Leo Tolstoj. Ein Vortrag
In: Neue
Wege 43, 1949
Der Einbruch der großen
russischen Dichtung in Westeuropa etwa um die Jahrhundertwende war wie der
Einbruch eines glühenden Lavastroms aus dem vulkanischen Erdinnern in eine beruhigte
und erstarrende Welt. Die europäischen Geister, die auch diese Erstarrung zu
lösen suchten, die auch mit dem Wort Freuds „am Schlaf der Welt gerüttelt“
hatten, waren trotz allem Europa noch vertrauter, sie sprachen noch mehr seine
Sprache als die Menschen dieses noch unerschlossenen, unmittelbarer und
rückhaltloser dem Wirklichen aufgeschlossenen Volkes, dem das, was dem
europäischen Durchschnittsmenschen am meisten am Herzen lag, das Entlegenste
und Unwichtigste, und das dem gewöhnlichen Europäer Fremdeste das Nächste und
Dringlichste war. Es stammt nicht aus einem Roman Dostojewskijs, sondern aus
dem weit zurückliegenden mündlichen Bericht eines Russen, daß es im damaligen
Rußland durchaus nichts Erstaunliches war, wenn irgendein Mensch einen andern
plötzlich um 2 Uhr nachts aus dem Schlaf läutete, um ihn zu fragen, ob er an
Gott glaube, und daß der aus dem Schlaf Aufgescheuchte dies durchaus natürlich
fand, weil auch ihm die Frage nach Gott wichtiger war als sein Schlaf.
Man kann diesen intensiveren,
in Beziehung auf das Wesentliche und Letzte soviel realeren Menschtypus nur
verstehen, wenn man sich wenigstens andeutungsweise die geschichtliche
Entwicklung Rußlands vergegenwärtigt, in der das Verhältnis des Menschen zum
Wirklichen: zu de bestehenden Gewalten und zum Absoluten selbst sich in anderer
Weise als in Europa geformt und verwirklicht hat.
Der russische Staat in seiner
nicht nur geographischen Weite und Ungegliedertheit, seiner gigantischen
Einheitlichkeit und Macht, der von dem ersten Herrscher Rurik an (862-879) nie
seine Gestalt gewechselt hatte, hatte für die russischen Menschen weit eher die
Selbstverständlichkeit eines Naturgebildes oder einer von Gott gesetzten
Wirklichkeit als den Charakter seiner menschlichen Einrichtung, wie ihn die
kleinen zahlreichen, sehr verschiedenen und wechselnden Staaten Europas für die
Europäer hatten. Und ebenso war die Kirche
seit Byzanz, seit den Zeiten Konstantins, unverändert und ungespalten die
gleiche geblieben, so daß auch ihre Macht über die Menschen von einer ganz
andern Stabilität und Selbstverständlichkeit war als in Europa, wo die
Bekenntnisse, vor allem durch die eine große Kirchenspaltung, dann aber auch
weiterhin vielfach wechselten und einander bestritten. Und dieser doppelten
Festigkeit der Überlieferung kam auch die durch die lange Abgeschlossenheit
Rußlands bedingt andere russische Geistesentwicklung entgegen. Die griechische
wie die römische Antike und dann die Renaissance beider, die am
entscheidendsten den Geist und das Leben Europas geprägt hatten, waren dem
russischen Geistesleben fremd geblieben, so daß sie, als sie dann spät, im 16.
und entscheidend erst im 17. Jahrhundert, schon vom modernen Europa
umgewandelt, in Rußland eindrangen, auf einen ganz andern Menschentypus
auftrafen, in dem auch das beiden Welten Gemeinsame: das Christentum sich in
ganz anderer Weise gestalte hatte. Es gab in Rußland nicht wie in Europa einer
Fülle großer gedanklicher, metaphysischer und politischer Systeme. Und das
russische Christentum hatte nicht wie das Europas eine große Theologie und
Philosophie ausgebildet; es hatte statt dessen ein unmittelbar christliches
Leben und in ihm eine Fülle lebendiger religiöser Typen geschaffen: den Typus
des Büßers, des Pilgers, der zahlreichen Sektierer, des östlichen Mönchtums,
und ich ihm die Europa so fremde und neue Gestalt des klösterlichen und doch
ganz mit der Welt verbundenen Staretz, der die Sphäre des Heiligen tief in das
tägliche Leben der Menschen hineintrug und der dann in der Dichtung
Dostojewskijs eine so einzige Bedeutung gewann.
Durch diese im Weltlichen wie
im Geistlichen andere geschichtliche Entwicklung wurde das Neue, das mit den
europäischen Geistesgehalten in Rußland eindrang und sogleich begierig
aufgenommen wurde, dort in einer ganz anderen, intensiveren und realeren Weise
verarbeitet. Alles, was in Europa Idee
und Gedanke war, wurde in Rußland
sogleich Gestalt und Wirklichkeit: mit der wilden und
ursprünglichen russischen Leidenschaft gelebtes wirkliches Leben. So allein ist
das immer wieder erstaunliche Phänomen zu erklären, daß der russische
Nihilismus, die Gestalt des russischen Nihilisten, lange Zeit für Europa ein
fremdartiges und bedrohliches Schreckgespenst war, während doch der Nihilismus
ein Produkt des europäischen Geistes war, die nihilistischen Gedankengänge von
Europa nach Rußland gekommen waren. Was dann aber in Rußland sogleich Leben und
Wirklichkeit geworden war, das blieb in Europa noch Jahrzehnte lang in die
Gestalt von Gedanken und Problemen verhüllt und trat in der Wirklichkeit erst
ein halbes Jahrhundert später in Hitler als das bis zur Unkenntlichkeit
verzerrte geistige Erbe Europas hervor.
Teils in begeisterter Aufnahme,
teils in ursprünglicher Ablehnung, und in beidem verwandelt, formte sich so das
Bild des neuen russischen Menschen und jener neuen russischen Gesellschaft, wie
wir sie am klarsten und größten in der Dichtung Tolstojs und Dostojewskijs
finden.
Der Schauplatz beider
Dichtungen ist so die von der europäischen Auflösung schon durchsetzte und
damit selbst in rascher Auflösung begriffene russische Gesellschaft gegen das
Ende des letzten Jahrhunderts, die sich beiden im Zerfall aller Werte und
Ordnungen als das reine Nichts enthüllt. Aber das Nichts ist bei beiden nicht
einfach dargestellt und angenommen; diese Dichtung ist zugleich ein einziges
Ringen mit dem Nichts. Sie ist ein einziger mächtiger Jakobskampf mit der die
Seele antretenden dunklen Gewalt des Nichts um ihren Segen. Es ist, so
verschieden es sich bei beiden abspielt, ein Ringen von wahrhaft biblischer Wucht.
Und diese Wucht und Mächtigkeit stammt daraus, daß beide als moderne, allem
neuen Leben und Wissen aufgeschlossene Menschen die tödliche Gewalt, mit der
sie ringen, nicht nur in der Welt um sie her, sondern auch – und vielleicht am
tiefsten und mächtigsten – in ihrer eigenen Brust finden.
Tolstoj ist 1828, sieben Jahre
nach Dostojewskij geboren und fast drei Jahrzehnte später, 1910, gestorben.
