Vom Krieg und von Gott
In:
Zeitecho. Ein Kriegstagebuch der Künstler, Berlin 1915
Clemens. Ich komme zu Dir. Ich
suche. Sage mir nur das Eine: Glaubst Du, daß Kriege sein müssen?
Gottfried. Glaubst Du, daß Christus
am Kreuz sterben mußte? oder denkst Du, daß es auch anders hätte kommen können?
Clemens. Willst Du den Krieg
so furchtbar verewigen? Willst Du mit dieser Notwendigkeit das Rätsel des
Krieges lösen?
Gottfried. Die Lösung gibt der
Mystiker, der Gott das Nicht-Andere nannte. Er hat damit uns bezeichnet als das
ewig Andere, das einander Fremde, in seinem Dasein Zerfallene. Unser Fleisch
ist Haß; darum muß die Liebe, in der wir eins sind, immer wieder am Kreuz
sterben.
Clemens. Nun aber geschieht
doch das Wunderbare: aus eben dem Haß, der heute die Menschen entzweit, loht um
so gewaltiger die Liebe empor. Es ist, als sei Gott selber aus diesem Hasse,
der ihn töten mußte, auferstanden: noch menschlich zwar, noch nicht ganz zu
sich selbst verwandelt, noch nicht ganz verklärt und darum noch der sehnenden
Berührung letzten Ergreifens sich entziehend, aber doch die auferstandene Liebe
selbst. Ungeheures ist wahr geworden: des Menschen Bild ist vor uns gewachsen;
schlicht und stark wie zum Fest, schreitet er zum Opfer. Kann er sich denn in
Liebe dem Hasse opfern?
Gottfried. Er muß sich opfern,
weil das Leben nicht Raum hat für die Liebe. Wo immer Liebe in unserm Leben
erscheint, muß sie die Form des Opfers tragen.
Clemens. Wem aber gilt dies
Opfer? Christus starb der Menschheit; sie sterben den Nationen. Und was sind
die Nationen? Sind sie nicht selbst die großen Quellen des Hasses?
Gottfried. Sie sind Namen.
Clemens. Namen? Und so wären
all' die unerhörten Opfer, all' die Ströme kostbaren Blutes bloßen Namen gebracht?
Gottfried. Der Name kann nichts
sein und alles. Er ist ein anvertrautes
Gut; er ist eine
Forderung an den, der ihn trägt, ihn zu dem zu machen, was er sein kann.
Clemens. Der Name Deutschland.
– Und doch: ist es nicht Willkür, welchen Namen ich ehre? Sind die Nationen für
den Einzelnen mehr als der bloße Zufall der Geburt, des Dort oder Hier?
Gottfried. Der Name Deutschland.
Du fühlst es selbst, und ich höre, daß Du es fühlst, daß er Dir heute mehr ist
als bloßer Zufall der Geburt.
Clemens. Aber ich verstehe
mich selbst nicht. Ich durchschaue, wie ich es immer tat, das Vorläufige, das
Zufällige der Nationen – und doch bin ich Deutscher, wie ich es nie zuvor
gewesen bin. Ich erschrak', als Du die Nationen Namen nanntest. Deutschland –
das ist mir unendlich mehr als ein Name. Als Namen kann ich es heute nicht mehr
begreifen. Sage mir, was sind die Nationen in Wahrheit? Was sind sie uns jetzt?
Gottfried. Sie sind von den
großen Schemen, die heute Blut getrunken haben. Sie leben vom Blut der Opfer
selbst. Sie waren uns Namen; jetzt, von dem Augenblick an, da sie uns
forderten, jetzt sind sie uns heißestes Leben.
Clemens. Warum aber mußten sie
fordern? Warum mußten sie dies Blut trinken? Sie fordern unser Blut und werden
erst durch unser Blut zu Lebenden? Wofür dieser schaurige Kreis? Warum müssen
sie leben, wenn sie unsere Idee der Menschheit, ihr eines reines Bild verzerren
und zerstören?
Gottfried. Der Abgrund zwischen
unserer Natur und unserer Idee ist unsere Welt – unsere ganze, ungeheure, durch
uns zu erfüllende Welt. Nur das Tun kann sie erfüllen. Von Bildern, Namen,
Symbolen, von allen Gestalten unseres Geistes, und wären es die schönsten und
reichsten, wird unsere Welt nicht zur Welt. Nur Wirklichkeiten können sie
erfüllen – und nur das Tun schafft Wirklichkeiten. Alle Schatten des Abgrundes
lechzen nach unserem lebendigen Blut.
Clemens. Und was sind diese
Schatten?
Gottfried. Sie sind die Gebilde
des Geistes, die er auf seinem Wege zur Idee in den leeren Abgrund wirft.
Clemens. Und die Nation?
