Geschichte ihn und wo er selbst sich hingestellt hatte, auf sich nehmen, all seinen Neigungen und Wünschen, seiner ganzen, ruhigen, zurückgezogenen Natur zuwider, Rechenschaft abzulegen von sich selbst, die naht seines eigenen Lebens bloßzulegen, weil diese Naht sein stilles und mächtiges Werk, weil sie die Konstituierung einer neuen Einheit, eines neuen und fremdartigen geschichtlichen Faktums war.

Wieviel von der ungeheuren Verantwortung, die er damit auf sich nahm, in Mendelssohns Bewußtsein fiel, wissen wir nicht; aber deutlich sehen wir, wie er mit allen Kräften seines Daseins mit der dunklen, verstörenden Macht, als die sie ihn antrat, um ihren Segen gerungen hat. Daß mit dem Einströmen in das deutsche Geistesleben der Weg zur Auflösung des Judentums der Möglichkeit nach schritten war, konnte, ja mußte ihm darum verborgen bleiben, weil für ihn die Vernunft noch der Träger zeitloser Wahrheit war und er so in der Vernunftwahrheit gerade endgültig seine Religion befestigt und für das europäische Bewußtsein gerettet zu haben glaubte. Daß, einmal mit Vernunftgründen begründet, das Judentum von nun an in die geschichtliche Auseinandersetzung und Wandlung der menschlichen Wahrheiten hineingezogen, daß so das Heiligste Wind und Wellen des geschichtlichen Lebens preisgegeben war; das zu durchschauen, blieb ihm durch seine Vernunftgewißheit erspart.

Und doch hat ihn im Augenblick der Entscheidung der Schwindel des an einem Abgrund Stehenden erfaßt. Vielleicht schreckte ihn der einmal beschrittene Weg mit der dunklen Vorahnung einer Wandlung, die schon an seiner nächsten Nachkommenschaft – und gerade an ihr, wenn auch aus Ehrfurcht vor ihm erst nach seinem Tode – sichtbar wurde. So wenig er damals die deutsche Geistesentwicklung voraussehen konnte, es kann nicht als ein Zufall gesehen werden, daß auch seine Kinder, von der Übermacht der gerade damals zu einer rauschhaften Blüte ohnegleichen sich entfaltenden deutschen Romantik hingenommen und durch sie dem Christentum zugeführt, für die Tiefe der Wahrheit der eigenen Religion erblindeten: daß sie, für die Mendelssohn die Übersetzung des Pentateuch unternommen hatte, um sie an der Religion der Väter festzuhalten, und deren Leben er, wie das seines stärksten Kindes: seiner Tochter Dorothea, geradezu mit Zwang an jüdisches Leben zu binden suchte – daß alle diese Kinder nicht mehr fromme Juden, daß sie nach seinem Tode teilweise getauft waren und daß unter den Enkeln Moses Mendelssohns kein Jude mehr war, wohl aber die fromm katholischen Nazarener Philipp und Johannes Veit und die fromm protestantischen Geschwister Felix und Fanny Mendelssohn-Bartholdy.

Denn von Mendelssohns Entscheidung an war grundsätzlich für die deutschen Juden die Entscheidung über das Judentum auf das Gewissen jedes Einzelnen gelegt – man könnte ihn in dieser Hinsicht eine Art Luther des deutschen Judentums nennen –; die noch eben übermächtige Gemeinschaftsbindung war durch ihn aufgelöst. Und von dieser geschichtlichen Entwicklung fällt noch einmal ein entscheidendes Licht auf seine Erkrankung: sein seelischer und körperlicher Zusammenbruch fällt mit dem Augenblick zusammen, in dem er Rechenschaft abzulegen hatte von einer Haltung, die über die Zukunft seines Volkes, über das Schicksal einer Epoche entschied, über der schon unsichtbar der finstere Schatten ihres grauenvollen Endes ruhte. Das Judentum selbst forderte ihn in jenem Augenblick vor seinen Richterstuhl: dies Ungeheure war es, das ihn, vermochte er es auch nicht in seinem vollen Umfang zu erkennen, als volle schwindelnde Wirklichkeit anfiel und das er in seinem Leben selbst erlitt.

