Hiob und unsere Zeit

 

In: Neue Wege 30, 1936

 

Das Buch Hiob, das Hohe Lied des Leides, gehört zu den großen Menschheitsdichtungen aller Zeiten. Dichtung in jenem letzten Sinne, der nicht Erfindung, sondern gerade deren Gegenteil bedeutet: die äußerste Konzentrierung und Durchleuchtung menschlichen Schicksals in einem Einzelschicksal. Nicht anders als die griechische Tragödie den Schicksalsbegriff des Griechentums und seine Urbeziehung zum Göttlichen ausdrückt, drückt das Buch Hiob den Schicksalsbegriff und die Urbeziehung des Judentums zu Gott aus. Hiob ist nicht der tragische Held des antiken Dramas, der, indem er den Mächten erliegt, über sie triumphiert und als Halbgott die Brücke zwischen Mensch und Gott überschreitet; sondern er ist nichts als Mensch, ganz und gar Mensch, dem der Eine Gott, von dem ihm sein Schicksal kommt, in unendlicher, unüberbrückbarer Ferne gegenübersteht. Gott und Mensch sind radikal voneinander geschieden. Die Verschiedenheit ihrer Zeiten selbst trennt sie voneinander ab. Die Zeit Gottes ist die Ewigkeit; die des Menschen – das ist nirgends so schroff ausgesprochen und immer wieder betont wie hier – ist die endliche Zeit des kurzen, vergänglichen Menschendaseins. Das ganze Buch Hiob ist aufgebaut auf dieser Verschiedenheit der Zeiten: auf der Einmaligkeit, Endlichkeit und Nichtigkeit des kurzen Menschendaseins, das vor der Unendlichkeit und Ewigkeit Gottes wie ein Nichts im Lebensganzen ertrinkt. Keine Möglichkeit der Vergöttlichung des Menschlichen, keine Möglichkeit der Überwindung der irdischen Natur, keine Unsterblichkeit der Seele, keine Seelenwanderungslehre schlägt hier eine Brücke vom Menschen zu Gott, hebt, wie in den anderen großen Religionen, die Zeit des Menschen in die Zeit Gottes hinein. Die Zeit Gottes und die Zeit des Menschen können nicht zusammenkommen. „Oder ist Deine Zeit wie eines Menschen Zeit? Oder Deine Jahre wie eines Mannes Jahre?“ ist die beschwörende Frage Hiobs.

Ja, Hiob erfährt die Verschiedenheit zwischen göttlicher und menschlicher Zeit so radikal, daß er sich zu der verzweifelten Frage hinreißen läßt: „Warum sollten die Zeiten dem Allmächtigen nicht verborgen sein, und die Ihn kennen, sehen Seine Tage nicht?

Auf der Gewißheit dieses unüberbrückbaren Abgrundes zwischen Gott und Mensch erhebt sich das ganze ungeheure Ringen der Hiobdichtung: dieser gewaltige Prozeß zwischen Mensch und Gott. Aber das Buch Hiob ist weit entfernt, ein Buch vom Zweifel an Gott zu sein. Es ist vielmehr das Buch der übermächtigen Gottesgewißheit. Nicht Gott, sondern die Beziehung Gottes zum Menschen ist es, die in ihm durch das Übermaß und die Unbegreiflichkeit des Leidens zum Problem wird.

Hiob war fromm, gerecht, weise, reich, ein großer Wohltäter; er war ein in jedem Sinne wohlgeratener Mensch, von Gott gesegnet, von den Menschen angesehen und verehrt. Und wer sich von Gott geliebt, von dem Menschen geehrt weiß, wessen Leben äußerlich und innerlich reich und glücklich und gebend und im Irdischen gesichert ist, der hat es unendlich leichter, im Glauben an Gott und die Menschen zu ruhen. Die Erschütterung des Glaubens beginnt erst da, wo all dies zusammenbricht.

