Das Leiden am Ich

 

In: Der Morgen, Heft 5 (Dezember 1930)

 

Vor allem muß gesagt werden: dies außerordentliche Buch[i] gibt weit mehr, als sein Titel verheißt. Und zwar nach zwei Seiten: einmal spricht es nicht nur vom Leiden am Ich, sondern entscheidender noch von seiner Überwindung; und ferner geht es in ihm nicht um ein Ich im nur subjektiven Sinne, sondern das Ich ist hier gleichbedeutend mit Geist. Nicht aber mit dem Geist schlechthin, sondern mit dem Geist, sofern er sich vom Ganzen des Lebens gelöst hat, sofern er von ihm abgefallen ist und sich rein auf sich selbst gestellt hat. Das ganze Buch dient dem Nachweis der Unfrömmigkeit und Unmöglichkeit dieser Lebenshaltung und der aus ihr erwachsenden Verzweiflung. Aber das ganz Eigentümliche ist: es erbringt diesen Nachweis nicht durch eine Betrachtung von außen, nicht durch irgendeine Art von „Entlarvung“, nicht durch bloße Kritik – sondern es erbringt ihn dadurch, daß es diese Haltung von innen her in den verschiedensten Formen in ihrer eigenen entscheidenden Größe und Wahrhaftigkeit entwickelt. Wilhelm Michel spricht aus tiefstem leidvollstem Wissen um die Loslösung des Geistes; er weiß um ihre Notwendigkeit, ihre mit dem Wesen des Geistes und des Lebens selbst gegebene Verhängtheit. Er weiß, daß in jedem vom Geist erwählten und gezeichneten Menschen einmal der Kampf zwischen Geist und Leben ausbrechen muß – daß jeder Wissende einmal die Phiole voll Andacht heruntergeholt haben muß, und daß er niemals durch eine Rückkehr in die zersprungene Einheit, sondern nur durch den Klang, der ihn zu einem neuen wirklichen Dasein erweckt, dem Leben zurückgegeben werden kann.

Damit ist der Kampf zwischen den beiden Mächten in die untersten Fundamente des Daseins verlegt: er enthüllt sich in seiner eigentlichen Wahrheit als Kampf zwischen Tod und Leben. Der Geist wird zum Tod in der Gestalt aller Mächte und Erscheinungen, in denen er sich dem Leben widersetzt und sich an ihm herauszieht. Alles Dunkle, Verbotene, Dämonische, alle Selbstherrlichkeit und Selbsttrunkenheit des Geistes in uns ist verkappter Tod. Nicht der Geist an sich ist lebensfeindlich; Geist und leben gehören vielmehr in der vollen Wirklichkeit des Menschendaseins zusammen; – aber sobald er, anstatt sich unter die ewige Ordnung der Wirklichkeit zu beugen und damit seine eigene Geschaffenheit anzuerkennen, sich hochmütig isoliert und sich selbst als Beginn und Stifter der Wirklichkeit setzt, die er weder gestiftet hat noch auch nur begreifen kann, muß er notwendig zum Widersacher des Lebens werden; er muß versuchen, dem geschaffenen Leben der Schöpfung, dem er trotzt, eine Schöpfung aus eigener Macht, eine „Gegenwelt“ entgegenzusetzen. Und damit muß in jeder dieser im Abfall vom Leben geschaffenen Welten des Geistes schließlich der Tod gewaltsam ausbrechen.

Der Verfasser geht diesen Gegenwelten, den seltsamen und unheimlichen, traumhaften und trotzigen wegen, auf denen der Geist seine Vormachtstellung zu behaupten und zu befestigen sucht, in vielerlei Gestalt nach. Er tut es im eigenen Leben, in der schweren und dunklen Gefährdung der Jugend im ersten Erwachen des Geistes, er tut es in bestimmten geschichtlichen Epochen wie in der jüngst vergangenen; er tut es im Wesen politischer Machtentfaltung und politischen Sturzes, und er tut es schließlich im Leben einzelner großer, geistesmächtiger, von unerhörten Schicksalen gezeichneter Menschen. Überall enthüllt er die grauenvolle Einsamkeit, das gar nicht Leben-Können des auf sich selbst gestellten Geistes, dem in den hallenden Gewölben seiner selbstgeschaffenen künstlichen Welt nichts anderes antwortet als das Echo seiner eigenen Stimme. Aber nirgends ist das einsam düstere Reich der Gegenwelt verkümmert oder entstellt; überall ist auch die Schöpfung des abgefallenen Geistes noch ausgestaltet mit der ganzen ursprünglichen Würde und Erhabenheit des Geistes. Und mächtiger noch als in der aus verzauberter und zerrüttender Qual, aus Verzückung und Verzweiflung geborenen glanzvollen Schönheit der Gegenwelten zeigt sich die ursprüngliche Würde des Geistes darin, daß auch sein Abfall von der Wahrheit in einem allertiefsten Sinne der Wahrheit dienen muß. „Denn je entschlossener der Mensch eine Illusion darzustellen versucht, desto gewisser und aufschlußreicher wird sein Zusammenstoß mit der Wirklichkeit sein.“