Und damit erblicken wir nun auch die strenge, unzugängliche Geschlossenheit von Mendelssohns Gestalt in einem neuen Licht, in dem sie sich unserer Erfassung nicht mehr ganz entzieht. Wir erkennen: dies klare, durchsichtige Menschenbild erhebt sich über einem Abgrund letzter Schicksalhaftigkeit, vor dem er erst die ganze Strenge seines Umrisses entfaltet. Mendelssohn war kein gleichmütiger, leidenschaftsloser, lebensschwacher Mensch, dessen ursprüngliche Lebensform kühle Abgeschlossenheit war: er war ein Mensch des Schicksals, der Verhängnisses, ein dämonischer Mensch im Sine des sokratischen Daimonions, des Getriebenseins von einer inneren übermächtigen Notwendigkeit. Ein weniger verhängnisvoller, weniger machtvoll getriebener Mensch hätte auch bei der gewaltigsten Willenskraft – obwohl auch diese selbst schon dem Daimonion seiner Natur angehört – gar nicht das Material besessen, der Geschichte eine lebendige Wirklichkeit einzuverleiben, in der die widerstrebendsten Kräfte zu jener einzigen, nur in seiner Weltstunde möglichen Harmonie zusammengezwungen waren. Denn das echte Daimonion ist immer persönlicher Ausdruck geschichtlicher Notwendigkeit. Daß Mendelssohns stille Weisheit und Klarheit mit dem Einsatz seines Lebens errungen war, das ist auch bei Lessing in dem großen Brand, der Nathan alles genommen hat, bevor er zu der jetzigen ruhevollen Gestalt seines Daseins kam, unverkennbar angedeutet. –

Heute, wo die von Mendelssohn geprägte Lebensgestalt in einer Katastrophe ohnegleichen zusammengebrochen ist, steht Mendelssohn in all seiner klaren, überschauenden Weisheit vor uns als eine tragische Gestalt. – Aber welche große geschichtliche Gestalt wäre in diesem Sinne nicht tragisch? Jede steht in ihrem eigenen Horizont; kein Mensch, wie weit sein Blick reiche, sieht bis ans Ende. Und die Horizonte wechseln unaufhörlich. Denn die Geschichte setzt sich ja nicht aus den Taten großer Männer zusammen; sie ist noch weniger ein Rechenexempel oder ein kausal zu verstehendes Geschehen, sondern indem sie die menschlichen Taten aus sich hervortreibt und in ihren Strom unablässiger Verwandlung zurücknimmt, zieht sie ihnen durch ihr eigens Wandlungsgesetz ihre Grenze. Jede Idee und jede Tat wandelt sich sofort im Strom des geschichtlichen Lebens, wird, einmal von ihm aufgenommen, zu etwas anderem als dem, als das sie gewollt und gemeint war. Und war sie überhaupt „gewollt“ und „gemeint“? Steckt nicht hinter jeder Tat eines wahrhaft geschichtlichen Menschen der Dämon, der ihn treibt? Hätte der dreizehnjährige Knabe, der an einem Tag des Jahres 1740 durch das Rosenthaler Tor in Berlin einzog und der mit seiner ersten Tat schon die eiserne Willenskraft und die Leidenschaft zum Geist bekundete, die über das Schicksal einer Epoche entschieden, – hätte er, der nicht Wissende, sondern Getriebene, an der Schwelle zu dem neuen Leben umkehren sollen, das mit ihm ganz anderes vorhatte, als er ahnte?

Es ist nicht nur unfruchtbar und sinnlos – es ist eben aus diesem Grunde auch unfromm, ein geschichtlich Gewordenes, in dem hohe Werte sich verwirklicht haben, um dessentwillen, was aus ihm geworden ist, zu verwerfen. Es ist auch keineswegs die Vorbedingung zur Umkehr. Sondern diese liegt in der Einsicht in das Vergangene. Jede Zeit kann in der Geschichte nur da an das Geschehen anknüpfen, wo es ihr zum Begreifen übergeben ist. Denn der Mensch ist nach der Vergangenheit zu sehend, aber unwirksam; nach der Zukunft zu blind, aber wirksam. Darum bleibt ihm der Vergangenheit gegenüber nur das Verstehen, der Zukunft gegenüber nur die Tat.