Und dies geschieht Hiob. Von einem Augenblick zum anderen wird er in den Abgrund eines unfaßbaren Leides gestürzt. Die ersten furchtbaren Schläge, in denen alles, was er besitzt, alles äußere und innere Glück: alle seine blühenden und glücklichen Kinder, sein ganzes Hab und Gut, ihm in einer rasenden Flucht von Schicksalen genommen wird, empfängt er von der Hand Gottes als eine Selbstverständlichkeit. „Ich bin nackt von meiner Mutter Leibe gekommen. Nackt werde ich wieder dahinfahren. Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen; der Name des Herrn sei gelobt.“

Hier steht Hiob noch im Schirm und Schatten seiner selbstverständlichen, bisher völlig unberührten Gottesgewißheit. Darum sagt er noch: „der Herr“; darum spricht er noch von Gott, nicht mit Gott. Erst als er aus allen Bergungen seines Daseins gerissen, von rasenden Schmerzen verzehrt, nackt, verachtet, bespien in der Asche sitzt, als er zu begreifen beginnt, daß in dem Übermaß des Leidens, das Gott über ihn verhängt hat, eine furchtbare Folgerichtigkeit, ein geheimer Plan, ja ein Anschlag gegen ihn steckt, da erst bäumt es sich aus der untersten Tiefe seines Seins unmittelbar gegen Gott selbst auf. Jetzt erst ist Gottes Gerechtigkeit ihm zum Problem geworden. Er versteht den Zusammenhang zwischen seinem bisherigen Leben und dem, was ihm jetzt geschieht, nicht mehr. Und damit beginnt sein Ringen mit Gott: das Ringen, Ihn, den Unbegreiflichen, zu verstehen; nun beginnt sein Hader mit Gott um seiner Gerechtigkeit willen.

Denn was Hiob von Gott verlangt, ist weder Trost noch Aufhebung seines Leides; es ist einzig Gottes Gerechtigkeit. Aber Gott ist viel zu groß und viel zu mächtig, viel zu weit vom Menschen entfernt, als daß er sie ihm gewähren könnte. Hiob entsetzt sich über die Macht Gottes, die eine gerechte Abrechnung zwischen Ihm und dem Menschen unmöglich macht. „Will man Macht, so ist er zu mächtig; will man Recht, wer will mein Zeuge sein?“ und dann wieder: „Wenn ich auch gleich Recht habe, kann ich ihm doch nicht antworten, sondern ich muß um mein Recht stehen!“... „Denn er ist nicht meinesgleichen, daß wir vor Gericht miteinander kämen.“ Aber dies Entsetzen über die Macht Gottes ist nur der andere Ausdruck der brennenden Sehnsucht Hiobs, ihn, den von seiner Macht bis zur Unkenntlichkeit Umhüllten, zu erreichen. Ach, daß ich wüßte, wie ich Ihn finden und zu Seinem Stuhl kommen möchte!“ – so ringt Hiob unablässig um des unendlich Fernen Nähe, so ruft, so beschwört er ihn immer aufs neue, auf seine Arme, versinkende Menschenstimme zu hören, sich von ihm finden zu lassen, ihm die Rechenschaft nicht zu verweigern, obwohl seine Wege dem Menschen so unauffindbar verborgen sind. Denn derselbe Gott, dem er vertraut, steht ja wider ihn im Bund mit dem Bösen, hat ihn, seinen Knecht, im Leiden dem Versucher preisgegeben, und ist so über ihn, indem er ihn bis ins Mark seines Lebens getroffen hat, zugleich erbarmungslos seine gewaltigen unverständlichen Wege fortgegangen. Derselbe Gott, dem er zuruft: „Willst du wider ein fliegendes Blatt so ernstlich sein und einen dürren Halm verfolgen?“ derselbe, der ihn so bitter ernst nimmt, daß er ihn „täglich heimsucht und versuchet ihn alle Stunden“ – derselbe verschließt seinem Rufen und Schrein sein Ohr und hört ihn nicht. Und dennoch kann Hiob nicht aufhören, nach seiner Gerechtigkeit zu suchen, weil er fühlt, daß die Züchtigung Gottes, die ihm ganz unmittelbar gilt, gar nicht ihm gelten kann.

Denn Hiob weiß sich schuldlos. Er wiederholt es immer wieder. Er findet in seinem persönlichen Leben keine Schuld. Er findet in sich keine Antwort auf das Warum der göttlichen Züchtigung. Und Gott antwortet ihm nicht. Und doch zweifelt Hiob keinen Augenblick daran, daß sein Leid eine Züchtigung Gottes ist. Darum kann er, indem er Gottes Gerechtigkeit sucht, nicht ablassen, seine eigene Schuld zu suchen. Aber als er schließlich in diesem unablässigen Suchen auf eine verborgene Schuld seines Daseins trifft, da zeigt sich an ihr die Hoffnungslosigkeit seiner Frage nur noch tiefer. Denn diese Schuld kann gar nicht ihm zur Last gelegt werden, sie ist nicht die seine. Es ist die Erbsünde, es ist die menschliche Schuld schlechthin, aus der seine Frage aufbricht: Wer will einen Reinen finden, bei denen, da keiner rein ist?