Trotzdem scheint uns sein Werk heute schon um ein Stück weiter im Hintergrund
zu liegen. Teilweise liegt das daran, daß die Gesellschaft, die er in seinen
großen Romanen darstellt, fast durchweg die der russischen Aristokratie ist,
die Dostojewskij die letzte „schöne“, d. h. noch in festgeprägten Formen
lebende, Gesellschaft nannte, und die zugleich als Landadel durchweg noch einen
ländlichen Hintergrund hat. Tolstoj ist selbst noch ein in seiner Wurzel
ländlicher Mensch, ein Mensch von jener gewaltigen russischen Naturkraft, die
allein schon es dem städtischen Europäer unmöglich macht, sein Leben mit den
gewohnten Maßstäben zu messen.
Es ist, als wäre ich ihm der
längst verstorbene Natur- und Waldgott Pan in der russischen Steppe noch einmal
erwacht. Wie wild und dunkel ertönt seine Flöte aus dem Herzen der Natur
selbst! Wie stark, von wie unerhörter Schönheit und Frische sind seine mit fast
göttlichem Realismus gezeichneten Landschaften, die auch als halb schon vom
Menschen geformte den ganzen Duft und Zauber der Wildnis atmen! Wie
leidenschaftlich ist der Jäger! Wie beschützt und mehrt er seine Herden, wie
kennt und liebt er jedes seiner Tiere, wie seltsam und tief hat er die Tierwelt
verstanden! Wie ganz und rauschend ist er selbst Wildnis und Fülle, Kraft und
Natur! Vor vielen Jahren hat Rilke in einem Brief an einen französischen
Dichter über seine erste Begegnung mit Tolstoj die auf einem Spaziergang mit
ihm erlebte Gewalt und Wildheit seiner Bewegungen beschrieben. Es ist mir von
diesen Bewegungen die eine unauslöschlich haftengeblieben: „La manière dont il
arrachait les fleurs.“ Denn derselbe Ungestüm, das gewaltsam Machtergreifende
dieser Bewegung kehrt in allen seinen Lebensäußerungen, seinen oft stürmischen
Tagebuchaufzeichnungen, seinen Briefen, in der durch die Form gebändigten Macht
und Größe seiner Werke, in dem gewaltigen, fast drohenden Antlitz seiner
Spätzeit wieder. In allem erscheint er als der wilde, gehörnte, behaarte Gott
Pan, vor dessen Anblick bei seiner Geburt die eigene Mutter erschrocken
flüchtet, während sein göttlicher Vater ihn zu sich emporhebt zum Olymp.
Und ähnlich ist wirklich das
Leben Tolstojs zwischen den Mächten verlaufen, nur daß umgekehrt nicht die
Mutter vor ihm, sondern er selbst in tödlichem Erschrecken vor der Natur,
seiner Mutter, floh und daß der Weg, auf dem ihn sein göttlicher Vater zu sich
emporzog, nicht ein gerader und einfacher war, sondern daß er als Christ gerade
in der Tiefe seiner mächtigen Natur erst zerbrechen mußte, um den Weg zu seiner
ewigen Heimat zu finden. Aber dies Zerbrechen, dieser Einbruch eines ganz
anderen in sein Leben konnte sich so doch nur vollziehen, weil diesem wilden
panischen Menschen in seiner Kindheit auch schon ein allem Naturhaften
entgegengesetztes Erlebnis widerfahren war, ein sehr bescheidenes Erlebnis, das
dennoch für immer über sein Leben entschied. Es war die Begegnung mit den armen
christlichen Einfältigen, denen eine fromme Verwandte in seinem Elternhaus
dauerndes Obdach gegeben hatte: armselige, bescheidene Kreaturen, Menschen an
der Grenze des Blödsinns, deren Leben einzig im Beten und Weinen bestand; einem
Beten, für das sie nur stammelnde oder überhaupt keine Worte hatten. Welche
Quelle letzter Lebenserschließung in diesen armen stummen Einfältigen für den
jungen Tolstoj aufbrach und darin so nur für einen russischen Menschen
aufbrechen konnte und in seinem Leben unterirdisch immer bewahrt blieb, sagt
uns ein Wort aus seinen Kindheitserinnerungen: „O guter Christ Grischa, dein
Glaube war so stark, daß du die Nähe Gottes fühltest, deine Liebe war so heiß,
daß deine Worte den Lippen entschlüpften, ohne daß dein Verstand sich Rechenschaft
darüber gab. Und da du Gottes Herrlichkeit verehrtest und nicht Worte dafür
fandest, warfst du dich tränenüberströmt zu Boden!“ Niemals bis ans Ende seines
Lebens sollte Tolstoj diese ihn überwältigende Erfahrung aus dem Grunde seiner
Seele verlieren. Aber diese ursprüngliche Erfahrung, in der er für immer den
letzten Lebenswert erkannt hatte, blieb ihm noch lange durch sein eigenes Leben
und Schaffen selbst verhüllt. Das Leben, das er in seiner Jugend führte und das
er in seinen großen Romanen mit dem ganzen großartigen Realismus seiner Kunst
dargestellt hat, war das des reichen unabhängigen Adligen, der, obwohl auch er
seiner Herkunft nach Landedelmann war, damals als Offizier und Weltmann ein
rein städtisches Leben führte. Mit dem ganzen Lebensdurst, der ganzen Gewalt
und Wildheit seiner Natur stürzte er sich in die Vergnügungen und
Ausschweifungen dieses Lebens hinein. Aber nicht nur manche Äußerungen seiner
Kameraden, auch seine eigene schonungslose, realistische Kritik, sein klarer
oft düsterer Überblick über das Ganze dieser glänzenden Gesellschaft beweist,
daß er auch schon damals nicht einfach im Strom dieses Lebens mitschwamm, daß
er in diesem Leben immer zugleich außerhalb blieb, daß er in allem Machthunger
und Schönheitsrausch, aller Ruhmbegier seines Daseins immer mit aller
Deutlichkeit fühlte, daß nicht dies
das ihm gemäße, das den Forderungen seines Innern entsprechende Leben war. Er
vergrub sich in philosophische Studien, führte ein grübelndes Tagebuch, dachte
und dachte. Eine quälende Wahrhaftigkeit zwang ich, alles in sich und um sich
zu zergrübeln, zu zerstören und auf seine eigentliche Wahrheit zurückzuführen,
weil ihm nichts im wirklichen Leben ganz wahr und wahrhaftig erschien. Ein
Geist von zersetzender Schärfe, ein unablässig forschender, zweifelnder,
verneinender Geist, der nichts hinnehmen, nichts ungeprüft lassen konnte: der
ganz auf das Wirkliche gerichtete russische Geist und der Geist des Nihilismus
selbst kamen ihm dabei zu Hilfe. Wie alle Menschen seiner Umgebung, wie die Weltmenschen,
die gebildeten städtischen Menschen seines Kreises, war er ein überzeugter
Atheist. Aber freilich hatte dieser Atheismus bei ihm eine eigentümliche
Grundlage: die Verneinung oder Abweisung Gottes beruhte bei ihm auf der
Gewißheit, daß Gott viel zu fern und viel zu groß sei, als daß der Mensch ihn
irgendwie erfassen und sich ihm in Gebet nahen könne. So war das, was er seinen
Atheismus nannte, paradoxerweise gerade in der Größe Gottes begründet. Und
niemals ist dem Geiste Tolstojs die Gewißheit entschwunden, daß die menschliche
Geschichte als ganze nicht in sich selbst begründet sein könne, daß sie allein,
sich selbst überlassen, keinen Augenblick bestehen könnte.
