Karl Wolfskehl. Die Stimme spricht
In: Der Morgen, Heft 10 (Januar
1935)
Denn
durch sich selber wissen die Menschen nichts, die kurzlebigen, die geblendeten,
die gehetzten: immer wieder muß ihnen gesagt
werden was ist, muß das Wort zu ihnen dringen, das nicht von ihnen stammt. Karl
Wolfskehl
Wenn wir dem Hinweis auf diese
Gedichtsammlung die früheren Worte des Dichters selbst voranstellen, so ist es,
weil sie vielleicht etwas von dem aufhellen können, was in dieser rätselhaften
Dichtung als göttliches Wunder und menschliche Problematik zugleich beschlossen
liegt. Zwar spricht der schöne keusche Titel des Buches selbst es aus, daß der
Dichter völlig hinter seiner Dichtung zurücktritt, daß er nichts anderes ist
und sein will als reines Sprachrohr der Stimme, die ihn erwählt hat.
Aber können wir diese Haltung
so einfach und problemlos annehmen? Es ist ja diese Weltstunde, in der die
Gedichte erscheinen, und es steht auf dem Umschlag nicht nur der Titel, sondern
auch der Name des Dichters. Und der Name Karl Wolfskehl ist geprägt; er ist in
der deutschen Welt bekannt. Bekannt vor allem als Jünger und Freund Stefan
Georges, dem er bis über den Tod hinaus die Treue hielt, als Dichter schöner
eigener, aber ganz der Weise und Anschauung dieses Kreises zugehöriger
Gedichte, als Entdecker und Nachdichter alter germanischer Dichtung, als tiefer
Erforscher und Kenner germanischen Sprachguts, als Verfasser schließlich einer
Sammlung herrlicher, weltweiter Aufsätze, die gleichfalls in ihrem Kern
derselben Gesinnung entsprungen sind. Alles in allem also als ein ganz und gar
dem deutschen Kulturkreis angehöriger Mensch.
Und wenn nun plötzlich aus der
Seele dieses Dichters Lieder völlig
anderer Art und Herkunft, anderen Gehalts und anderer Form hervorbrechen:
schlichte, psalmengleich strömende Worte radikaler Umkehr und Einkehr, Abkehr
vom Vielen zum Einen, Gebet, Bekenntnis und Verheißung, Aufruf und Weisung
Gottes an sein Volk, Worte der Stimme, die aus der Ewigkeit in die Zeit
gesprochen sind, – wie sollten wir nicht mit letzter Ergriffenheit, mit einem
Erschauern aus der Tiefe der Seele unseres Volkes selbst dieser Dichtung
lauschen, die wie ein Sternfall aus der oberen Welt in das Düster unserer Nacht
hereinsinkt? Fraglos, hingerissen beugen wir uns dem Wunder, daß hier ein von
völlig anderen Gehalten, ja von einer anderen Art von Göttlichkeit lebenslang
geprägter Mensch durch die Wucht des Erlebens der Schicksalsstunde seines
Volkes sich vor seinem Gott niederwirft und um Seinetwillen, wie ein Franz von
Assisi die reiche Kleidung seines Vaterhauses, den ganzen bisherigen Reichtum
von sich abwirft:
Alles
laß ich im Nebel zurück. Vorüber.
Ledig
muß ich sein vor dem Einen Gesetz.
Und in der Rückkehr vom Vielen
zum Einen, die der Grundton dieser Gesänge ist, steckt auch die Absage an das
Vergangene, das Wissen um die geschehene Verfehlung des Lebens im Fremden,
Gericht und Selbstgericht, Gebet und Buße. Und wenn dem Dichter die Antwort der
Stimme entgegenklingt:
Ich
sah dich lang
Ich
war die Hand
Ich
hielt das Licht –
Du
sahst mich nicht
Diese ergreifende schlichte
Antwort, in der sein ganzes bisheriges Leben durchsichtig wird für das Eine,
das zu allen Zeiten schweigend hinter seiner Vielfalt brannte, welche
vollkommenere Gewähr der Versöhnung zwischen seinem Einst und seinem Jetzt
könnten wir empfangen? Mit diesem Wort scheint die ganze tiefe menschliche
Problematik dieser Dichtung gelöst. Aber der Gesang bleibt ja dabei nicht
stehen: er hebt sich über alles bloße persönliche Bekenntnis hinaus.
