In: Neue
Züricher Zeitung, 6. und 13.3.1921
Durch die furchtbaren und verwirrenden Geschehnisse der letzten Jahre sind alle menschlichen Verhältnisse, alle Begriffe und Werte ins Wanken geraten. Mit Schrecken sehen wir, wie das, was wir bisher unsere Welt nannten, um uns hier zerfällt. Der gewaltige Riß zwischen den Nationen setzt sich so bis in die einzelnen Beziehungen und Erkenntnisse hinein fort. Denn dieser blutige Riß, der durch das Antlitz der Menschheit klafft, ist ja nichts anderes als die Zerstörung unserer gesamten Kultur bis in ihre letzten und zartesten Verästelungen. Wer weiß heute, ob es je gelingen wird, die europäischen Menschen wieder einander sehen zu lernen? Wir sind heute noch abgrundweit selbst von dem Versuch einer solchen Einstellung entfernt; kaum weniger verhängnisvoll als im offenen Krieg nimmt die Zerstörung in den Fundamenten unseres Lebens ihren Fortgang. Darum erscheint mir in dieser Zeit jeder noch so schwache Versuch zum Verstehen wertvoll.
Vielleicht, daß eine Auswahl von Kriegsbriefen deutscher Studenten einen Beitrag dazu liefern könnte, das Verständnis für einen Teil des Landes zu vermitteln, das während des Krieges die Welt zu Feinden gehabt hat. Die meisten der jungen Schreiber sind früh gefallen. Darum stammen die Briefe fast alle aus der ersten Zeit des Krieges – aus jener Zeit also, als die Haltung der deutschen Intellektuellen der ganzen übrigen Welt am schwersten verständlich war–; aus der Zeit aber auch, als über allen kriegführenden Völkern die Woge des Krieges und der Kriegsbegeisterung mit der ungeheuersten Gewalt zusammenschlug. Kein Kunstwerk kann erschütternder als diese Briefe das äußere Antlitz dieses Krieges wiedergeben; aber auch keines kann mit ähnlicher Gewalt die Opferkraft und Todesbegeisterung seiner Besten enthüllen.
Und doch konnte man dies Fortgerissensein, diese Begeisterung für den Krieg und das
Vaterland gerade bei den deutschen Intellektuellen
nicht verstehen, ja nicht verzeihen. Als der Krieg ausbrach, da erwarteten die
Intellektuellen der anderen Länder ohne den geringsten Zweifel, daß das ganze
intellektuelle idealistische Deutschland sich mit Schauder von ihm abwenden,
daß es sich zu jener europäischen Kulturgemeinschaft der geistigen Menschen
bekennen würde, an die wir alle glaubten, bevor dieser Krieg sie zur Sage
umgewandelt hat. Man war sich der an gemeinsamen Aufgaben erwachsenen und
entwickelten Einheit mit jener Oberschicht so bewußt, man vertraute ihr so sehr,
daß kein Mensch es für möglich hielt, daß diese Schicht die Herausforderung an
die Kulturwelt, die in dem Vorgehen der deutschen Kriegsführung lag, bejahen
könnte. Als nun aber jenes Unerwartete, Unfaßliche dennoch geschah, als
wirklich die gesamten deutschen Intellektuellen jung und alt sich geschlossen
und in voller Hingabe hinter die Sache ihrer Regierung stellten, da verschwamm
das Bild Deutschlands völlig vor den Augen der übrigen geistigen Welt und
verzerrte sich zu einer sinnlosen Karikatur. Was das Ausland schon zuvor an
Deutschland nie hatte verstehen können, das war die immer wieder ins Auge
springende Kluft zwischen der strahlenden Geistigkeit und idealistischen
Reinheit einzelner Individuen und seiner geistverlassenen, jedes idealistischen
Maßstabes baren Realpolitik, die es unmöglich machte, im Deutschen einen
eindeutigen, klaren Typus zu erkennen. Man ließ es vor dem Kriege achselzuckend
damit bewenden. Nun aber fragte man sich: konnte es möglich sein, daß die
deutschen Intellektuellen plötzlich alles vergessen hatten, was ihr Leben
gewesen war, daß sie, die so rein dem Geist gedient hatten, nun wirklich nur
noch an die brutale Sprache der Kanonen glaubten, die ihnen ihr Leben lang so
fremd gewesen war? Oder war jenes in Wahrheit gar nicht ihr Leben gewesen?