Sein dichterisches Schauen
selbst drängte ihm diese Gewißheit auf. Während er mit der durchdringenden
Kraft seiner Beobachtung und Selbstbeobachtung, mit der unerhört realistischen
Psychologie, dem menschlichen Tiefblick seiner großen Romane die Welt in
Erstaunen setzte, aus einem Lächeln, einem Blick die geheimsten Regungen des
Inneren zu lesen vermochte, während so sein Blick prüfend und erschließend in
die verborgensten Tiefen der Seelen hinabdrang, drang er zugleich immer tiefer
in das Leben selbst hinab. Im unablässigen Drängen auf das Einfache und Wahre
sah er, durch alle Verirrungen des einzelnen Lebens und Tuns hindurch, alles
Einzelleben übergreifende große Gesamtzusammenhänge.
Die Individuen wurden ihm immer mehr zu bloßen Spielbällen der Gewalten, die
die Menschen im Auf und Ab des Lebens, im unablässigen Werden und Vergehen, in
Anziehung und Abstoßung, Liebe und Haß einander zuschleudern. Die Gewalten der
Geschichte und Gesellschaft wurden ihm so – und dies ist es, was seine Romane,
was vor allem den großen geschichtlichen Roman „Krieg und Frieden“ über den
Roman, die die Gestaltung der Einzelschicksale hinaushebt und zum
weltgestaltenden Epos macht – zu den eigentlichen Helden seiner Dichtung. Es
waren traurige, furchtbare, zermalmende Gewalten. Die Schwermut eines dunklen
Fatums lagert über dieser glänzenden schon halb aufgelösten Gesellschaft, die
im Inneren verworren und leer ist, weil ihre äußerlich noch bestehende, die
Menschen qualvoll bindende Ordnung an keiner höheren Gesetzlichkeit mehr
ausgerichtet ist. Die großen Leidenschaften heben und stürzen die Menschen wie
Wellen des immer gleichen sinnlosen und leeren Lebens, lassen sie auf die
Gipfel steigen oder im Abgrund zerschellen, aber niemals landen.
Aber das Eigentliche und
Hintergründige in den großen Schicksalsgestaltungen Tolstojs ist etwas, das
tief hinter ihnen verborgen ist und nur in Augenblicken plötzlich
hindurchbricht. Immer ist es, als ob er horchte, ob nicht hinter all diesem
blinden und verworrenen Geschehen, hinter seinem Glanz und seiner Trauer noch
etwas ganz anderes stände, ob nicht hinter all dem plötzlich eine verborgene
Tür aufginge und den Blick in eine wahre Wirklichkeit freigäbe. Immer hat er so
in der Ergründung der Seelen und Schicksale und durch sie hindurch eine noch
tiefere Frage an das Leben gerichtet. Aber die Antwort, die er vernahm, war nur
eine leise und ferne und niemals festzuhaltende. In den beiden großen Romanen
seiner Reifezeit „Krieg und Frieden“
und „Anna Karenina“ wird eine solche
Antwort einen Augenblick lang vernehmbar. In großen Meer der geschichtlichen
Ereignisse, das sich in „Krieg und Frieden“ vor uns ausbreitet und aus dem sich
nichts endgültig heraushebt, weder Freude noch Trauer, weder Liebe noch Schuld,
bleibt ein einziger Augenblick haften, der den Helden aus der Problematik
seines zeitlichen Daseins in ein Ewiges heraushebt. Es ist der Augenblick, in
dem der junge Fürst Bolkonsky, selbst ein Fragender und ein Trauernder, schwer
verwundet auf dem Schlachtfeld ausgestreckt, plötzlich über sich die stille,
lichtgraue Unendlichkeit des Himmels gewahrt, die er nie vorher so hoch und
licht als die Ewigkeit selbst gesehen hatte und die ihm nun plötzlich als der
Friede, als die friedvolle Lösung seines ganzen ruhelosen Lebens aufgeht.
Bolkonsky kehrt wieder in sein gewohntes Leben zurück; nirgends wird von einer
Wandlung gesprochen; aber unsichtbar und unausgesprochen scheint die Erfahrung
dieses Augenblicks sein Leben und seine Liebe umzugestalten.
Krasser noch, schonungsloser
als selbst im Kriegsgeschehen ist im Gesellschaftsroman „Anna Karenina“ die
Vergeblichkeit und Nichtigkeit menschlichen Schicksals dargestellt. Aber auch
hier kommt ein Augenblick, in dem plötzlich die verborgene Tür aufgestoßen wird
und der Atem einer andern Welt hereinweht. Es ist der Augenblick an Annas
Sterbebett, in dem die Menschen aus der Welt der leeren Konvention und des
bloßen Scheins durch die Todesnähe aufgerüttelt werden, in dem jeder dieser
oberflächlichen Gesellschaftsmenschen liebevoll und einfach und fast zum Engel
wird, und mit der Güte eines Engels jeder dem andern vergibt.
Aber auch diesmal geschieht
dasselbe: die Sterbende wird gegen alle Erwartung wieder gesund, und das
gewöhnliche Leben geht weiter; alle alten Probleme brechen neu und noch tiefer
auf, alle unlösbaren Fragen sind wieder gestellt. Es war auch in Tolstojs
eigenem Leben so: nach jedem großen Augenblick schien sein Leben und sein
Arbeit weiterzugehen wie bisher. Bis auf einmal der Sturmwind kam, der die
unsichtbare Tür mit solcher Gewalt aufstieß, daß sie sich nie mehr schließen
konnte und die Gewißheit, die ihn aus ihr antrat, sein ganzes Leben wandelte.
Tolstoj hatte seine beiden
großen Romane im Glück und Frieden seiner, wenn auch gewiß nicht problemlosen
Ehe – denn Probleme und Problematik waren mit Tolstojs Dasein gegeben – , aber
doch in der Ehe mit einer liebenden und geliebten Frau, auf dem ihm teuren
väterlichen Gut unter einer um ihn her aufwachsenden Kinderschar geschrieben.
Er war zu jener Zeit schon ein weltberühmter Dichter, den die Besten seiner
Zeit bewundernd verehrten. Er besaß Ruhm, Reichtum, Liebe, Macht und eine Umgebung,
die seinem Herzen Heimat war.
Und zu eben dieser Zeit
überfiel ihn plötzlich ohne erkennbaren äußeren Grund eine aus dem Abgrund des
Lebens selbst aufsteigende Schwermut: aus der Tiefe unterhalb seines
glücklichen, reichten, liebeerfüllten Lebens rauschte etwas Fremdes, Drohendes,
schon von jeher sich ihm und seinen Werken Aufdrängendes, aber stets
Zurückgehaltenes übermächtig auf. Und wie er ihm ganz ins Auge blickte, es mit
seinem eigensten Namen nannte, war es der Tod.
Am Tode, and der Todesnähe war
Tolstoj von je alle Sinnlosigkeit und aller Sinn des Lebens klar geworden. Alle
großen Augenblicke seiner Dichtung, die die gewöhnliche Ordnung der Dinge
aufheben, stammten aus der Nähe des Todes. Immer war in ihnen der Tod als ein
Übermächtiges aufgebrochen, das das Leben der Menschen von Grund auf in Frage
stellte und dann wieder verebbte und entschwand. Aber diesmal entschwand es
nicht wieder: der Blitz, der ihn in diesem Augenblick traf, fuhr in die Krone
des mächtigen Baumes und veränderte für immer seine Gestalt. Der von diesem
Blitz Getroffene war ein anderer, als der er vorher gewesen war.