Denkt
nicht zurück,
Was
war, verdorrt,
Ein
einziger Hort
Ist
euch gereift,
Der
Hort heißt: Dort!
Wir stehen mitten in der
Verkündung. Jedes der hier gesprochenen Worte trifft in Verwerfung und Verheißung
auf diese Stunde unserer erneuten Wüstenwanderung auf. – Und wenn die Stimme
gleich am Anfang dem Dichter zuruft:
Aus
deiner Seele schäl ich dich
Aus
taubem Geröll und Moder,
Wider
dich selber wähl ich dich
Läutre
dich im Geloder!,
wem käme nicht die Erinnerung
an die Propheten des Alten Testaments, die wider ihren Willen erwählt wurden,
von Gott zu zeugen? Aber gerade diese Erinnerung, dieser Vergleich stellt uns
mit einem Schlag vor die Frage nach der Wahrheitsebene dieser wunderbaren Erscheinung.
Wir dürfen die Dinge nicht verrücken, das Wunder nicht von seinem Ort rücken.
Denn nur so zeigt es sich uns in der Tiefe und Wirklichkeit seines
Geheimnisses. Was hier vorliegt, ist nicht Prophetie, es ist Dichtung.
Prophetische Dichtung ganz gewiß, aber doch auch Dichtung in einem
allerreinsten Sinne: mit der ganzen Größe und der ganzen Problematik des rein
in sich ruhenden Wortes. Gewiß: auch der Dichter sträubt sich gegen die Stimme
Gottes, wie es die Propheten getan haben. Aber er tut es aus einem anderen
Grund und in einem anderen Sinn. Die Propheten weichen zurück vor dem Übermaß
der Verantwortung, die mit dem lebendigen Einsatz ihrer Person in Tat und
Wahrheit auf sie gelegt ist. Der Dichter weicht zurück vor der Fremdheit des
Wortes, vor der Kluft, die es zwischen den Welten aufreißt, denen beiden er
angehört. Er, der bisher einer ganz anderen Göttlichkeit Angeschlossene,
erschrickt vor der Stimme des Einen, die, sein ganzes bisheriges Leben wie
einen farbigen Nebel zerreißend, in leuchtender Sieghaftigkeit durch es
hindurchbricht, vor der er stillhalten muß, angstvoll stillhalten muß: reines
Sprachrohr dessen, der ihn, unbekümmert um ihn selbst und alles Seine, zu
Seiner Verlautbarung erwählt hat. In diesem fraglosen Durch-ihn-hindurch ruht
die tiefe tragische Problematik des Dichters; in ihr ruht aber auch die Größe
der Dichtung. Und diese Lieder werden noch durch die jüdische Welt klingen,
wenn ihr Ursprung längst vergessen sein wird: sie werden als ein Stück
gesungener Wahrheit unseres Volkes in die Geschichte eingehen.
Das aber danken wir gerade der
ehrfürchtigen Stille, mit der der Dichter sich zum Sprachrohr gemacht hat, der
reinen Hingabe, mit der er der Stimme gelauscht hat. Aus welcher Daseinsschicht
immer dies Geheimnis, diese Wiedergeburt jüdischen Daseins aufstieg, ob aus
Vergangenheit oder Ewigkeit – und vielleicht ist hier beides nicht getrennt –:
die Dichtung in sich selbst ist gerade dadurch, daß der Dichter hinter ihr
versinkt, über alle Tragik und Problematik hinaus. Den daß die Stimme spricht, daß in dieser Weltstunde, in der der Name
Gottes von jenem geheimnisvollen Schweigen umhüllt ist, in dem wir ihn in allem
Heutigen erleben, plötzlich ein von Gott klar Eingesagtes, von Ihm
unverwechselbar Ausgesagtes erklingen konnte, daß Gott, um in diesem
Schicksalsaugenblick seinem Volk ein Äußerstes zu künden, sich diesen großen
Dichter deutscher Zunge erwählt hat: ihm, der am reinsten stillhält, am
bangsten lauscht, weil er am tiefsten das Wort ehrt, – das ist reines
unberührbares Wunder.