Es darf keine Verlorenen geben
In:
Neue Wege 53, 1959
„Mensch
sein heißt, sein ganzes Leben ´auf des Schicksals große Waage` freudig
hinwerfen, wenn's sein muß, sich zugleich aber an jedem hellen Tag und jeder
schönen Wolke freuen.“ Rosa Luxemburg
„Es darf keine
Verlorenen geben“, hat Leonhard Ragaz einmal ausgesprochen. Er hat es von er
Erniedrigten und Beleidigten, den Unterdrückten der Gesellschaft gesagt; aber
es gilt sicher nicht weniger für die seltenen, von der Mehrzahl der Menschen
Vergessenen, die ein wahrhaft großes Leben gelebt und es für die Menschheit
geopfert haben.
Ich habe vor Jahren schon einmal an dieser Stelle eine
knappe Studie über Rosa Luxemburg geschrieben. Doch jetzt, um die Zeit ihres
vierzigsten Todestages, da ich noch vieles von ihr und ihrem Schicksal
erfahren, mich noch mehr mit ihren Reden und Aufsätzen und mit der
geschichtlichen Wirklichkeit jener Zeit beschäftigt habe, ist in mir der Wunsch
aufgestiegen, noch einmal von diesem großartigen Leben Zeugnis abzulegen.
Ich möchte das Bild dieser Frau entwerfen, die im
Persönlichen wie im Geschichtlichen von einer unerhörten Stärke war, da ich in
ihrem Wesen Probleme des Lebens erblicke, wie sie mir in dieser Kraft und Tiefe
nirgends sonst begegnet sind. Wenn man die Briefe, die Reden und die Broschüren
von Rosa Luxemburg liest, ihr Schicksal in all seinen Phasen, in Freiheit,
Gefangenschaft und Tod, kennt, so scheinen auf den ersten Blick die
Grundeigenschaften ihres Wesens miteinander unvereinbar: ihre Zartheit und
Güte, ihre Strenge und Wissenschaftlichkeit, ihre leidenschaftliche Beziehung
zu Blumen und Tieren und ihr Verhältnis zur Politik.
Schon ihre äußere Gestalt drückt diesen scheinbaren
Zwiespalt aus. Sie war sehr klein, fast zwergenhaft, an einem Bein ein wenig gelähmt,
wenn auch, durch ihre Willenskraft, von einer besonderen Beweglichkeit.
Keinesfalls kann man sich dieses unscheinbare Wesen als eine große
Volksrednerin denken, die Tausende von Zuhörern um sich sammelte. Sieht man sie
aber gerade als solche dargestellt, sieht man die winzige Gestalt über einer
riesigen Menschenmenge wie eine zarte Flamme schweben, so erfährt man
unmittelbar, vielleicht gerade an dieser körperlichen Kleinheit, die
überwältigende geistige Macht ihres Wesens, die all diese Menschen zusammenhielt.
Und liest man ihre Reden und Schriften, so versinkt alles Körperliche vor der
Gewalt eines mächtigen, nie versagenden Geistes.
Doch noch ein anderer tragischer Widerspruch scheint in
diesem Leben angelegt. Ihre besondere Sensibilität, ihr liebendes Verhältnis zu
allen Erscheinungen, ihr vorurteilsloses Erfassen alles Schönen, auch wenn es
ganz noch der bürgerlichen Welt angehörte, ihr Lauschen auf allen Ausdruck des
Lebendigen, das in der Gefangenschaft von außen zu ihr drang, dies alles scheint
sie für ein stilles, kontemplatives Leben zu bestimmen. Auch ihre
einzigartigen, liebevollen und fast niemals klagenden oder die Klage rasch
verwischenden Briefe aus den Gefängnissen weisen auf diese ursprüngliche Anlage
hin. Diese Frau hat in den langen Jahren einsamen Gefangenseins mehr und
Köstlicheres erlebt als die Mehrzahl der Menschen in einem freien, allein durch
die natürlichen Daseinsbedingungen eingeschränkten Leben. Aus der Festung
Wronke schreibt sie in vollem Wissen um die aus den Fugen gegangene Welt, für
die sie sich mitverantwortlich weiß: „...Und dann bleibt mir noch alles, was mich sonst erfreute: Musik
und Malerei und Wolken und das Botanisieren im Frühling und gute Bücher und