Waren sie in ihren Tiefen dennoch ungeistig, roh, machtgierig, kriegerisch wie
jenes äußere verhaßte Deutschland, dem man sie nicht hatte zurechnen wollen
und für das sie doch nun so begierig ins Feld zogen? Waren sie doch einfach
mit Bergsons Wort: die »Barbaren«? Oder war ihre
Seele wirklich jene »ame fangeuse«,
von der Boutroux sprach, die ihre eigenen Ideale
nicht festzuhalten vermochte?
Aber wenn man diese
Kriegsbriefe zur Hand nimmt, so erschrickt man bis ins Herz vor der Tiefe und
Reinheit des Idealismus, vor der seelisch–geistigen Kraft der jungen Menschen,
die sich fraglos für dieses Land einsetzten. Kein falscher Laut in all diesen
Briefen, kein blinder Chauvinismus, keine verzerrte Kriegsbegeisterung, nur ein
tiefinnerliches Ergreifen der Stunde, eine glühende Hingabe und Bereitschaft
ohnegleichen. »Deutschland«, das ist das Zauberwort, um das sich alle Liebe
und Hingabe seiner Besten sammelt. Deutschland tritt an die Stelle des gesamten
Lebens– und Denkinhalts dieser Menschen – Deutschland an Stelle des absoluten
Sinnes. Unter allen diesen Menschen aber ist nicht ein einziger, der sich
fragte, wie dieses Deutschland in Wirklichkeit aussah, für welche Werte es in
diesem Kampfe ins Feld zog. Sie wiesen diese Frage bewußt von sich. Gerade als
das Vaterland seine Menschen zum äußersten Opfer aufrief – gerade da begehrten
sie nichts Einzelnes, nichts Bestimmtes von ihm zu wissen. Sie wußten genug.
Als der Schritt der ausziehenden Brüder, der allnächtlich in den Straßen widerhallte,
zum alleinigen Rhythmus ihres Lebens wurde, als das Wort Krieg mit der
Flammenschrift der letzten Forderung in ihren Tagen und Nächten brannte, da
wußten sie alle nur das Eine.
Was aber bedeutete ihnen denn
dieses Eine: der Name Deutschland? Und wie war es möglich, daß er ihnen allen,
diesen individuell so verschiedenen Menschen verschiedener Berufe,
verschiedener Herkunft und Gesinnung vom Sozialisten bis zum Alldeutschen so
fraglos das gleiche bedeutete? Wie konnte es geschehen, daß kein einziger unter
diesen so tief verantwortungsvollen Menschen aufstand und fragte, ob sich das
Gesollte und das Erstrebte auch in Wahrheit deckten? Es gibt auf die Frage nach
dem bedingungslosen Kriegswillen der Deutschen vielerlei und vielverschlungene
Antworten. Für uns handelt es sich aber hier allein darum, das herauszuheben,
was für das überwältigend gleichartige Verhalten der jungen deutschen
Intellektuellen zu der dunklen und fragwürdigen Tatsache des Krieges das
Ausschlaggebende war – für dieses Verhalten, das allem, was man außerhalb
Deutschlands erwartete, so unfaßlich ins Gesicht schlug. Hier können
Schlagworte wie Kriegspsychose, Massenbegeisterung nur höchst mangelhafte und
oberflächliche Erklärungen sein. Angesichts dieser Briefe geistig hochstehender
Menschen erkennt man, daß in ihrem Denken
selbst, keineswegs nur in ihrem dumpfen Empfinden ein schicksalsmäßig
Gemeinsames, die Gestaltung eines von weither bedingten geistesgeschichtlichen
Verhängnisses sich auswirkt.