Kein Mensch ist rein vor Gott. Alles Menschliche ist als ein Bedingtes von der Unbedingtheit Gottes zuvor gerichtet. Darum geht sein Gericht über den Einzelnen, indem es ihn trifft, zugleich hinweg. Denn nur den Einzelnen kann es treffen, auch wenn es nicht dem Einzelnen gilt. Wie die Zeit Gottes und des Menschen, so können göttliche und menschliche Gerechtigkeit nicht zusammenkommen, können sie sich gar nicht wahrhaft erfassen. Es ist die furchtbare Einsicht in die Vergeblichkeit persönlicher Unschuld, die das ganze Buch Hiob durchzieht. Bis zu der persönlichen Schuldlosigkeit dringt Gott gar nicht vor. Dazu sind wir zu tief in die allgemeine Schuld hineingestellt, zu ursprünglich in unserem menschlichen Dasein schlechthin von Gott gerichtet. Ja, die radikale Hoffnungslosigkeit persönlicher Unschuld zeigt sich darin, daß die Strafe für die allgemeine Schuld mit ihrer ganzen Wucht gerade an dem ausgehen muß, der persönlich schuldlos ist. Der in seinem eigenen Leben Schuldige erfährt – wenn er sie erfährt – die Züchtigung Gottes als Strafe für seine Schuld. Der persönlich Schuldlose allein erfährt an sich die Züchtigung für die allgemeine Schuld, die den persönlich Schuldigen gar nicht erreicht, weil sie ihm durch die Strafe für seine eigene Schuld verdeckt ist. So dringt zu dem Schuldlosen der Zorn Gottes weit unmittelbarer vor. Das Maßlose von Hiobs Unglück erscheint als ein Zeugnis für jene Unmittelbarkeit des göttlichen Zornes, wie sie allein der persönlich Schuldlose erfährt. Denn für den Schuldlosen allein ist dieser Zorn nichts als Zorn. Für den Schuldigen bedeutet er Gerechtigkeit – für den Schuldlosen bedeutet er reines Entsetzen: das Irrewerden and der göttlichen Gerechtigkeit selbst.

Unverstehend, fragend, beschwörend, steht er seinem Gott gegenüber, dessen Züge er in seinem sinnlosen Zorn gar nicht mehr zu erkennen vermag. Und doch fühlt Hiob diesen Zorn ganz und gar auf sich gerichtet und sich von seiner Gewalt vor Gottes Angesicht hingerissen; weit unmittelbarer und wirklicher als der persönlich Gestrafte erfährt er gerade an der Unverständlichkeit des göttlichen Gerichtes, daß es das Gericht Gottes ist. Das verständliche, begreifliche Gericht ist das des Menschen; das Gottes ist das absolut unfaßbare. So, wie Hiob durch die Unbegreiflichkeit des göttlichen Gerichtes mit allen Fasern seiner zerrissenen Seele unter Gott gepreßt wird, wie er von dem Leid zu einer einzigen drängenden Frage an Gott zusammengepreßt wird, so, in dieser unüberbrückbaren Ferne und entsetzlichen Nähe erfährt nur der schuldlos Leidende den Zorn Gottes. Wie aus zehrendem Feuer schreit Hiob: „Erbarmet euch meiner, erbarmet euch meiner, ihr meine Freunde, denn die Hand Gottes hat mich gerührt.“ Das ist ihm immer, in all seinem Hader, und gerade in ihm, jeden Augenblick gegenwärtig, daß es Gott ist, der ihn getroffen hat. Nur aus dieser Gewißheit entspringt seine unablässige menschliche Frage. Sie selbst ist das Zeichen des Getroffenseins von Gott.