Es ist schwer zu ergründen und
zu deuten, was sich in diesem Augenblick in Tolstojs Leben vollzogen hat, was
sich ihm als die Gewißheit aufgedrängt hat: „Ich gelangte plötzlich an einen
Abgrund, wo ich sah, daß nichts als Untergang vor mir lag.“ Denn ist nicht dies
die Lage des Menschen überhaupt? Der Mensch weiß, daß er ein sterbliches Wesen
ist, das in jedem Augenblick vor dem Untergang steht. Aber dies ist nicht die
ganze Wahrheit. Das Menschenleben besteht ja darin, daß es nicht nur Tod,
sondern auch Leben ist, daß in ihm der Tod in jedem Augenblick zugleich auch
vom Leben aufgehoben ist. Und dies nicht nur vom Gefühl, von der Fülle, vom
Rausch des Lebens, sondern auch vom Gesetz des Ganzen aus. Das einzige, das wir
Sterblichen dem Tod und der Verzweiflung des Todes entgegenzusetzen haben, ist,
daß wir ich, der im Einzelleben als sinnlose Grausamkeit erscheint, in das
Ganze des Lebens als ein Sinnvolles, als ein höheres Gesetz einzuordnen
vermögen. Darauf beruht jede Religion, jede Metaphysik.
Es war das Entsetzliche an
Tolstojs Todeserlebnis, das so ganz der Vehemenz seiner Natur entsprach, daß in
ihm der Zusammenhang zwischen Leben und Tod durch die Gewalt des Erlebens
selbst zerrissen, daß der Tod als ein vollkommen Isoliertes aus dem Ganzen des
Lebens herausgeschleudert war, das wie ein riesenhafter schwarzer Fels einsam
aus der Flut des Lebens herausragte und allein noch dem Auge erblickbar war.
Und da, wo der Tod das allein noch Wirkliche war, gab es vor dem Tod kein
anderes Ausweichen als in den Tod. „Der Gedanke an den Selbstmord“, schreibt
Tolstoj in seiner „Berichte“, „war so verführerisch, daß ich alle List gegen
mich selbst aufwenden mußte, um ihn nicht auszuführen. Und so versteckte ich,
glücklicher Mensch, vor mir selbst den Strick, um mich nicht am Balken zwischen
den Schränken meines Zimmers aufzuhängen, wo ich jeden Abend beim Auskleiden
allein war. Ich ging nicht mehr mit meinem Gewehr auf die Jagd, um nicht in
Versuchung zu geraten.“ Daran ist die ganze Gewalt und Ausschließlichkeit von
Tolstojs Todeserlebnis zu ermessen: ihm, dem der Tod das bare Entsetzen war,
war er die einzige Befreiung.
Sicher zeigt jedem Menschen der
Tod ein anderes Antlitz, hält er jedem auch einen Spiegel vor, in dem sich sein
eigenes Antlitz spiegelt. Wie anders mag – um nur ein äußerstes Gegenbild zu
berühren – Mozart, der in seinem kurzen Leben jeden Tag an den Tod und an die
Wirklichkeit des Todes gedacht hat, ihn erfahren haben! Ihm kam der Tod nicht
als ein gewaltsamer Einbruch in sein Leben, ihm muß er als der stete vertraute
Begleiter seines Lebens erschienen sein. Es ist, als wäre das Geheimnis des
Todes durch seine ganze große Musik ausgegossen, deren unsagbarer Zauber
vielleicht gerade darin besteht, daß in ihr immer im rauschendsten Leben leise
und heimlich der Tod mitschwingt. In ihr ist der Tod so rein in das Leben
eingeordnet, daß er selbst Leben geworden ist. Bei Tolstoj aber, wo er auf ein
Leben traf, das sich selbst mit der ganzen Gewalt seiner Natur von ihm abstieß,
mußte der Tod als rein von außen kommender erbarmungsloser Feind alles Lebens
erscheinen und es mit seiner Gewalt auslöschen und vernichten. Am ersten ist
sicher das Todeserlebnis Tolstojs mit dem Buddhas zu vergleichen. Aber von dem
indischen Königssohn erzählt die Legende, daß er in seiner frühen Jugend im
väterlichen Schloß von der Wirklichkeit und ihren Schrecken abgesondert
gehalten wurde, und daß dann die erste Begegnung mit dem Tod ihm mit einem
Schlag die Nichtigkeit alles Lebens offenbarte. Tolstoj dagegen wußte um den
Tod, und er wußte nicht nur um ihn, er hatte ihn erfahren und in seiner
Dichtung einmal schon bewältigt. Und gerade an dieser Stelle seiner
dichterischen Bewältigung scheint mir der einzige Schlüssel zu der gewaltsamen
Todeserfahrung Tolstojs gegeben, scheint eine Deutung wenigstens der Herkunft
dieses Erlebnisses möglich.
In „Anna Karenina“ widerfährt
dem jungen Lewin, der das Abbild Tolstojs und der Träger seiner Überzeugungen
ist, plötzlich ein nah verwandtes Erlebnis des Todes. Aber hier wird es durch
die Liebe zu der geliebten Frau und das schwere und selige Erlebnis der Geburt
seines ersten Kindes überwunden. Damit wird uns durch diese Dichtung die
Deutung nahegelegt, daß der Tod den wirklichen Tolstoj mit so schrankenloser
Gewalt der Vernichtung überfallen konnte, weil in jenem Augenblick die einzige
Macht, die dem Tod die Waage hält: die Liebe, die stark ist wie der Tod, die
erotisch-schöpferische Leibe in seinem Leben ihre zentrale Macht eingebüßt
hatte, so daß der einzige Damm gegen die Überflutung durch den Tod in seinem
Leben eingebrochen war.
Und das eine bestätigt uns
diese Deutung: die Liebe hat von diesem Augenblick an in Tolstojs Leben ihre
Gestalt gewandelt. Und wir erkennen an dieser Wandlung, daß nicht nur das
Spiegelbild, das der Tod ihm zeigte, daß auch der Auftrag des Todes an sein
Leben ein besonderer und einzigartiger war. Diese Wandlung vollzog sich mit
einem Schlage; aber sie war nicht mit einem Schlage vollendet; sie ging einen
langen und vielfältigen Weg. Um einen Ausweg aus der Verzweiflung und
Sinnlosigkeit zu finden, versank Tolstoj zunächst wieder in ein unablässiges
Grübeln, in dem er das Denken aller Zeiten an sich vorüberziehen ließ, einzig um
die Frage bemüht, wie alle diese Menschen es fertiggebracht hatten, trotz dem
Tod und der Todesgewißheit zu leben. Er wandte sich endlich vor allem an zwei
sehr verschiedene und weit voneinander entfernte Geister: Salomo und
Schopenhauer, weil beide so tief die Eitelkeit und Sinnlosigkeit des Lebens
erkannt hatten, und stellte an beide die Frage, warum sie in dieser Gewißheit
ihr Leben nicht von sich geworfen hatten. Bei Salomo fand er die Antwort in
einem epikureischen Leben des Genusses (obwohl freilich durch das Leben und die
Sprüche des Königs, dem Gott ins Herz gegeben hat, zu wissen, was gut und böse
ist, auch noch eine weit tiefere Weisheit hindurchscheint). Bei Schopenhauer
hätte er eine vollkommen eindeutige Antwort gefunden; denn für ihn, dem die individuelle
Daseinsform nur ein täuschender Schein war, wäre das Heraustreten eines
Menschen aus seinem Leben nur das aus einer scheinhaften Form des Lebens, nicht
aber das Heraustreten aus dem Leben selbst gewesen. Es ist überaus
charakteristisch für Tolstoj, daß er, der scharfsinnige Denker, der
Schopenhauer gut kannte, diese Antwort auf seine Frage gar nicht vernommen, sie
in seiner Auseinandersetzung mit dem Selbstmord nicht einmal gestreift hat.