Seit Jahrhunderten ist die
deutsche Geschichte durchzogen von dem Zwiespalt, den der übermächtige Geist
Luthers in sie gerissen hat, als er nur durch die Forderung restloser Unterwerfung
unter die Obrigkeit, gleichviel welcher Art und welchen Geistes, dem Ansturm
der durch seine eigene Heilslehre entbundenen weltumgestaltenden Kräfte zu
begegnen vermochte. An den Folgen der Lehre, daß in der Gestaltung des äußeren
Lebens des Menschen freier Geist und Wille nichts zu suchen habe, daß hier nur
schweigsam der höheren Gewalt zu dienen sei, trägt Deutschland durch die
Jahrhunderte hindurch bis zum heutigen Tage. Seine höchste Blüte und sein
tiefstes Elend – beide entspringen gleichmäßig aus dieser Quelle. Denn ein
Doppeltes war damit geschehen: dem deutschen Menschen war hinfort die Verantwortung
für seine äußere Geschichte abgenommen und an deren Stelle der blinde Gehorsam
gesetzt; zugleich aber war ihm mit steigender Gewalt die Verantwortung für
sein eigenes Heil, seine unsterbliche Seele, seinem Geist auferlegt, die ihm
nun keinerlei Organisation mehr abnehmen konnte, wie es bisher die Kirche getan
hatte. – Damit aber gelangte eine Grundkraft des deutschen Geistes zur
Entfaltung: die metaphysische, d. h.
die Kraft, die über alle Erfahrung hinausliegenden
Zusammenhänge des Daseins zu erblicken und in ihnen zu leben. Schlag auf Schlag
begannen nun die großen metaphysischen Systeme die Welt zu erleuchten, in denen
der Geist sich immer mehr aus der Wirklichkeit löste, immer strahlendere
Flügel über ihr entfaltete, während Deutschlands äußere Wirklichkeit darunter
brach liegen blieb und in immer hoffnungsloseres Dunkel versank. Und diese
entgegengesetzte Entwicklung nahm stetig zu; immer gewaltsamer wuchsen Äußeres
und Inneres auseinander. Vollends in den Jahren seit Siebzig, in denen nach außen
ein immer imperialistischeres und materialistischeres Deutschland entstand, zog
sich der Geist noch scheuer und tiefer als bisher in die Innerlichkeit zurück,
ließ er selbst den Sozialismus hier sich wesentlich in geistigen Bezirken
abspielen, nahm er auf der anderen Seite unter dem großen Gegenpol jener Materialisierung und extremen Vergeistiger
der Imperialisierung: Nietzsche immer aristokratischere, esoterischere Formen an. Wie
abgeschlossen, wirklichkeitsentfremdet die innere Welt der geistigen Deutschen
bei Kriegsausbruch dalag, mit welcher verheerenden Fremdheit damals die Wucht
des äußeren Geschehens über sie hereinbrach: das sich auch nur vorzustellen,
ist sicher keinem anderen Volke möglich.
Und dies war vielleicht die
gewaltigste Erschütterung des Kriegserlebnisses für diese Menschen: Nun
plötzlich empfanden sie Boden unter ihren Füßen. Alles war bisher gleichmäßig
zu vergeistigen, zu beseelen gewesen; darum hatte alles den Sinn der
wirklichkeitsschaffenden absoluten Forderung verloren: jetzt war mit einem
Schlage der volle Ernst da, die Wirklichkeit, das, was Simmel damals »die
absolute Situation«nannte.
Der Grundbegriff der
europäischen Philosophie war zur Zeit des Kriegsausbruchs der des Lebens. In ihm war die ganze seelisch – körperliche Hochspannung der damaligen Zeit
zusammengedrängt. Kraft, Aufschwung, Anspannung, schöpferische Fülle – alle
diese Begriffe einer aus sich selbst strömenden Lebendigkeit beherrschten zu
jener Zeit die geistige Welt. Der europäische Begriff des Lebens gewann nun in
Deutschland seine eigentümliche Ausprägung dadurch, daß alle jene Formen einer
an sich wert jenseitigen Lebendigkeit durch die ethisch–innerliche Tradition
des Idealismus hier zugleich als Normen erfaßt wurden. So kam es, daß in
Deutschland das Leben selbst zur sittlichen Forderung wurde: das Leben, in
seiner schöpferischen Kraft, sich selber zu ergreifen: in der Form des Erlebnisses. Das Erlebnis war zu jener
Zeit als die einzige Form der Wirklichkeitswerdung erkannt. In das Erlebnis
ging für diese wirklichkeitslosen Menschen alles ein, was von der Welt aufgenommen
wurde. Außerhalb seiner gab es keine wissenswerte Wirklichkeit mehr. Auch das
Wort Deutschland, auch das Wort Krieg wurde mit dem Augenblick, da es gewaltsam
ins Zentrum des Lebens gerückt wurde, der ganzen geistigen Jugend zum Erlebnis.