Seine Freunde, die ihn mit weisen Worten zu trösten kommen, vermehren nur sein Leid. Sie können sein Gespräch mit Gott gar nicht verstehen; sie hören und sehen es nur von außen, wie sie sein Leid nur von außen sehen; keiner versenkt sich in die Tiefe seines Leides um Gott. Darum sagt Gott später: „Sie haben nicht recht von mir geredet, wie mein Knecht Hiob.“ Sie sprechen von ihm und von Gott „wie der gemeine Pöbel“, d. h. von außen, personlos, allgemein; sie reden aus rein menschlichen Erwägungen und Erkenntnissen, nicht wie Hiob aus dem Entsetzen des Geschlagenseins von Gott. Sie reden von einer allgemeinen Gerechtigkeit Gottes, die an menschlichem Maßstab gemessen ist, von einem allgemeinen, menschlichen faßbaren Zusammenhang von Schuld und Leid. Unter Hiob aber ist im Leid der Grund des allgemeinen Daseins eingebrochen; er ist hinabgestürzt in den Abgrund radikalen Alleinseins mit Gott. Hier versagt alles bloß menschliche Wissen. Zwischen Hiob und Gott gibt es keinen „Schiedsmann“, keinen, der „seine Hand zwischen sie legen“, der zwischen ihnen vermitteln könnte. Hiob redet aus seinem Leid zu seinem Gott – zu dem, von dem er sagt: „Denselben werde ich mir sehen, und meine Augen werden ihn schauen, und kein Fremder!

Vollkommener kann das Alleinsein mit Gott, in das kein Menschenwort, kein Menschentrost mehr eindringt, nicht ausgedrückt werden. Aber auch der Trost Gottes bleibt aus. Denn dies ist das Furchtbare: das Alleinsein mit Gott bedeutet nicht die Nähe Gottes. Derselbe Gott, der ihn so nah bedrängt, ist ja zugleich der unermeßlich Ferne, der als der Ewige über das kurze, vergängliche Menschendasein hinweggeht. Das Urentsetzen des Buches Hiob ist das jähe Erkennen, daß die Stimme Gottes auf die Stimme des einzelnen Menschen überhaupt nicht antwortet – daß weder die Stimme des Menschen Gott, noch die Stimme Gottes den Menschen zu erreichen vermag: daß das Schicksal des Einzelnen: mein Schicksal, mein Leben – und ich habe ja kein anderes als dieses – rechtlos, hilflos vor Gott im Lebensganzen ertrinkt. –

Niemals wohl in der gesamten Menschengeschichte ist diese Hiob-Situation der Menschheit mit solcher Gewalt gegeben gewesen wie in unserer heutigen Zeit. Niemals wohl wurde so maßlos, so ausweglos, so sinnlos gelitten wir heute. Der Menschheit als Ganze ist etwas widerfahren, in dem sie sich nicht zurechtzufinden vermag. Auch wir stehen in einem Gericht, in dem, so hoch die Menschheitsschuld angeschwollen ist, der Einzelne sich und seine Schuld nicht zu finden vermag. Und gerade das, was auf den ersten Blick die Lage zu verändern scheint: daß dies Leiden so massenhaft auftritt, daß von den Massengräbern des Weltkrieges an es sich überall um Massen-, um Völker-, um Menschheitsschicksale handelt, daß unser ganzer Planet von Katastrophen umstürmt ist, unter denen der Einzelne völlig versinkt, dies Eingeschlossen sein in eine ganze Flut von Leiden erhöht die Sinnlosigkeit und Ausweglosigkeit des Leides für den Einzelnen. Wenn er sich auch überall von verwandtem Entsetzen, von verwandten Schicksalen umgeben sieht, – darin allein, daß sein Leid keine Ausnahme ist, kann keine Linderung seines persönlichen Leides und keine Möglichkeit seines Verständnisses liegen. Denn das Leiden der Massen ist weit davon entfernt, eine Leidensgemeinschaft zu sein. Eine solche kann nur durch einen gemeinsamen Sinn entstehen. Daß dieser fehlt, daß er nicht ergriffen werden kann, gerade das ist es, was heute jedes Menschenleid so grausam auf sich zurückwirft und zum unergründlich einsamen macht. So müßte das ganze Erdenrund widerhallen von der Hiob-Frage: Was habe ich, ich armes sterbliches Wesen, ich dürrer Halm, ich fliegendes Blatt, getan, daß Du mich so entsetzlich strafft und mit so entsetzlicher Gleichgültigkeit über mit hinweggeht?