Denn die Antwort, die er suchte, lag
nicht wie die des großen europäischen Denkers in einer metaphysischen
Anschauung des Lebensganzen; was er suchte, war ein Sinn, eine Wahrheit, aus
der er selbst im Angesicht des Todes ein wahres Leben leben konnte und die
zugleich eine Anweisung zur Lebensmöglichkeit für die ganze todgetroffene
Menschheit war.
Darum wandte er sich von der
Weisheit der Weisen aller Zeiten ab, und weil er sah, wie die unzählige Menge
einfacher Menschen und vor allem die einfachen Menschen um ihn her so schlicht und
selbstverständlich ihr Leben lebten, nicht etwa, weil sie um den Tod nicht
wußten, sondern weil sie ihn aus der Gewißheit eines anderen Lebens in ihr
Leben aufgenommen hatten, wandte er sich zu den Menschen des einfachen Volkes,
um bei ihnen die Antwort auf seine Frage zu finden.
Daß sowohl Tolstoj wie
Dostojewskij, wenn auch in sehr verschiedener Weise, den eigentlichen Sinn und
die lebensgestaltende Kraft ihrer Wahrheit beim einfachen russischen Volke
fanden, hat bei beiden den Grund, daß die Gesellschaft, in der sie lebten, in
dreifacher Weise den Lebensgrund verloren hatte, der im einfachen russischen
Volk noch in letzter Tiefe bewahrt war: als lebendige Beziehung zur russischen
Erde, als lebensgliedernde ländliche Arbeit und als der mit beidem verbundene
christliche Glaube, der Leben und Tod und alles alltägliche Tun sichtbar als
seine tiefere und eigentliche Wirklichkeit begleitete.
Der Weg, auf dem beide dies
verlorene Gut wiederzugewinnen suchten, und das Ziel, das sie auf ihm gewannen,
war so verschieden, wie christliche Wahrheit von christlicher Wahrheit sein
kann. Tolstoj hat, da er sah, welche Kraft zum Leben das einfache rechtgläubige
Volk aus der Kirche schöpfte, nach dem Zusammenbruch seines Lebens drei Jahre
lang keinen einzigen Gottesdienst versäumt; er, der skeptische, atheistische
Denker, hat drei Jahre lang in ehrfürchtigem Suchen an allen Formen und
Zeremonien der Kirche teilgenommen.
Bis dann gerade am zentralen
Symbol des Abendmahls seinem allem Wunderhaften, Sakramentalen, Symbolischen
abgeneigten eigentümlich nüchternen Verstand und zugleich auch seinem
leidenschaftlichen, allein auf das unmittelbar Wirkliche drängenden Herzen
aufging, daß auch auf diesem Wege das Heil für ihn nicht zu gewinnen war. Und
doch war auch in der ihm nun falsch erscheinenden Form der fortwährende Verkehr
mit Gott für die Überwindung seiner Verzweiflung nicht umsonst gewesen. Er
hatte dabei die Erfahrung gemacht, daß jedes Mal, wenn er sich dem Gedanken an
Gott näherte, zu dem er den Weg des Glaubens noch nicht gefunden hatte, das
Erstorbene in ihm wieder aufzuleben begann, daß er jedesmal, wenn er sich von
Gott entfernte, wenn der Zweifel an Gott in ihm übermächtig wurde, wieder in
die tödliche Erstarrung zurückfiel. Aus diesem Rhythmus einer lebendigen Gotteserfahrung,
die ihm die allein Leben verbürgende war, erwuchs ihm so ein neues Begreifen
der Beziehung von Leben und Tod zu Gott. „Ich fing an zu begreifen“, sagt er
noch tastend, „daß in der Antwort, die der Glaube gibt, die tiefste Wahrheit
der Menschheit enthalten ist.“ Bevor er selbst noch zum Glauben gelangt war,
hatte er im Glauben die einzige Gegenkraft gegen den Tod erkannt. Aber er tat
auch noch den nächsten Schritt zu der Beziehung dieser Erkenntnis auf sich
selbst. „Und plötzlich sah ich“, sagt er ganz schlicht, „daß ich nur leben
konnte, wenn ich an Gott glaubte.“ Die Gottesgewißheit hatte den Schrecken der
Todeserfahrung in seinem Herzen gebrochen; er konnte wieder leben.
Aber er konnte nur darum leben,
weil er in Gott die Wirklichkeit
gefunden hatte, in der nicht nur sein
Leben, sondern alles Leben gerettet
war, weil er über alle Einzelerfahrung hinaus wußte: „Gott ist das Leben“. Und
damit war ihm Gott nicht nur Leben,
er war auch ein neues Leben: er war
eine überaus strenge Forderung. Mit der Gewißheit von Gott weiterzuleben wie
bisher und aus ihr nicht sein eigenes Leben und das der Menschen umzugestalten,
wäre für Tolstoj undenkbar gewesen. Der Glaube selbst war ihm die Forderung
eines neuen Lebens. Und so gewaltsam war der Bruch zwischen seinem alten und
seinem neuen Leben, daß der große Dichter Tolstoj, einer der größten Künstler
aller Zeiten, dem seine Kunst selbst die Füllte des Lebens gewesen war, nicht
zögerte, diese ganze große Kunst von sich zu werfen; alles, was er bis dahin
geschaffen hatte, aus dem Gericht des Glaubens zu richten.
Es ist eine Tat, der des
heiligen Franz von Assisi vergleichbar, der von einem Augenblick zum andern die
glänzenden Kleider des Vaterhauses von sich warf, um als Bettler nackt und bloß
in die Welt hinauszuziehen. Und sicher war bei dem großen späten Russen dies
jähe Abwerfen des eigenen glänzenden Erbes nur dadurch möglich, daß vom Beginn
seines Lebens an sein Blick doch auch in eine andere Richtung gewandt war als
die der großen europäischen Geister, deren Leben sich in der Gestaltung
erschöpfte und vollendete. Nicht nur nach oben, wohin der Geist ihn trug, nach
unten, wohin das Herz ihn riß, in die Wirklichkeit, die Not, das Dunkel des
Menschlebens war er vor allen zu blicken gezwungen. Und hierfür entschied er
sich nun ganz. So hat die Abkehr von seinem bisherigen Leben, diese Umkehr, die
er aus der Gewißheit des Herzens vollzog, nicht nur die Beziehung zu seiner
Kunst, sondern auch zu seinem und allem Leben gewandelt. An allem und jedem,
was Leben und Wirklichkeit war, vollzog sich durch sein Herz hindurch das
Gericht des Unbedingten.