Das aber bedeutete, daß man es in sich, in seinem Innenleben erfaßte, es mit
den besten Kräften seines Wesens, amalgierte, unbekümmert zunächst um seine
objektive Wirklichkeit. Was jeder dieser jungen, glühenden Menschen an dem
Wort Deutschland erlebt, was er ihm von seinem Innersten geschenkt hat, das
ist von erschütternder Gewalt und Tiefe. Deutschland war in jenen Tagen die
offene Schale, in die aller Traum und alle Sehnsucht, in die das Blut seiner
besten Menschen ausgegossen wurde, bis sie geheimnisvoll zu glühen begann. So folgten sie alle dem inneren Heiligtum, das sie
an Stelle des äußeren sich erschufen. Dies innere Deutschland war die
Wirklichkeit, in der sie lebten.
Und doch bleibt angesichts der
Irrealität dieser rein metaphysischen Einstellung noch eine Frage zurück. Wie
war es möglich, daß dieser Heroismus der Hingabe nicht sogleich an der ihm so
wesensfremden Tatsachenwirklichkeit zerschellte, in die er doch nun unmittelbar
hineingestellt wurde, die er durch und durch kennenlernte? Wie war es möglich,
daß der Geist dieser Traummenschen so restlos in der verzerrten Kriegswirklichkeit
aufgehen konnte? So extrem der Geist und die Denkweise der deutschen
Intellektuellen und der Geist der deutschen Politik und Heeresleitung
auseinanderlagen – damit sie diese unzerreißbare Einheit bilden konnten, muß es
zuletzt doch einen Punkt gegeben haben, an dem sie sich treffen und
durchdringen konnten.
Und es ist nichts Geringes, was
hier zum Grunde liegt: Es ist der seit Jahrhunderten überkommene und in seinen
Wurzeln aus dem Edelsten und Besten des deutschen Wesens stammende Gedanke der Pflicht. In ihm, der der führende
Gedanke eines lebendigen und wahrhaft großen Preußentums war, der von
Friedrich dem Großen gelebt, von Kant gedanklich begründet wurde, scheinen noch
einmal in Deutschland alle Fäden des äußeren und des inneren Lebens
zusammenlaufen zu wollen.
Doch hier zeigt sich jene seit
Luther immer wiederkehrende eigentümliche Tragik des deutschen Schicksals: daß
diesem Volk aus den gewaltigen metaphysischen Intuitionen seiner Großen selbst
eine Gefahr für die Gestaltung des Gemeinschaftslebens erwuchs, der Völker mit
einfacheren, leichter lösbaren Aufgaben und Begriffen entgehen. Bereits Luther
sprach von der »Freiheit des inneren Menschen«. Machen wir es uns nun klar, was
es für ein Volk bedeuten muß, wenn sein überragendster
Denker, aus dessen Geist alle Quellen der Zukunft hervorströmen,
die ungeheure metaphysische Gleichung ausgesprochen hat: »Freiheit ist gleich
Pflicht.« Welch strenge, grandiose Gestalt mußte in
einem solchen Lande das Freiheitsbild nach der Seite
des Begriffs und welche verschwimmenden, zerfließenden Züge mußte es nach der
Seite der Wirklichkeit hin annehmen! – Diese machtvolle Identifikation Kants
aber beherrschte von nun an das gesamte deutsche Leben, dessen inneren
Forderungen sie genauso entgegenkam wie seinen äußeren. Während sie aus dem
Einzelnen die reinsten Blüten hervortrieb, gab sie
auf der andern Seite, von dem gewaltigen Hegel gestützt, dem sich entseelenden Preußentum die immer unumschränktere Macht,
das Volk zu seinen Füßen zu zwingen. Wieviel kostbares Leben auf diese Weise
bis zum heutigen Tage in den Kreis einer Pflicht gezogen worden ist, mit der es
nichts mehr gemein hatte, das ahnen, das sehen wir schaudernd an den Briefen
dieser wundervollen, jungen Menschen, die ihr Leben frei und überzeugt anboten,
um die Güter ihres Lebens zu verteidigen und nicht einmal fragten, ob die,
deren Sache sie dienten, für dieselben Güter ins Feld gezogen waren. Sie sehen
nur die Verantwortung für die Innerlichkeit des deutschen Lebens, für den Gedanken des deutschen Staates, nicht
aber für die deutsche Politik, die ihnen nur das Mittel zur Verteidigung und
Erhaltung des deutschen Geistes zu sein dünkt. Für ihn setzen sie sich ein; für
deutschen Geist, deutsche Kultur kämpfen sie alle.