Und es ist in der Tat diese Frage, die unter all den allgemeinen Katastrophen unausgesprochen unsere Zeit erschüttert. Die heutige Menschheit steht mitten in einer ungeheuren Auseinandersetzung mit Gott. Das sichtbarste Zeichen dafür ist, daß nicht nur alle menschlichen Ordnungen und Gesetze, daß Reiche, Völker, Gesellschafts- und Wirtschaftsordnungen, und in all dem die Flut der Einzelexistenzen heute sich wandeln und auflösen oder in völlig menschenfremden Formen sich neu konsolidieren, sondern daß auch der Glaube, die Kirchen, die Religionen, das Verhältnis der Menschen zu Gott in einem einzigen ungeheuren Zerfall begriffen sind. Denn die erste Antwort unserer tief in die allgemeine Sinnlosigkeit verstrickten Welt auf das ihr gesandte Leid ist nicht das große Dennoch des fest in Gott wurzelnden Hiob, nicht die unveräußerliche Gewißheit, auf der sich sein ganzes Ringen erhebt, sondern sie ist die umgekehrte. Daran, ganz gewiß vor allem daran ist der ohnehin längst erschütterte Glaube der Völker und der Einzelnen zerbrochen, daß der Sinn dieser Hochflut von leiden nicht mehr begriffen wurde, daß die Hand Gottes in ihm nicht mehr erfaßbar war. Es ist falsch, zu sagen, daß die moderne Wissenschaft den Glauben zerstört habe; die Wissenschaft allein hätte diese Macht nie besessen – auch noch ganz abgesehen davon, daß die Entwicklung der Wissenschaft im zwanzigsten Jahrhundert mit all ihren Krisen und Erschütterungen, im Gegensatz zu der des neunzehnten, dem Glauben nicht nur wieder Raum gegeben hat, sondern ihn geradezu fordert. Die Wissenschaft hat mit ihren ungeheuren Hilfsmitteln der Theorie und der Praxis höchstens als Werkzeug dieser Auflösung gedient. Was aber in Wirklichkeit die Fundamente des Glaubens eingerissen, seine Grundlagen zerstört hat, war die unbegriffene, unbegreifliche menschliche Not. Nirgends zeigt sich dieser geschichtliche Vorgang überwältigender, als wenn man an Hand eines bedeutenden Tagebuchs der jüngsten Vergangenheit verfolgt, wie das erste und letzte Wort des christlichen Rußland: „Herr, erbarme Dich mein“, dies Ur- und Grundwort alles Menschendaseins, in den wachsenden Schrecken und Nöten des Weltkrieges immer leiser, immer schwächer und ratloser wurde und dann im Ausbruch der Revolution von einem Tag zum anderen auf den Lippen der russischen Menschen erstarb. Wir wissen, daß die Gottlosenbewegung ein einziges ungeheures Mißverständnis der menschlichen Situation ist. Und doch ist auch sie letzthin nur zu verstehen als ein Ausdruck der leidenschaftlichen Auseinandersetzung mit Gott um seiner Gerechtigkeit willen, in der, als die Antwort Gottes ausblieb, die Menschen selbst es unternahmen, aus rein menschlicher Macht Gerechtigkeit zu schaffen.

Ist so selbst in dem Verstummen des Gottesnamens noch ein wenn auch verworrener, nicht zu Ende geführter Ausdruck des Hiobsprozesses mit dem lebendigen Gott kenntlich, so ist in der deutschen Wirklichkeit, wo der Name Gott noch gebraucht wird, im Anfang sogar sehr ausgiebig gebraucht wurde, keine Spur des Ringens mit dem lebendigen Gott, keine Auflehnung gegen sein Verstummen, kein Suchen nach der Gerechtigkeit Gottes mehr zu finden. Hier ist der Zusammenbruch des Glaubens eine wahrhaft zerrüttende Katastrophe des Christentums. Selbst der Kampf der Bekenntniskirche geht ja nicht um die Gerechtigkeit Gottes, um Schuld und Leiden des Menschen, sondern allein um die Reinheit des Wortes. Das ist viel; es ist sehr viel; aber es ist nichts als Damm gegen die realen Gewalten, die dort das Christentum überrannt haben. Denn die heutige deutsche Wirklichkeit ist ja ein einziger Einbruch gott- und menschenfremder Mächte in das Leben, eine Zerstörung alles Gesetzmäßigen und Maßstabhaften, ein toller Tanz um selbstgemachte Götzen. In diesem Land ist die Hiobfrage verstummt. Eine Jugend, die nur die Erde, das nackte Leben und den nackten Tod kennt, die keinen Gott mehr über sich auch nur als dunkle Ahnung fühlt und den Begriff der Schuld und Sünde leugnet, wächst dort heran.