Dies ist es, was die Verehrer
Tolstojs, was vor allem die europäischen Bewunderer seiner Kunst an ihm
mißverstanden haben. Sie haben ihm den freiwilligen Verzicht auf seine große
weltumspannende Dichtung nicht verziehen. Sie nahmen an, er habe die eine
Leistung der andern gegenübergestellt und sich dabei für die weniger große und
weniger reiche entschieden. Aber es ging hier nicht um das Abwägen eines
Schaffensbereiches gegen den andern. Tolstoj dachte gar nicht daran, daß sein
einfach dem Wahren und Rechten nachgehendes Denken die schöpferische Größe
seiner Kunst, um deren Wert und Bedeutung er selbstverständlich wußte,
erreichen oder ersetzen sollte, etwas ganz anderes stand für ihn auf dem Spiel.
Schon allein, daß er in seinen christlichen Schriften auf alle Originalität
seines Denkens verzichtete, daß er vielmehr immer aufs neue aufzählte, wie
viele Menschen vor und neben ihm schon dasselbe gedacht und ausgesprochen und
ihn so in seiner Wahrheit bestätigt hatten, zeigt, daß es ihm in diesen
Schriften nicht um Größe und Schöpfertum ging, sondern einzig um die Wahrheit,
wie sie sich ihm in seiner Todeserfahrung erschlossen hatte. Vom Unbedingten
aufgeschreckt, erkannte er die Hinfälligkeit auch seiner großen Kunst. Er
erkannte, was alle Bewunderer seiner Kunst nicht gesehen hatten, oder was sie
nicht bekümmert hatte, was zu beheben sie nicht für seines Amtes gehalten
hatten: seine großen Werke waren geschrieben; aber am Leben der Menschen war
nicht verändert. Alles lebte, litt und sündigte weiter wie bisher. Er hatte
keine ihrer Tränen getrocknet und keine Last von ihren Schultern genommen; er
hatte ihnen keinen Weg zu einem besseren, gerechteren Leben gewiesen, und eine
andere Aufgabe als diese gab es für ihn nicht mehr. Hinter dem schöpferischen
Geist des großen Dichters trat unsichtbar und übermächtig die Gestalt des
einfältigeren Christen Grischa hervor. Daß er Christ geworden war, bedeutete
für Tolstoj, daß ihn allein noch das Wirkliche und das Leben im Wirklichen
anging. Sein Herz bangte und brannte darum, daß das Leben der Menschen besser
würde, und dies zu verkünden und zu bewirken, erfuhr er als die ihm unmittelbar
auferlegt Verantwortung. Auch darin haben die Verehrer seiner Kunst, vor allem
wieder die Europäer, seine späten Schriften mißverstanden, die so unendlich
viel einfacher sind als seine Kunst: Tolstoj war nicht ein bloßer sachlicher
Weltverbesserer, der eine neue Moral lehren wollte; nicht nur, daß das Leben
der Menschen gereinigt und gebessert werde, sondern daß er es zu reinigen und
zu besseren habe, war die Forderung seines Gewissens. Die Besserung des Lebens
der Menschen war die Frage seines persönlichen
Heils.
Aber auch wenn wir seine
aufrufenden christlichen Schriften nicht aus seinem eigenen Leben und auch
nicht aus dem Zerfall der Gesellschaft seiner Zeit verstehen würden, müßten wir
sie von unserer heutigen Wirklichkeit aus verstehen. Denn wenn wir heute diese
schlichten, angesichts der inzwischen erlebten Dämonien oft fast zu schlichten,
mahnenden Schriften lesen und sie mit unserer heutigen Wirklichkeit
vergleichen, so sehen wir, wie in ihnen doch die Grundlinien des wachsenden
Verderbens mit solcher Klarheit gezogen sind, daß wir an ihnen innewerden, wie die
Menschheit durch die Nichtbeachtung dessen, was in ihnen gefordert ist, an den
Abgrund der Selbstvernichtung gelangt ist. Dem Dichter die in ihnen vollzogene
Abkehr von seinem bisherigen Schaffen vorzuwerfen, ist, von unserer heutigen
Zeit aus gesehen, dasselbe, wie wenn man einen Menschen, der, ganz in eine
große Arbeit vertieft, plötzlich aufblickend innewird, daß die Menschen um ihn
her einem Abgrund entgegenrasen, vorwerfen wollte, daß er, statt in seiner
Arbeit fortzufahren, in den gewaltigen Schreckensruf ausbricht: „Haltet an!
Geht nicht weiter! Kehret um!“ und daß er, wenn er sieht, daß die Menschen
seinen Ruf nicht hören und ohne Anhalten weiterstürzen, nicht wieder ruhig zu
seiner Arbeit zurückkehrt, sondern ihnen in Todesangst nachrennt und ruft:
„Macht die Augen auf, um das zu sehen, was ich sehe und was ihr in eurer
Verblendung nicht gewahrt!“
Was Tolstoj vor allem am Leben
seiner Zeit entsetzte, war das hemmungslose Anwachsen der Gewalt, die aus ihr
entspringende Verwilderung des Gewissen, die daraus drohenden furchtbaren
Kriege und Katastrophen. In der Gewalt erkannte er den tiefsten Feind der
Menschheit. Und indem er von dieser Einsicht aus auf sein Leben zurückblickte,
wurde ihm klar, daß man ihn seine ganze Jugend hindurch in zwei entgegengesetzten
Wahrheiten erzogen habe: in der des Christentums und der der Gewalt. An diesem
tief verwirrten Knäuel des Gemeinschaftslebens setzte seine schonungslose
Kritik an: ihn suchte er aus der Wahrheit des Evangeliums zu entwirren und zu
lösen. Mit diesem Versuch der Auflösung einer falsch versponnenen Gemeinschaft
stand er, der einzelne, gegen das Ganze, gegen alles und alle. Daraus stammt
das Titanische seiner christlichen Verkündung der reinen Gewaltlosigkeit. Und
doch ordnete, um die durch die ganze Welt und ihre Institutionen verbreitete
Gewalt zu brechen, der mächtige Gewaltmensch Tolstoj sich in schrankenloser
Demut in das Leben einer neuen Gemeinschaft ein, schmiedete er das blitzende
Schwert seines Geistes um zur Pflugschar für das Reich Gottes. Aus der
Forderung der Gerechtigkeit erwuchs ihm ein Reich reiner brüderlicher Liebe. Er
hat neben seinen zahlreichen andern christlichen Schriften zwei Bände über das
Reich Gottes geschrieben, die nicht eine theologische Auseinandersetzung,
sondern ein einziges Ringen seines Herzens gegen die Gewalt sind. im Zentrum
seiner Lehre steht die Forderung der Bergpredigt, dem Bösen nicht mit Gewalt zu
widerstehen. Und diese schwere rein menschliche unerfüllbare Forderung war
nicht nur dem Herzen Tolstojs, sie war auch seinem Verstand unmittelbar
einleuchtend. Wie sein Herz ihn an das Herz selbst als den einzigen Keim des
Göttlichen im Menschen wies, so sagte ihm sein Verstand, daß auch das Böseste
nicht mit Bösem vergolten werden darf, weil sonst die Kette des Bösen, Welt und
Leben zerstörend, ins Unendliche wächst. Nur mit Güte ist das Böse wahrhaft zu
bekämpfen, weil mit ihr die das Böse vernichtende Wirklichkeit des Herzens in
das Menschleben getragen wird. Und indem er so an die Kraft des Herzens allein
von allen Mächten sich wandte, von allen Mächten allein ihr vertraute, verwarf
er alle Formen und Institutionen der bisherigen Kultur: Staat, Kirche,
Eigentum, Gerichtsbarkeit, weil sie alle letzthin auf der Gewalt beruhen. So
war er dem Staat gegenüber reiner Anarchist, der Kirche gegenüber reiner
Ketzer. Er was das Urbild des Anarchisten und des Ketzers, weil er das ganze
Leben allein aus der rein inneren Ordnung des Herzens gestalten will.