Mimi (ihre Katze) und Du und noch manches – kurz, ich bin steinreich und
gedenke es bis zum Schluß zu bleiben. Das völlige Aufgeben im Jammer des Tages
ist mir überhaupt unbegreiflich und unerträglich.“ Diese Größe der
Lebenserfassung ist dadurch mitbegründet, daß sie zu jedem noch so winzigen
Wesen, das sich in ihrem Umkreis fand, eine einzigartige zärtliche Beziehung
hatte. Wer sonst ist wohl je auf den Gedanken gekommen, eine im Freien fast
erfrorene Hummel mit dem Hauch des eigenen Mundes zu erwärmen, bis sich die
starren Beinchen wieder regten? Wie konnte diese überaus zarte Frau, die in der
düsteren jahrelangen Gefangenschaft ganze Welten von Blumen und Vögeln um sich
entfaltete oder in ihrem Werden verfolgte, die für jedes winzige Tierchen
sorgte, jede Pflanze nicht nur in ihr Leben aufnahm, sondern sie zugleich
wissenschaftlich, botanisch bestimmte und in ihre zahlreichen Herbarien
einordnete, die noch die leisesten Laute der Vögel und deren Lebensbedeutung
verstand, so daß sie mit Recht von sich sagen konnte, daß sie die Sprache der
Vögel verstehe – die selbst ihrer Freundin zugestand, daß sie weit lieber unter
ihren Kohlmeisen als an einem Parteitag weile, wie konnte sie dennoch eine
eifrige Parteigenossin und flammende Agitatorin sein? Sie war es aus der Tiefe
ihrer Überzeugung, die sie zwang, sich allem zu widersetzen, was sie als falsch
und ungerecht empfand.
Rosa Luxemburg ist 1870 in Zamosa, in Russisch-Polen,
geboren und schon in einem Hause aufgewachsen, in dem soziale Fragen frei
gestellt wurden. Von da aus war ihrem reinen Herzen der erste Anstoß zu Hilfe
für die Unterdrückten, für das damals tief leidende Proletariat, zuerst in
Gestalt der polnischen Arbeiter, gekommen, für die sie sich immer wieder
eingesetzt hat. Dann wurde sie, siebzehnjährig, in einem Heuwagen illegal über
die Grenze gebracht, um in Zürich, wo dies damals für Frauen allein möglich
war, zu studieren. Sie begann mit dem Studium der Naturwissenschaften, um erst
später zu dem der Nationalökonomie überzugehen. Beide Fächer waren für den
Geist des jungen Mädchens von gleicher Bedeutung; aber zuletzt hat über die
Hingabe an die Natur und jede ihrer Erscheinungen doch die Beziehung zum
Menschen, zu der Gemeinschaft der Menschen, gesiegt.
Und auf diesem Gebiet ist ihr auch die größte Begegnung
widerfahren, die für immer ihr Leben bestimmte: ihre Begegnung mit der Lehre
von Marx, in die sie sich mit ihrem ganzen starken und früh gereiften Verstand
vertiefte. Das Theoretische wie das Praktische der Marxschen Lehre ergriff sie
mit der gleichen Gewalt: sie sah darin die einzige Form, in der eine der
bestehenden weit überlegene Gesellschaftsordnung verwirklicht werden könnte.
Und alles, was in der Lehre von Marx groß und unvergänglich ist, ist ihr zum
Leitfaden ihres Denkens und Handelns geworden. Marx war ihr als Befreier der
großen Mehrzahl der Menschen der Befreier der Menschheit überhaupt. Vor allem
war es die von Marx stets betonte Internationale, die bei ihr zu einer
messianisch gefärbten Lehre vom Völkerfrieden wurde, die sie mit ihrer ganzen
Leidenschaft vertrat. Von dort aus hat sie auch mit solcher Genauigkeit die
Ursachen und das Geheimnis, in dem der Krieg entsteht, begriffen und
vorausgesehen.
Aber seltsam: bei allem tiefen und ernsten Wissen und
Begreifen war das alles umstürzende Jenseits von Gut und Böse Nietzsches, das
seit ihm unsere ganze Welt beherrscht, noch nicht in ihr Leben eingedrungen.