Deutsche Kultur – wir wissen,
daß kein Wort im Kriege so fragwürdig war, so viel erbitterten Hohn und Spott
über sich ergehen lassen mußte wie dieses. Und es ist wohl nicht zu verwundern,
daß dem in Waffen starrenden, so grausam und brutal vorgehenden Deutschland
das feindliche Ausland dies Wort nicht verzeihen konnte, ja, daß es gar nicht
verstehen konnte, was damit gemeint war. Denn unter der Kultur eines Landes
versteht man gemeinhin eine bestimmte, auch nach außen sich klar und deutlich
abzeichnende Gestalt seines gesamten Lebens. Ein solches einheitliches
Gesamtbild eines Landes, wie es die tiefste Lebenssehnsucht der edelsten
europäischen Geister war, gab es vor dem Kriege nirgends mehr in Europa, am allerwenigsten aber in Deutschland. Was die Deutschen ihre
Kultur nannten, das war ihre nie ganz verlorengegangene Fähigkeit, in den
größten gedanklichen Tiefen und Höhen zu leben, ihre bis zur Askese und bis zum
Heroismus geläuterte individuelle Moral, ihre dem Traum zuneigende, allem
Schönen und Großen offene Seele.
Aber gerade diese Kräfte haben
in unserem Leben nach außen hin niemals Gestalt gewonnen, haben im Aufbau
unseres äußeren Lebensbildes völlig gefehlt. Sie gehörten einer dünnen – und
keineswegs leitenden – Oberschicht an, und wenn sie auch viel von den
ursprünglichen Kräften unseres Volkstums ausdrückten, so haben sie doch nie mit
ihm in tätigem Zusammenhang gestanden. Die Menschen, die dies taten, die unser
äußeres Leben und damit doch auch unvermerkt so verhängnisvoll an dem inneren
Leben des Volkes formten, waren völlig andere. Es waren Menschen eines
bestimmten Standes und Berufs, die an Stelle jener geläuterten individuellen
Moral eine eng umrissene Standes– und Berufsehre, an Stelle der gedanklichen
Kraft und Empfänglichkeit die bestimmte überkommene Denk– und Anschauungsweise
ihrer Klasse, an Stelle des freien Heroismus die eiserne Erfüllung einer fest
umrissenen Pflicht kannten – mit einem Wort, es waren die Menschen des
verdorrenden preußischen Geistes. Gewiß war in ihnen noch ein Rest jener großen
Tradition verkörpert; gerade durch diese: die Tradition der Pflicht, in der
alle Freiheit aufgegangen war, verstanden sie es ja, mit jenen jungen Seelen
sich zu verbinden, in denen der Pflichtgedanke lebendiger Heroismus, Freiheit
einer unbeschränkten Hingabe war. Daß die in Opferbereitschaft aufflammenden
jungen Seelen die Verknöcherung und Erstarrung der Begriffswelt, die
Deutschlands äußeres Antlitz formte, nicht erkannten im Augenblick, wo sie sich
gerufen fühlten, daß sie sie nachher nicht erkennen wollten, das machte der Gedanke
der Pflicht, den sie auch dort unmittelbar wiederfanden. In ihm fühlten sie
sich mit den Lenkern des kriegerischen Deutschland identisch. Alle Schranken
der Bildung, der geistigen Gesamteinstellung, die sie bisher von dem
offiziellen Deutschland getrennt hatten, schienen zu fallen. Alles das erschien
plötzlich als Vorurteil gegenüber dem Einen, dem Heiligen, das sie alle
verband: der Pflicht zur Gemeinschaft. Selbst jene ganz vereinzelten, die von
Anfang an schwerste Bedenken gegen den Krieg als solchen und gegen diesen Krieg
im besonderen hatten, wählten in diesem Konflikt der Pflichten die Erfüllung der Pflicht, die ihnen die größten
Widerstände zu überwinden bot. Indem gerade diese Menschen immer und überall
das Schwerste auf sich nahmen, glaubten sie, mit dieser leidenschaftlichen
Hingabe ihres ganzen Selbst an die Gemeinschaft dieser dennoch den
entscheidenden Dienst zu erweisen. »Denn das Entscheidende ist doch immer die
Opferbereitschaft, nicht das, wofür das Opfer gebracht wird.«
Dies Wort eines der jungen Frühgefallenen steht für sie alle. Es spricht von
edler Art und bedingungsloser Bereitschaft selbst da, wo der Glaube fehlt, und
drückt damit zugleich in überwältigender Weise jene tiefe Irrealität aus, die
selbst in diesem Augenblick wüstester Hypertrophie des Außen nur das Innen, den
Willen zur Hingabe, nicht das Außen, das sie mit dieser Hingabe förderte,
sieht und bedenkt.
