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> Über Margarete Susman

© 2009 Barbara Hahn
Das Nah- und Fernsein - mit diesem paradoxen Bild umschreibt Margarete Susman die jüdische Existenz in Europa. Sie erkannte darin eine produktive und zugleich problematische Situation und bewegte sich selbst in der Spannung zwischen beiden Polen. Jüdin und Deutsche, Dichterin und Philosophin, Denkerin eines metaphysischen Außen und aufmerksame Beobachterin des politischen Zeitgeschehens - das bedeutete ein Leben in verschiedenen Zeiten und eine Offenheit für Brüche und unauflösbare Widersprüche.

Margarete Susman kam aus einer großbürgerlichen jüdischen Familie. Sie wurde 1872 in Hamburg geboren und starb 1966 in Zürich. In Zürich verbrachte sie ihre Kindheit und Jugend und dorthin kehrte sie 1933 als Emigrantin zurück. Sie begann ihre schriftstellerische Laufbahn als Lyrikerin, wandte sich dann aber der Philosophie zu. In ihrer Denkschreibweise blieb sie jedoch Grenzgängerin zwischen Dichtung und Philosophie, und deshalb wurde für sie der Essay zur idealen Form, in der sich ihre Sprache bewegen konnte. Anfang des 20. Jahrhunderts gehörte sie - nach einer kurzen Episode im Münchner George-Kreis - zu den engeren Freunden Georg Simmels in Berlin. Sie korrespondierte mit Georg Lukacs und Ernst Bloch und rezensierte deren Bücher. Ein neues Verstehen der jüdischen Philosophie und Religion eröffnete sich für sie durch Gespräche mit Martin Buber und Franz Rosenzweig. Gustav Landauer hat sie an politische und soziale Fragen herangeführt.

Der Erste Weltkrieg wurde für sie zum Einschnitt und brachte sie nicht nur in Distanz zur Kriegsbegeisterung ihrer Freunde, sondern auch in Konflikt mit dem deutschen Staat. Völlig neue Fragen kreuzten ihre Gedankenwelt: die Revolution und die Juden, die Revolution und die Frauen. Gustav Landauer wollte sie in die Münchner Räteregierung holen. Die Ermordung ihres langjährigen Freundes machte ihr bewusst, wie gefährlich nahe sie der gewalttätigen Seite der Politik gekommen war.

Sie suchte nach einem ihr gemäßen Engagement und fand es in der Befragung der großen Namen der deutschen Dichtung und Philosophie: Goethe, die Romantik, Nietzsche, die sie im Horizont einer verborgenen jüdischen Tradition in Europa las. Was Margarete Susmans Denken einzigartig macht, ist, dass sie die Leere, die sich nach der bewussten Trennung von der als so selbstverständlich empfundenen deutschen Identität auftat, nicht mit einer neuen jüdischen Identität ausfüllte. Das, was sie mitteilen wollte, konnte sie nur als Frage formulieren und weiter reichen. Dem Zweifel in der Moderne, der jede Verlässlichkeit zu zerstören drohte, setzte sie die Frage entgegen als Beginn des Dialogs. Wie nah sie sich mit dieser Haltung Franz Kafka fühlte, zeigt ihr gleichnamiger Aufsatz, den sie 1929 schrieb und der als einer der ersten bedeutenden Aufeinandersetzung mit dem Dichter gelten kann. Walter Benjamin und Gershom Scholem haben das seismographisch wahrgenommen.

1933 emigrierte sie für immer in die Schweiz. Nach Kriegsende schrieb sie das Buch, mit dem sie sich als  Jüdin und Europäerin noch einmal an die Welt wandte: Das Buch Hiob und das Schicksal des jüdischen Volkes. In den Mittelpunkt ihrer Darstellung rückte sie die Frage, wie nach der Shoah der Sinn einer gemeinsamen Welt aller Menschen und Völker erneuerbar ist und worin der Beitrag des jüdischen Volkes bestehen konnte.

Von dem umfangreichen, sich in so vielfältige Fragen, Themen und Genres verzweigenden Werk Margarete Susmans sind nur wenige Schriften zugänglich. Eine Gesamtausgabe durch einen Verlag erscheint heute unwahrscheinlich. Mit der hier begonnenen digitalen Ausgabe soll ein Zugang zu ihrem Denken eröffnet werden, wie er nur möglich ist, wenn man ihren verschiedenen Denkwegen folgen kann. Diese Ausgabe soll alle bisher veröffentlichten Schriften, Bücher, Aufsätze und Rezensionen ebenso umfassen wie die nachgelassenen Entwürfe, Fragmente und die umfangreiche Briefsammlung. Damit wird zum ersten Mal die Komplexität ihres Denkens sichtbar gemacht. Durch die Einrichtung einer die verschiedenen Texte vernetzenden Kommentarebene sollen neue Passagen durch ihr Werk erschlossen werden.
1872 - 1966
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