Dem großen religiösen
Sozialisten Tolstoj, dem die Gleichheit aller Menschen aus dem Gesetz Gottes
verbürgt war, mußte nichts verwerflicher scheinen als die tatsächliche
Ungleichheit, in der die Menschen leben. Und weil er mit der unbestechlichen
Schärfe seines Blickes für das Wirkliche sogleich die ganze, fest ineinander hängende
Kette der sozialen Zusammenhänge durchschaute, weil er erkannte, daß es
durchweg der Reichtum der Wenigen ist, der den weitaus größeren Teil der
Menschen verarmt und entrechtet, fiel ihm, dem reichen Gutsbesitzer, die Last
seiner ganz persönlichen Verantwortung für immer aufs Herz.
Die Theologie hat dem
christlichen Bekenntnis Tolstojs absprechend den Namen Jesuanismus gegeben,
weil es nicht an Christus, als dem Fleisch gewordenen Wort, sondern allein an
Leben und Lehre Jesu anschließt. Und sicher gleicht Tolstoj in seinem mächtigen
und harten Drängen auf das Wirkliche mehr einem alttestamentlichen Propheten
als einem aus dem Mysterium der Fleischwerdung des Wortes lebenden Bekenner
Christi. Aber durchaus christlich im Sinne des schon dagewesenen Christus ist
sein Herz und sein Glaube an die göttliche Kraft des Herzens. Aus diesem
Glauben hat er die Forderungen der Bergpredigt, die so schwer und unerfüllbar
sind, daß sie von der westlichen wie von der östlichen Kirche stillschweigend
beiseite gelassen worden sind, als die leichtesten und selbstverständlichsten
erklärt, die die Menschen darum so leicht erfüllen könnten, weil sie als
Gewißheit des Herzens ihnen unmittelbar gegeben seien.
Darum hat, wie die Theologie
sein Christentum als Jesuanismus, so die Welt seine Lehre als utopisch und
wirklichkeitsfremd verworfen. Und gewiß hat Tolstoj wie alle Propheten die
ganze Wandlungsunfähigkeit des menschlichen Herzens verkannt, hat er verkannt,
daß die Kraft zur vollkommenen Umwandlung des Lebens nur den tiefsten Gewissen:
den Propheten und Heiligen vorbehalten ist. Daß aber seine Lehre dennoch
keineswegs nur wirklichkeitsfremd ist, sondern auch eine tiefe Kraft zur
Verwirklichung in sich schließt, dafür ist uns in der heutigen Welt, außerhalb
Europas, ein großes Zeugnis erstanden. Gandhi, der große christliche Hindu, der
durch die Kraft des Nichtwiderstehens das Schicksal seines Volkes wandelte,
wäre ohne Tolstoj undenkbar gewesen. In ihm hat wirklich das Herz Tolstojs über
die Welt gesiegt.
Aber das Herz des großen Russen
war nicht, wie man nach seiner Verkündung der Gewaltlosigkeit glauben sollte,
eine milde, sanfte, begütigende Macht; es war ein starkes, ein wildes,
stürmisches, ja, es war ein im Dienste seiner Wahrheit grausames Herz. Wie der
Tod für Tolstoj das Leben in zwei Hälften spaltete, so hat es auch das Gericht
seines Herzens getan. Der Höhenpunkt dieses Gerichtes ist die Erzählung „Die
Kreutzersonate“, mit der er die Jugend einer Generation verstört hat. In ihr
tritt wie nirgends sonst in seinem Werke das Titanische seines christlichen
Ringens hervor. Die Erzählung ist ein einziges gewaltiges Gericht über die
Mächte, die die mächtigsten seines eigenen Lebens waren: den Eros, die
erotische Liebe und die Musik als Inbegriff aller Kunst, die er beide mit so
grimmigem Haß verfolgte, weil er keiner Macht, die nicht Gott war, die Gewalt
über sein eigenes Leben und das der Menschen zugestand. So hat dieser Genius,
der uns Bilder der Liebe und Ehe von einer Zartheit und Innigkeit wie wenige
Dichter geschenkt hat, sich mit der ganzen Wucht seines Zornes gegen Liebe und
Ehe als die verruchteste Sünde gewendet und sie aus dem Leben der Menschen
auszuscheiden gesucht. Er ist damit im Nachtwort zur „Kreuzersonate“ zu der
radikalsten sozialistischen Forderung gelangt, die je in der Welt aufgestellt
worden ist, die selbst das Evangelium, die auch Paulus nicht gestellt hat: daß
kein Kind in die Welt gesetzt werden dürfte, bevor das Los aller lebenden
Kinder gesichert sei. Daß durch diese Forderung der Bestand des Menschengeschlechtes
gefährdet sei, war ihm kein Einwand, weil dies der sittlich-religiösen
gegenüber eine sekundäre Fragestellung war. Nicht das Leben als solches –
hierin scheidet er sich tief vom gleichzeitigen europäischen Denken, von
Nietzsche und aller Lebensphilosophie –, nur das durch die Wahrheit
umgestaltete und geläuterte Leben war ihm ein Wert. Dennoch bleibt gerade durch
das Übermaß, den Radikalismus der Forderung der „Kreutzersonate“ in ihr etwas
Schillerndes. Der große Realist Tolstoj mußte in all seinem Radikalismus
erkennen, daß das in ihr aufgestellte Ideal der reinen Keuschheit nicht auf
einmal und nicht von der Mehrzahl der Menschen zu verwirklichen war. Er hat
darum selbst diesem Ideal das unmittelbar Verpflichtende genommen, indem er es
in die Geschichte, eine Geschichte des reinen Fortschritts, verlegt und in
einer schwer verständlichen Täuschung an seine wachsende Verwirklichung in
seiner Zeit schon geglaubt hat. Wir finden dasselbe eigentümliche Schillern
wieder im Verhältnis zur Verwirklichung seines Ideals in seinem eigenen Leben.
Die Wildheit, der Radikalismus seiner Forderung hat zwar sein Leben verstört,
aber ihre Verwirklichung in ihm verhindert.
Es wäre das eigentliche Los
dieses großen Bekenners gewesen, von der Welt verbrannt, gesteinigt, gekreuzigt
zu werden. Und darin, daß ihm dies, Verfolgung und Märtyrertum, versagt blieb,
hat er scharf und richtig empfunden, daß ihm die eigentliche Krönung seines
Lebens versagt blieb. Hier rühren wir an die tiefste Tragik seines Lebens.