Gottfried. Auch die Nation liegt
zwischen unserer Natur und unserer Idee: auch sie ein Bild unseres suchenden
Geistes, auch sie ein Wille, ein Traum, ein Sehnen nach Wirklichkeit. Unsere
Natur: das ist der Einzelne in seiner körperlich empirischen Isoliertheit; unsere
Idee, das ist die Eine vollkommene Menschheit. Dazwischen liegen die Nationen:
nicht mehr das einzelne, körperlich isolierte Individuum – aber noch nicht die
Menschheit. Noch nicht das Nicht-Andere und doch mehr als das Nur-Andere: ein
in sich Eines, ein Ganzes in seiner Schönheit, die der Abglanz des Einen ist –
und doch noch das Andere, das Fremde, das Organische, das noch mit dem Gesetz
des Wachstums in sich selbst, das mit der Häßlichkeit der Feindschaft gegen das
Andere gezeichnet ist.
Clemens. Und seine Schönheit
erfüllt sich im freien Opfer – und seine Häßlichkeit darin, daß es Opfer
braucht.
Gottfried. An beidem aber, an
der Forderung der Nationen wie an der Erfüllung durch das Liebesopfer, an der
Selbstverständlichkeit, mit der es gefordert und gebracht wird, erkennen wir
unseren Weg und unsere Stufe. Es ist die Stufe des Opfers. Als wir den Traum
des Internationalismus träumten, da glaubten viele von uns die durch
Jahrtausende blutiger Kriege bezeichnete Stufe der nationalen Feindschaft überwunden.
Aber auch für uns gilt noch das uralte Wort Salomos: Wie der Scheme im Wasser
ist gegen das Angesicht, also ist eines Menschen Herz gegen den andern. Wir
sind noch das Andere.
Clemens. Wird das nicht von
uns gelten, so lange wir Menschen sind?
Du selbst hast unsere
Welt bezeichnet als den Abgrund zwischen uns und unserer Idee. Wäre der Abgrund
überbrückt, so hätten wir keine Welt mehr.
Gottfried. Unsere Welt ist ein
Weg. Der Weg ist unendlich. Dennoch gehen wir ihn.
Clemens. Wer zeigt uns, daß
wir den richtigen Weg gehen?
Gottfried. Die Idee selbst. Sie
ist „Zeichen ihrer selbst und des Falschen“. Von ihr aus verstehen wir
unmittelbar, was wir sollen und was wir sind. Nur indem wir das Blutopfer der
Nationen im Lichte der Idee, auf dem Wege zu ihr und doch in seiner unendlichen
Ferne von ihr erkennen, lernen wir den Krieg in seinem Leid und in seiner
Größe, in seiner Schuld und seiner Sühne verstehen. Und dies ist die Sehnsucht
und die Pflicht des Geistes. Der Geist geht unserer Wirklichkeit voran und
wirft die Schatten, die wir erfüllen sollen. Jede höhere Stufe, die uns heute
nur mit der Überwindung des menschlichen Wesens selbst erreichbar scheint, ist
dadurch, daß wir sie erblicken, begreifen können, im Leben des Geistes in jedem
Augenblick erreicht. Für den Geist gibt es heute keine Nationen mehr: mit der
Zeit der nationalen Götter ist diese Stufe überwunden. Dort wo auch der Geist
nicht hingelangt, jenseits des Abgrundes n der reinen Idee, ist Gott. In ihm
setzt der Geist sich seine Grenze und in ihm zugleich schaut er sich, wie er
sein soll. Gott ist die Idee des Geistes selbst. Wo Ein Gott ist, da ist Ein
Geist.
Der Geist zeichnet fliegend den Weg, den die lebendige
Liebe schwer durch Blut und Tränen wandelt. Darum ist das, was im Reich der empirischen
Wirklichkeit ein noch notwendiges Geschehen, eine dunkle schmerzhafte Erfüllung
des Wachstums-und Entwicklungsgesetzes ist, im Reich des Geistes Todsünde. Wer
hier nicht rein scheidet, wer durch die Leidenschaft, die das Geschehen
auslöst, verblendet, im Reich des Geistes die Scheidewand des Hasses zwischen
den Völkern auftürmen hilft, der ist ausgelöscht aus dem Buch der Lebendigen
des Geistes. Denn er hat den Einen wahrhaftigen Gott, er hat die Idee des
Geistes: das Nicht-Andere verraten um des Anderen, um nationaler Götter und
Götzen willen. Er hat verworrenen Gebilden einen Teil seines Lebens
dargebracht, das er ganz und unverkürzt dem Einen schuldet, das über unserm
Leben voll Schuld und Weh, voll Haß und Entzweiung, in dem das Opfer noch heute
die einzige blutige Versöhnung ist, als der ewige Friede selber leuchtet, dem
alles Blut und alle Tränen dieser Zeit dargebracht werden.