Rein menschlich war ihr Kompaß das Gute, das sie über die stürmischen Wogen des
Lebens führte, und auch ihr Ziel war immer das Gute. Immer wieder spricht sie
es aus: „Gut sein ist die Hauptsache. Einfach und schlicht gut sein, das löst
und bindet alles und ist besser als alle Klugheit und Rechthaberei.“ Doch lag
in dieser Haltung auch eine gewisse Gefahr, denn schon ihr gewaltiges
Temperament, das mit ihrem eigenen Wort fähig gewesen wäre, „eine ganze Prärie
in Brand zu stecken“, war eine Bedrohung ihrer reinen Güte. Ihr Schutz vor den
Folgen dieser das Böse ausschließenden Güte war, daß beide, ihre Freundschaft
und ihr Mitleid, eine ganz bestimmte Grenze hatten. Sie enden mit ihrem eigenen
Wort „haarscharf dort, wo die Gemeinheit beginnt“. So ist das Gemeine in jeder
Form ihrem Leben fremd geblieben.
Mit ihrem einzigartigen Temperament, das den Rhythmus ihres
ganzen Lebens bestimmte, war auch ein besonderes Verhältnis zur Zeit verbunden,
ein Verhältnis, wie wir es nur bei wahrhaft großen Menschen finden. Das
Zauberwort, das Goethe aus Italien schrieb, „ich genieße der Glückseligkeit, in
kurzer Zeit sehr viel denken und kombinieren zu können“, hätte auch Rosa
Luxemburg von sich sagen können; in wenigen Wochen hat sie ihr großartiges Werk
„Die Akkumulation des Kapitals“ niedergeschrieben und ohne das Brouillon auch
nur durchzulesen dem Verleger zugeschickt. Und weiter war auch in ihrem Geist
ein streng ordnendes Gesetz, das sie in das Geheimnis der Natur wie der
Geschichte tiefer als andere Menschen blicken ließ.
Hätte Rosa Luxemburg nicht diese unerhörte Kraft des
Herzens, jenes ordnende Gesetz, jenes Urverhältnis zu allem Naturhaften und
Wachsenden und dazu noch ihr leidenschaftliches Temperament gehabt, so wäre
ihre Haltung in der Politik eine ganz andere gewesen. Es war aber bei alledem
in ihr auch ein Zug göttlicher Naivität, die nur das Erbteil der edelsten
Geister ist. Dabei kannte sie die Massen genau, das beweist schon ihr Wort:
„Die Masse ist stets das, was sie den Zeitumständen nach sein muß, und sie ist
stets auf dem Sprunge, etwas total anderes zu werden, als sie scheint.“ Nach
diesem Wort hätte ihr eigentlich nichts, was geschah, zu einer Enttäuschung
werden können. Und doch hat sie eine solche an ihrer Partei bin in die Wurzeln
des Leben erfahren.
Was ist seit Rosa Luxemburgs hinreißenden und begeisternden
Reden geschehen? Wie hat sich vor allem die Geschichte der deutschen
Sozialdemokratie entfaltet, für die sie ihr Leben hingegeben hat? Wir müssen
auf den Anfang des Ersten Weltkrieges zurückgreifen, um etwas von dieser
Entwicklung zu verstehen.
Die deutsche Sozialdemokratie war damals eine große und
einflußreiche Partei, die sich noch am 30. Juli 1914, unmittelbar vor dem
Ausbruch des Ersten Weltkrieges, ihm mit aller Gewalt entgegenstemmte und
gemeinsam den Beschluß faßte, unter keinen Umständen mit in einen Krieg zu
ziehen. Als dann am 1. August 1914, nach dem Ausspruch des Kaisers „ich kenne
keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche“, plötzlich die gesamte Partei
bis auf neun Einzelne trotzdem die Kredite für den grauenvollen Krieg
bewilligte, ist dies den Sozialisten der anderen Länder als etwas so
Unbegreifliches erschienen, daß sie es ohne jede Nachfrage „für eine kapitalistische
Lüge“ hielten. Es war unfaßlich, und doch gibt es, wenn man das Gesamt dieser
geschichtlichen Zeit überblickt, eine Möglichkeit, es von einer Seite her zu
verstehen: aus der furchtbaren Verlogenheit der Telegramme und Nachrichten, die
nach dem Mord von Sarajewo zwischen den deutschen Staatsmännern hin und her
gegangen waren und die Masse des Volkes in eine ganz bestimmte Richtung