Hätte Tolstoj sein Bekenntnis im zaristischen orthodoxen Rußland ganz zu Ende
gelebt – er wäre zweifellos verbrannt oder totgeschlagen, zum mindesten
verbannt und grimmig verfolgt worden. Aber er, der das Eigentum mit religiöser
Schroffheit verwarf, der den Großgrundbesitz das große Verbrechen nannte, blieb
der Großgrundbesitzer von Jasnaja Poljana; er, der so scharf erkannt hatte, daß
alles, was ihm umgab: die Ruhe, die Sicherheit seiner Person, seiner Familie,
seines Besitzes auf der Grundlage der Gewalt ruhte, verließ sein Heim und seine
Familie nicht; und er, der alle weltlichen Ehren verachtete, blieb der
angesehene Graf und der weltberühmte Dichter, an den sich die Hand der
öffentlichen Gewalt nicht heranwagte.
Tolstoj ist hart darüber
verurteilt worden, daß er nicht seiner Lehre entsprechend gelebt hat – am
härtesten von denen, die sich Probleme wie die seinen niemals gestellt haben,
die niemals wie er mit sich ins Gericht gegangen sind.
Aber er selbst, obwohl er sich
der denkbar größten Einfachheit befleißigte, körperliche Arbeit jeder Art tat,
mit seinen Bauern lebt, ihr Los zu erleichtern suchte und sie unterrichtete,
hat dies Versagen als die große offene Wunde seines Lebens empfunden. Und
niemals ließ ihn dieser Widerspruch ruhen. Die schmerzlichsten Worte, die
schwersten Selbstanklagen des späten Tolstoj sprechen es aus. Immer von neuem
hat er versucht sich loszureißen, allein in die Welt hinauszufliehen, den
russischen Pilgern gleich auf die Wanderschaft zu gehen. Schon 15 Jahre vor
seinem Tode hatte er den Abschiedsbrief an seine Frau geschrieben; sie erhielt
ihn erst nach seinem Tode. Er vermochte diesen Schritt nicht zu tun.
Er vermochte es nicht. Er hat
hierin versagt. Die ganze Schwermut seines verstörten Lebens steht hinter
diesem Versagen. Und nicht der Schwere und Unerfüllbarkeit seiner Forderungen
gab er die Schuld daran, sondern allein sich selbst. Seine ganze tödliche Angst
war, daß dadurch, daß er ihn selbst nicht zu Ende ging, der Weg, den er so klar
sah, den Menschen nicht als der rechte erscheinen könne. „Ich sterbe vor
Scham“, schreibt er in seiner Berichte, „ich
bin schuldig, ich verdiene Verachtung. Ich habe nicht den tausendsten Teil von
dem getan, was nottut, und ich schäme mich dessen, aber ich habe es nicht
unterlassen, weil ich es nicht gewollt, sondern weil ich es nicht gekonnt habe
... Klagt mich an, aber klagt nicht den Weg an, dem ich folge. Wenn ich die
Straße kenne, die mich nach Hause führt, und wenn ich ihr nur taumelnd folge,
ist damit gesagt, daß die Straße schlecht ist?“
Nein, nicht der Weg war es, der
nicht genügte; er selbst war es, der sein Leben nicht mit ihm in Einklang zu
bringen vermochte. Aber ihn von außen darum anzuklagen, ist ein Pharisäismus
ohnegleichen. Wenn man sich seine Lage ganz vergegenwärtigt, so erkennt man,
daß mit dem vollen Gehen dieses Weges von ihm nicht weniger verlangt war, als
daß er das Schicksal, das Gott an Hiob vollzieht, um ihn in die äußerste
Versuchung zu führen: den Einsturz seiner Häuser, den Verlust seiner Güter,
seiner Familie, seines Heims, alles gottgegebenen Segens, der ihm geworden war,
an sich selbst vollziehe. Tolstoj war zu der Zeit, als bei ihm der große
Umbruch geschah, kein freier Mensch mehr; er war nach allen Richtungen gebunden
und in großer Tiefe gebunden, und alle diese Bande zu zerreißen, wäre für ihn
nicht nur Leid und Unglück, es wäre auch Schuld gewesen. So hat er nur das
eine, über das er frei verfügen konnte und das zugleich sein größtes Gut war,
von sich geworfen: seine Kunst. Er hat mit diesem Vonsichwerfen nicht auf alle Kunst verzichtet: er hat nur auch
die Kunst rein in den Dienst seiner Forderung gestellt. Nur eine Kunst, die
allen hilfreich ist, kann er noch wollen und bejahen. „Eine Erzählung oder ein
Lied für Millionen Menschen verfassen, ein Bild für sie zeichnen, ist viel
schwieriger und wichtiger als einen Roman oder eine Symphonie schreiben. Es ist
ein ungeheuer großes und fast unbetretenes Gebiet. Dank solchen Werken werden
die Menschen das Glück brüderlicher Vereinigung kennenlernen.“ Es würde uns
schwer, an eine solche schlichte, allen zugängliche, liebende, helfend Kunst zu
glauben, wenn nicht Tolstoj selbst seine solche in seinen wundervollen
Volkserzählungen und in seinem späten Roman „Auferstehung“ verwirklicht hätte.
Aber er hat darüber die
unaufhörliche Mahnung seines Lebens nicht vergessen. Und eines Tages ertrug er
es nicht mehr. In der elften Stunde noch suchte das große Herz endgültig sein
Heil, betrat der Greis festen Schrittes die Straße nach Hause, der er im Leben
nur taumelnd gefolgt war, und floh, um in Einsamkeit zu sterben, aus seiner
irdischen Heimat hinaus in die dunkle heimlose Nacht.
Die Nachricht von Tolstojs Tod
und die Art seines Todes erfüllte damals – vier Jahre vor dem Ausbruch des
ersten Weltkrieges – die Welt. Man verstand nicht, was vorgegangen war; aber
man ahnte ein Ungeheures. Man sah die wohlbekannte Gestalt des Greises aus dem
Behagen und der Ruhe der gewohnten Umgebung fern von den Seinen hinausirren in
die Nacht. Man fühlte, wenn auch nur dunkel, daß ein gewaltiger, ringender
Mensch im letzten Augenblick alles von sich abtat, um mit dem ewigen Richter
allein zu sein.
Und man begriff, daß ein Mensch
gestorben war, der Leben und Tod aus einer Tiefe gelebt und erlitten hatte, die
für die Menschen stellvertretend gewesen war, daß ein Leben dahingegangen war,
dessen Not und Wahrheit eine dunkle verirrte Menschheit nicht imstande war zu
begreifen, geschweige denn sich anzueignen.
Der innerste Kern dieses
stellvertretenden Lebens, aus dem seine ganze Gewißheit erwuchs, kommt in einer
der schönsten Volkserzählungen Tolstojs zum Ausdruck. Es ist die Erzählung vom
Besuch des Erzbischofs bei den drei frommen Greisen, die auf einer einsamen
Insel wohnen und so bescheidenen Geistes sind, daß sie das Vaterunser nicht
behalten können, ja, daß sie nicht einmal den Namen Gottes kennen und die doch
durch ihre fromme Einfalt so unmittelbar in ein höheres Leben gehoben sind, daß
sie, nachdem er sie verlassen hat, von aller irdischen Schwere befreit,
leuchtend durch die finstere Nacht hinter dem Schiff des Erzbischofs hereilen,
um die vergessenen Worte des Vaterunsers noch einmal zu hören, so daß der hohe
Geistliche seine Belehrung aufgibt und sich tief vor ihrer schlichten
Heiligkeit beugt.
Er weiß um das Licht; sie aber leuchten.
Bei dieser schlicht-gewaltigen Erzählung hat sicher Grischa, der Einfältige,
Pate gestanden.