Auf diesen Zusammenstoß kommt alles an. In ihm springt Wahrheit von einer Gewalt der Entscheidung auf, wie sie auf anderen leichteren Wegen nicht zu haben ist. Das Wissen um solche Wahrheit entspringt dem festgelegten Grund dieses Buches. In der Gewißheit, „daß dem Haß des Einsamen die eine Hälfte der Weltwahrheit zu erblicken verstattet ist, nämlich alle Wahrheit der Entlarvung und des Krieges gegen Schein und Maske“, in dieser Gewißheit, daß solcher Irrtum die halbe Wahrheit ist, spricht sich eine tiefe ursprüngliche Frömmigkeit aus. Denn damit ist gesagt: der Zusammenhang auch noch des abgetrennten verirrten Geistes mit der Wahrheit kann nicht durchrissen werden. Die ursprüngliche Berufung zur Wahrheit bleibe auch im abgefallenen Geist noch lebendig. Gott läßt sein Geschöpf nicht los. Der feine Faden, an dem es ihm, an dem es der Wahrheit verbunden bleibt, ist die Echtheit. Sie ist es, die Wilhelm Michel in allem wahrhaft großen Irren des Geistes ehrt. Nie vergißt er den Einsatz, der in den furchtbaren und gewaltigen Wagnissen des trotzenden Geistes geleistet ist. Der Echtheit dieser Wagnisse gehört seine Ehrfurcht und Liebe. Und wenn nach der Schilderung der gewaltigen Gegenwelt Baudelaires, dieser künstlichen hallenden Welt der Metalle, Steine, Rauschgifte, Ersatzmittel und widernatürlichen Ausschweifungen, in denen der Geist ein vom Leben gesondertes Reich fiebernder Genüsse und riesenhafter losgelöster Weltschau sich erschafft, plötzlich das Wort aufleuchtet: „Baudelaire hat mitten in den Orgien der Satansmessen des Gedächtnis an die wahre Eucharistie behalten“, so ist es, als wäre in diesem Wort die Seele des großen Dichters selbst durch die lebendige Liebe gerettet. –

Es ist unmöglich, den Reichtum dieses Buches hier auch nur anzudeuten. Fast jede Seite bringt letzte Erschließungen. Erschließungen in der einschlagenden Gewalt von Worten wie sie nur dem zuströmen, der aus dem Reich des losgelösten Geistes in die lebendige Wirklichkeit durchgebrochen ist und in ihr die Sprache als Geschenk und Werkzeug der göttlichen Liebe und damit der menschlichen Gemeinschaft gefunden hat. – Nur auf die Seiten, die von dem großen Rätsel Kleist handeln, sei noch hingewiesen. Über dies dunkle und unheimliche Rätsel, um das so viele sich gemüht haben, ist nie ähnlich Tiefes und Wahres gesagt worden, weil nur in diesem Zusammenhang, von diesem Ganzen aus, und damit auch erst in diesem Augenblick seine wahre Tiefe offenbar werden konnte. Wilhelm Michel erblickt das Verhängnis von Kleists Dasein in dem, was er als „Tragödie eines Daseins, das so verzweiflungsvoll bis in den Tod hinein um Liebe und um mehr als Liebe werben mußte, weil die Möglichkeit der Liebe ihm selbst als einem rein männlich geistigen wesen versagt war. Darum wird der Weg des Abfalls des Geistes vom Leben hier schicksalsnotwendig zu Ende gegangen bis in den realen Tod. Wir dürfen die Augen vor der Furchtbarkeit dieses Schicksals – wie es Kätchen und Penthesilea von der entgegengesetzten Seite enthüllen – nicht verschließen. Denn: „Es ist Sinn darin; mehr Sinn als viele im Leben Geborgene erfassen. Derselbe Sinn wie im Jubel der letzten Briefe Kleists, wo ein Mensch dem Tode entgegen glänzt wie ein verschütteter Bergmann dem Licht.“

So wird hier allen, auch das Dunkelste und Grauenhafteste, sinnvoll, weil es in einen ursprünglichen Sinn eingestellt ist. Das Buch Wilhelm Michels ist durchaus ein Buch unserer Zeit; es handelt von den Problemen und Nöten unseres Lebens. Und doch ist es eine in unserer Zeit ganz erstaunliche Erscheinung. Und zwar nicht nur darum, weil es bei dieser Problematik, ohne sie irgendwo im geringsten zu übergeben oder zu verkleinern, nicht stehen bleibt, sondern sie zu bewältigen und zu lösen unternimmt – das Erstaunliche ist vielmehr, daß die Lösung schon vor der Frage da ist. Das vollkommen Erstaunliche ist die wundervolle Fraglosigkeit, in der in diesem Buch, in dem alles in Frage gestellt ist, letzthin alles steht. Tiefer kann der Grund nicht aufgebrochen, schwerer, furchtbarer des Verhängnis des ichgefangenen Geistes und seiner Verfehlungen nicht erlebt und erblickt werden – und doch: tiefer als alle Problematik und das Wissen um diese Problematik ist das Wissen um die ursprüngliche Begnadung und Begnadbarkeit alles Wirklichen. „Der Haß ist Exil“; von dieser Gewißheit ist jedes Wort dieses Buches getragen. In ihr hält es alten Verzerrungen und Grimassen des modernen Lebens ein ruhiges, klares, gottebenbildliches Menschantlitz entgegen. Ein Antlitz, in das alle Verwirrungen und Verirrungen, alle Leide und Verzweiflungen unserer Welt eingezeichnet sind und das durch sie und mit ihnen nur um so mehr ein Meschenantlitz ist.  

 



[i] Wilhelm Michel, Das Leiden am Ich. Carl Schünemann Verlag. Bremen.