Auf die in dieser Struktur beschlossene Aufgabe alles geschichtlichen Daseins weist uns ein tiefes Doppelwort aus der Engellehre des Maimonides hin: „Die Kräfte sind alle Engel.“ – Und weiter: „Kein Engel vollzieht zwei Aufträge, und zwei Engel vollziehen niemals zusammen einen Auftrag.“ Das bedeutet, daß jedem geschichtlichen Augenblick sein besonderer Bote zugeteilt ist, und daß diesem nur ein einziger Auftrag gegeben wird, daß ferner nie zwei Boten zugleich kommen können, weil sie nicht gemeinsam einen Auftrag vollziehen können, so daß es eine Unmöglichkeit ist, daß zwei Aufträge gleichzeitig an den Menschen gelangen.

Aber Maimonides hat auch ein anderes eng damit Verbundenes schon gewußt, das in unserer Zeit ein deutscher Dichter: Rilke, wieder ausgesprochen hat: daß jeder Engel furchtbar ist. Denn jeder Bote Gottes bedeutet einen Anruf auf Leben und Tod, eine Aufgabe und eine Versuchung, der gegenüber der Mensch versagen oder standhalten, der gegenüber er unterliegen oder siegen kann.

Der eine Aufruf, der als Aufgabe und Versuchung an Moses Mendelssohn gelangte, war der der Vereinigung des jüdischen und des deutschen Geistes unter dem lichten Gestirn der Vernunft. Weil diese Aufgabe eine aufbauende, schöpferische war, darum wandte bei aller Schwere seines Lebens der Engel seiner Stunde ihm ein schönes und strahlendes Antlitz zu, wurde er der ihm einwohnenden dunklen Gewalt und Furchtbarkeit erst inne, als er von ihm an den Rand des Abgrunds gedrängt wurde und weder zur Rechten noch zur Linken ausweichen konnte. Aber dies Dunkel hatte für ihn noch keine klare Gestalt, war ein bloßer schattenhafter Umriß, der sich finster vor ihm aufrichtete: er konnte nur die Botschaft seiner Stunde vernehmen; es konnten nicht zwei göttliche Boten zu ihm gelangen, und der eine Bote konnte ihm nur den einen Auftrag bringen.

Der Auftrag, der an die heutigen deutschen Juden ergangen ist, ist der genau entgegengesetzte der Auflösung und Zersprengung ihrer Lebensgestalt. Weil dieser Auftrag kein aufbauender, sondern ein ganz und gar zerstörender ist, darum hat der Bote dieser Stunde ihnen nicht ein helles, strahlendes Antlitz zugewendet, sondern das des furchtbarsten Dämons, den je die Erde getragen hat. –

Oder ist diese Schicksalsstunde schon vorüber? Steht heute das Judentum, steht die Menschheit wieder vor anderen neuen Entscheidungen? Dann dürften wir heutigen gebeugten Menschen eine Hoffnung auf ein Kommendes gerade aus dem Schicksal Mendelssohns schöpfen: daraus, daß auch er in all seiner strahlenden Gewißheit in den Abgrund einer finsteren Ungewißheit gestellt war, deren Bote ihn mit seinem schweren Flügelschlag erst streifte und in den erste die heutige Generation abgestürzt ist. Als der geschichtlich Horizont des klaren Tages, in dem Mendelssohn lebte, durch den Anruf aus der ganzen Wirklichkeit jäh vor ihm zerbrach, überfiel ihn aus dem Geheimnis einer dunklen Zukunft die Nacht der Schwermut. Der geschichtliche Horizont unserer finsteren Welt könnte nur durch das Licht eines neuen Tages durchbrochen werden. nach diesem durchgehenden Gesetz der geschichtlichen Gezeiten dürften wir gerade in der Nacht der heutigen Stunde den ersten Flügelschlag eines neuen Tages ahnen, dürften wir in dem ungeheuren geschichtlichen Umschwung unserer Welt aus der weitesten Entfernung uns wieder einer Wahrheit zugeworfen fühlen, die sich in verwandelter Gestalt wieder mit der unserer Zeit am tiefsten entgegensetzten: der allmenschlichen Wahrheit Mendelssohns berührte.