Gleichzeitig aber und in unmittelbarem Zusammenhang damit, als die andere Seite dieses Geschehens, hat sich dort etwas vollzogen, dessen tiefer Sinn nicht auf den ersten Blick sichtbar ist: das Land hat eine Minderheit seiner Bevölkerung, die Juden, geächtet und aus seiner Wirklichkeit ausgespien. Warum? Wir fragen hier nicht nach äußeren oder auch inneren Gründen, sondern einzig nach dem Sinn dieses Geschehens. – Und dieser führt uns zu Hiob zurück. Denn alles, was an niedrigen Motiven aller Art heute mit den Namen Rasse und Antisemitismus gedeckt wird, alle Lügen, die vom Weltkrieg an durch eine ungeheure Propaganda gezüchtet und vor allem dem deutschen Volk als furchtbares Gift eingeflößt worden sind, – alles das ist, von einem letzten Sinn aus gesehen, kein bloßer geschichtlicher Zufall. Daß in einem einzigen Menschen – wer weiß, durch welche erlittenen Schäden und Demütigungen persönlicher Art – in diesem Augenblick sich all dies Gift ansammelte und überfloß, daß er die Helfershelfer fand, die ihn noch übertrumpften, – das ist, wenn wir es vom Schicksal des Judentums, wie von dem der Menschheit aus betrachten, Werkzeug in der Hand eines Höheren, wie es Satan, der selbst von Gott abgesandt wurde, um seinen Knecht zu versuchen, Hiob gegenüber war. Wie Hiob mußte das Volk, das seiner Bestimmung nach der Knecht Gottes, der Träger des Gesetzes in der Welt ist, von dem gesetzlosen Volk ausgesondert werden, mußte es aller Bergungen und Sicherungen im Irdischen beraubt, mußte es in ungeheures Leid ausgesetzt, in Verachtung und Vernichtung getrieben werden, um sich auf den Sinn seines Daseins erneut zu besinnen. Denn das kann je und je nur dadurch geschehen, daß Israel mit aller Wucht vor seine eigenste Aufgabe gestellt wird.

Das europäische Judentum hatte ja diese Aufgabe nicht rein bewahrt: sie war verwischt und vergessen. Auch die Juden hatten am Schicksal der anderen Völker teil; sie waren tief mit Leib und Seele, Geist und Gut und Blut in das europäische Gesamtschicksal verflochten. Sie lebten es mit. Aber Israel ist nach dem Wort des Propheten „nicht ein Volk wie andere Völker“. Es ist nicht um seiner selbst willen da, sondern um der Menschheit willen. Nicht erste, seit es unter die Völker zerstreut ist, aber seit damals, seit der Zerstörung des Tempels mit doppelter Klarheit und in tausendfacher Gefahr, sich zu verlieren, liegt seine Bestimmung, sein von außen schwer erkennbarer und ihm selbst immer wieder entgleitender Sinn darin, daß es ihm letzthin nicht um völkische Selbstbehauptung und Selbstverwirklichung, sondern einzig und allein um die Verwirklichung Gottes geht. Denn Israel ist nicht da, um zu sein, sondern um zu künden. Nicht es selbst soll sein, sondern das von ihm Verkündete: das Reich und Ebenbild Gottes, die unter dem Einen Gott im Frieden geeinte Menschheit. – Um dieser Verkündung willen mußte es sich von Staat und Macht und Land lösen, mußte es selbst den sichtbaren Tempel lassen, mußte es unter die anderen Völker verstreut werden, mußte es heimatlos werden auf Erden. Denn durch sie steht es nicht wie die anderen Völker ursprünglich in einer Wirklichkeit, sondern in einer Aufgabe. In einer Aufgabe, die es erst erfüllen muß, die zu erfüllen es da ist. Und eben weil sie unerfüllt, innerhalb der Geschichte unerfüllbar ist, weil sie der Weg zu einem messianischen Ziel ist, darum ist dafür gesorgt, daß die ungeheure Aufgabe, die auf Israels Schultern gelegt ist, es nie zu einer Selbstüberhebung führen kann.