Diese Innerlichkeit wird durch
die Todesnähe bis zur vollkommenen Loslösung von jeder Einzelwirklichkeit
vertieft. Ergreifender noch als der heroische Rausch der jugendlichen Begeisterung
ist die stille Reife so vieler dieser jungen Gestalten vor dem Antlitz des
Todes. Immer wieder werden die letzten Fragen nach Tod und Leben gestellt und
mit erschütternder Schlichtheit beantwortet. Nur noch diese Fragen werden schließlich gestellt. Alle einzelnen,
mit der Diesheit des Daseins verbundenen löscht die
Nähe des Todes völlig aus. So wird zuletzt fast alles, was die vom Tode
Gezeichneten schreiben, Religion. Die wenigsten nur denken daran, daß sie
töten müssen. Es ist ihnen nichts anderes als der eigene Tod. So wie die Kameraden
und sie selbst, so fallen auch jene drüben für ihr Vaterland. Eine ungeheure
Schicksalsnotwendigkeit, in der nichts einzelnes mehr unterschieden wird,
treibt sie alle. Hier von Haß zu reden, wäre Blasphemie. Aber auch Liebe ist
nicht mehr das rechte Wort. Sie sehen um sich die Brüder fallen; sie wissen:
jetzt kommt auch ihre Stunde; sie werden so still inmitten des Donners. Diese
Menschen alle, die sich als Individuen aufgegeben haben, stehen in der
ungeheuren Einsamkeit der letzten Stunde vor uns. Der Bachsche
Choral: »Wenn ich einmal soll scheiden«, scheint die Begleitung aller ihrer
Worte und Taten zu sein. Um sie webt sich ein Glanz von geheiligter Hingabe und
unversiegbaren Muttertränen.
Hier verstummt die Frage nach
dem Sollen. Sie alle sind wie irrende Gralsritter, die nach dem Heiligsten
ausziehen und weil sie die Richtung verfehlen, fern von seinem Dienst zugrunde
gehen. Man mag den deutschen Idealismus in seinen Konsequenzen für die
Gestaltung der Wirklichkeit noch so leidenschaftlich ablehnen – wenn man diese
Briefe liest, wird man nicht umhin können, ihn in den einzelnen Menschen auch
heute noch als eine der reinsten Ausgestaltungen des Geistes zu lieben. Aber
nicht nur die Einzelnen sind gefallen; der Typus des reinen deutschen
Idealisten lebt nach diesem Kriege nicht mehr. Überall wo heute in Deutschland
geistiges Leben sich regt, steigt eine. Welle auf gegen den Idealismus. Nicht nur im Tatsächlichen, auch im
Gedanklichen wird heute das Versagen dieser Geistesrichtung empfunden. Dies
aber bedeutet, wenn auch eine neue notwendige Phase der Entwicklung, doch zugleich
einen unersetzlichen Verlust. Dunkel ist alles um uns her. Vernichtung und
Geburt ringen um den Sieg. Der deutsche Geist wandelt sich in seinen Tiefen.