Es könnte vielleicht ein Augenblick kommen, wo aus der verzweifelten Sehnsucht einer Welt sein schlichtes Wort: „In welcher glückseligen Welt würden wir leben, wenn alle Menschen die Wahrheiten annähmen und ausübten, die die besten Christen und die besten Juden gemeinsam haben“, wo dies Wort, das wir nicht einfach übernehmen können, weil ihm heute die Wurzelung der Tiefe in einer gemeinsamen Wahrheit fehlt, in einer neuen allmenschlichen Wahrheit wieder Wurzel schlüge und lebte.

Und diese Hoffnung hängt trotz allem für uns heutige Menschen nicht ganz im Leeren: die Vorbedingung für eine neue allmenschliche Wahrheit, die in verwandelter Gestalt jenes Wort wieder zu tragen vermöchte, sind in unserem Wissen selbst gegeben: sie sind gegeben in dem in unserer Zeit unendlich vertieften und erweiterten Bemühen um eine neue Erfassung der menschlichen Existenz, der heute alle, auch die einander entgegengesetztesten Wissenschaften, zum Teil fast wider Willen, dienen. Welche Öde und Unfruchtbarkeit umgab im vergangenen, über den Menschen weithin beruhigten Jahrhundert das Gebiet der sogenannten objektiven Wissenschaften! Heute sind sie alle, auch die scheinbar abstraktesten, aus dem Bereich des nur Objektiven herausgetreten, haben sie alle gemeinsam, hat in unserer technische verwüsteten Welt sogar die Physik, hat ebenso alle echte Kunst unserer Tage diesem die Grenzen dem menschlichen Daseins neu und anders absteckenden Wissen gedient.

Ob die neue allmenschliche Wahrheit, auf die dies ganze Wissen letzthin zielt, in unserer Welt wirklich reifen, ob sie aus der Wahrheits- und Weltzerstörung unserer Zeit in einer neuen, verwandelten Gestalt erstehen wird, ist unsicher wir die Zukunft alles Ausgesäten; die Aussaat dieses neuen Wissens ist durch die Verwüstung der Erdreichs, in das sie fällt, tiefer als jede andere in Frage gestellt. Wer vermöchte heute schon zu sagen, ob die Menschheit den ungeheuren Schaden an ihrer Seele, den sie sich zugefügt hat, überstehen, ob das von allen Leidenschaften verwirrte und geschändete Menschenleben wirklich die ihm heute erschlossenen vertieften und erweiterten Wahrheiten in sich wie in einer klaren Schale aufnehmen und zur Einheit einer allmenschlichen Wahrheit wird sammeln können?   

Wir erkennen und wissen nur das Eine: der Mensch kann so, wie wir heute leben, nicht leben. Er muß seine Gegenwart verneinen; er kann um dieser Gegenwart willen die Vergangenheit nicht bejahen. Ihm wahrlich bleibt allein die Zukunft, bleibt allein der Auftrag, den der Eine Bote ihm bringt. Aber auch dies noch erkennen wir klar: nach der grauenvollen Zerreißung der Menschheit, die uns Heutigen widerfahren ist, kann allein eine allmenschliche Wahrheit das unsere Not wendende Geschenk sein, das der Engel unserer stunde uns zuträgt, das Geschenk, von dessen Ergreifen oder Nichtergreifen das Schicksal der Menschheit abhängt. Und darin: in dem reinen Lauschen auf den Auftrag, in dem Ergreifen eines neuen geschichtlichen Gebots können wir auch heute noch und gerade heute wieder von dem großen Manne lernen, der an der anderen Seite des Weges stand und durch seine Tat den Weg eröffnet hat, der in den Abgrund führte, aus dem für uns heutige Menschen der Zwang zu einer neuen geschichtlichen Entscheidung aufsteigt.