Denn diese göttliche Begnadung Israels erscheint im Irdischen als eine furchtbare Erniedrigung. Es wird nicht vor den anderen Völkern als Vorbild und Beispiel ausgezeichnet, – sondern so, gerade entgegengesetzt, spricht der erste Prophet des Exils seine Bestimmung aus: „Und sollst eine Schmach, Hohn, Exempel und Wunder sein allen Völkern ..., wenn ich über dich das Recht gehen lasse mit Zorn, Grimm und zornigem Schelten.“ Israel ist nicht Träger der menschlichen Vollkommenheit, sondern des göttlichen Gerichtes, in dem Gott selbst sich als der Einzige offenbart und den ungeheuren Abstand seines erwählten Volkes von der Gottebenbildlichkeit enthüllt.

Dies ist es, was die anderen, die im Irdischen wurzelnden Völker nie verstehen und warum sie Israel immer mit einem Schein von Recht verfolgen. Sie sehen klar nur dies: daß das Volk seiner Aufgabe nie und nirgends gewachsen ist, daß es darum immer neu die göttlichen und menschlichen Züchtigungen erfährt. Sie vermögen nicht das Ungeheure der Aufgabe zu sehen, die dies schwere irdische Geschick heraufbeschwört, um derentwillen sein Versagen immer wieder mit unerbittlicher Strenge, man möchte sagen: mit göttlicher Leidenschaft aufgedeckt wird; sie sind vollends heute ganz und gar dafür erblindet. Sie begreifen nicht, daß das jüdische Volk das Volk ist, das gewissermaßen zweimal das Menschenschicksal trägt: heimatlos und flüchtig zu sein auf Erden, – daß es der große Hiob der Menschengeschichte ist, der um seines Glaubens willen immer erneut aus allen Bergungen im Irdischen aufgeschreckt werden muß, um immer wieder neu die ewige Menschheitsfrage an Gott zu stellen. Wie oft im Laufe der Menschengeschichte hat schon der wehe Ausruf Hiobs: „War ich nicht glückselig? War ich nicht sein stille?“ auf den Lippen jüdischer Menschen gelegen, die aus allem, was ihnen teuer war, emporgeschreckt wurden. Aber sie dürfen nicht glückselig, sie sollen nicht sein stille sein. Mit äußerster Schroffheit spricht dies ein fast übermäßiges Wort des Midrasch aus: „Als König Ahasverus seinen Ring dem Hamann übergab und damit dessen grausame Judenverfolgung besiegelte, da hat er mehr für Israel getan als alle Propheten.“

Dies Wort, das den Leidenssinn Israels auf seine steilste Höhe führt, läßt uns zugleich verstehen, warum Gott den Satan gerade an seinen Knecht absendet, warum er diesen furchtbarsten Stachel gerade in das Herz seines Getreuen bohrt. Nur in diesem Herzen schlummert die Flamme, nur in ihm ist der glühende Funke, den er zum Flammenmeer aufpeitschen will: zum Ringen mit dem lebendigen Gott. Nur der Gott erfahren hat, kann mit ihm ringen. Der Knecht Gottes darf nicht schlafen. Leid ist Erweckung. Wer leidet, der ist wach. Nicht einzuschlafen, wach zu bleiben und zu werden, das ist der Sinn des gottgesandten Leides Hiobs und Israels. Und so erkennen wir: Das Volk, das die Hiobfrage nicht mehr stellt, das sich der lebendigen Auseinandersetzung mit Gott begeben hat, mußte das Volk, dessen Sendung es ist, diese Auseinandersetzung für jede Zeit neu zu leisten, wie die im Irdischen lebenden Menschen den aussätzigen Hiob von sich stoßen. Daß aber gerade Deutschland in diesem Augenblick zum Werkzeug Gottes wurde, das hat auch von der Seite des Judentums aus einen besonderen Sinn. Nirgends wie dort waren ja die Juden so tief, so leidenschaftlich und auch wieder so ruhig, so bürgerlich in alle Schichten einer irdischen Heimat hineingewachsen. Nirgends wie dort haben sie sich so hingebend in die große geistige Entwicklung eines Volkes eingestellt und aus ihr und für sie gelebt. Nirgends aber auch sind sie dann tiefer, restloser in den europäischen Auflösungsprozeß aller Glaubens- und Erkennungsgewissheiten hineingerissen worden. Nirgends so tief wie dort hat Israel seit Generationen vergessen, daß es nicht ein Volk wie andere Völker; nirgends hat die Sehnsucht, in einer irdischen Heimat Wurzel zu haben, es so tief, so völlig übermannt. Darum mußte dort das Signal gegeben werden. Und mit grauenvoller, vorher gar nicht ausdenkbarer, fast symbolischer Folgerichtigkeit wurde dort die Ausrottung der Juden aus ihrer Heimat durch Generationen hindurch bis in jeden jüdischen Blutstropfen hinein betrieben.