zwangen. Dem Volke wurde der heraufziehende Krieg als ein Kampf vor allem gegen
den drohenden Zarismus und alle möglichen anderen feindlichen, angriffsbereiten
Mächte vorgespiegelt. Selbst Karl Liebknecht hat sich tragischerweise um der
Parteidisziplin willen dem großen Mehr der Stimmen angeschlossen, was er schon
wenige Tage später bitter bereute, als ihm wieder klar geworden war: „Über die
Parteidisziplin geht die Internationale.“
Rosa Luxemburg aber, die die Entscheidung der Partei auf
der Redaktion ihres Blattes erfuhr, brach in einem schweren Weinkrampf
zusammen. Aller Kummer und auch alles Urteil, das in diesem Weinkrampf lag,
entlud sich später vor allem in ihrer „Junius-Broschüre“, die sie 1916, als
schon der Krieg auf seinem Höhepunkt angelangt war, wieder im Gefängnis schrieb
und die wie ein großes helles Licht in die Finsternis ihrer Weltstunde
hineinleuchtet. Die ganze Schuld der Sozialdemokratie am Ausbruch des Krieges
und seinen tödlichen Folgen ist in dieser weltgeschichtlichen Broschüre
niedergelegt. Und doch hat Rosa Luxemburg sich auch noch am Ende dieses
Krieges, sobald sie wieder in Freiheit war, mit ihrem ganzen Sein und Wollen
und ihr eigenes Ende klar voraussehend, in das Handeln dieser fast schon
zerstörten Partei wieder eingesetzt. Schon im April 1917 hatte sie an eine
Freundin geschrieben: „In der stillen, tödlichen Periode, die vor dem Ausbruch des
Krieges lag, war Ungeduld die höchste Tugend, leider viel zu wenig geübt. Heute
müssen wir mit der Geschichte Geduld haben – ich meine nicht untätige, bequeme,
fatalistische Geduld, ich meine eine solche, die bei höchster Aufbietung der
Tatkraft nicht verzagt, wenn sie vorläufig auf Granit zu beißen scheint, und
nie vergißt, daß der brave Maulwurf Geschichte rastlos Tag und Nacht wühlt, bis
er sich ans Licht hervorgewühlt hat.“
Der Tod dieser leidenschaftlichen Kämpferin für Recht und
Frieden am Ende des Weltkrieges ist kaum zu beschreiben. Er vollzog sich nicht
lange nachdem sie mit Karl Liebknecht den Spartakusbund gegründet hatte. Sie
wurde in Berlin von einem gedungenen Mörder mit einem schweren Gewehrkolben auf
den Kopf geschlagen und – wir können nur hoffen, bereits bewußtlos – in ein
Auto gezerrt und nach furchtbaren Mißhandlungen auf der Straße in den
Landwehrkanal geworfen. Die ganze entsetzliche Verwilderung des Krieges hat
sich an diesem zarten, liebenden Wesen ausgetobt.
Es ist wie immer das Schicksal derer, die die Erlösung der
ganzen Menschheit wollen und doch nur Einzelnes vollbringen können. Und hier
erhebt sich für uns eine Frage, die heute, nach langem Verstummen, von vielen
Seiten wieder gestellt wird. Rosa Luxemburg wollte die Welt erlösen, ohne nach
der Hand zu greifen, die allein Erlösung schenkt. Sie lebte in einer Zeit, in
der Gott nicht nur von Nietzsche unter Qualen totgesagt, sondern überhaupt in
einer immer mehr säkularisierten Welt nicht mehr gegenwärtig war. Indem aber
die beiden Mächte Liebe und Friede und der Glaube an eine bessere Welt das
letzte in diesem Leben waren und sie sich ganz für sie hingegeben hat, ist doch
die Kraft eines religiösen Messianismus das Gründende ihres Daseins gewesen.
Den Namen Gott hat sie nie ausgesprochen, aber indem sie seine Schöpfung in
jeder ihrer Gestalten verehrte und liebte und zugleich eine neue Menschheit
wollte, ist sie dem Göttlichen immer nahe gewesen. Sie ist es vor allem in
ihrer Hoffnung und in dem Handeln aus dieser Hoffnung gewesen. In der Hoffnung
und in der Tat liegt ihre tragische Größe. Sie hat mit dem ihr teuren Wort aus
Conrad Ferdinand Meyers „Hutten“ dies Eigenste ihres Wesens gekennzeichnet:
„Das Größte tut nur, wer nicht anders kann.“