Aber das deutsche Geschehen ist nur ein äußeres Zeichen. So wenig darf Israel das Glück der anderen Völker kennen, so wenig darf es eine irdische Heimat haben, daß selbst sein Land, das Heilige Land, ihm nicht im Sinne der anderen Völker zu einer Heimat werden darf. Daß Israel zum ersten Male nach fast zwei Jahrtausenden die Heimat seines Ursprungs wiederfindet, scheint seltsam und glückhaft seiner Bedrohung in Europa zu entsprechen. Aber auch Zion ist wie jede irdische Heimat für die Juden ein Weg zugleich und eine Gefahr. Und wieder ist dies in der Wirklichkeit selbst symbolisch ausgedrückt. Daß Palästina zu klein ist, daß es nur einen geringen Bruchteil des Volkes aufnehmen kann, daß dort schon ein anderes Volk wohnt und das Land für sich beansprucht, daß die Mandatmacht unzulänglich ist – das alles bedeutet vom letzten Sinne Israels aus gesehen dasselbe. Sind nicht selbst die furchtbaren heutigen Ereignisse in Palästina wie ein Zeichen? – wie ein aufgehobener Finger: Nimm das Heilige Land, lebe in ihm, bereite es! Aber bleibe immer, immer eingedenkt, daß es nicht Dein Land, Deine Scholle, sondern daß es das Heilige Land, das Land Gottes ist.

Zion, das muß unverrückbar gesehen werden, ist ein Weg. Es ist vielleicht heute der einzige Weg; aber es ist kein Ziel. Was heute dort von jüdischen Händen, jüdischen Herzen geschieht, das kann nichts anderes sein als ein Herauskämpfen des Gottesreiches aus der Wildnis götzendienerischer Mächte, wie es einst im Heiligen Lande durch die ersten Könige geschah. Israel muß auch dort, und gerade dort, wach bleiben. Er darf durch keine irdische Rast abgelenkt werden von seinem Weg: dem ewigen Kampf mit dem lebendigen Gott, den es, einsam und verachtet wie Hiob, dennoch für die Menschheit kämpft.

Wir verließen Hiob in dem Augenblick, in dem er in abgründiger Verzweiflung inne wurde, daß das einzelne, kurze, vergängliche, von allen Seiten her eingeschränktes Menschendasein hilflos vor Gott im Lebensganzen ertrinkt. Keine Antwort Gottes auf sein ratloses Ringen und Flehen war bis dahin vernehmbar. – Und als dann endlich dennoch Gottes Antwort an Hiob geschieht, da geschieht sie nicht dadurch, daß Gott von ihm abläßt, und auch nicht dadurch, daß er sich ihm als der Nahe zu erkennen gibt, noch dadurch, daß er ihm eine begreifliche Antwort gibt; sie geschieht überhaupt nicht als Antwort, sondern als Gegenfrage Gottes an Hiob. Sie geschieht dadurch, daß Gott selbst als der Schöpfer der Welt im Donner seiner Allmacht an ihm vorüberzieht. Und wunderbar: während Gott, Hiob in seine Schranken zurückweisend, ihm die Frage entgegenschleudert: „Wo war du, als ich die Erde gründete? Haben sich dir des Todes Tore aufgetan, oder hast du gesehen die Tore der Finsternis?“ ... „Kannst du die Bande der sieben Sterne zusammenbinden oder das Band des Orions lösen?“ – wie er das furchtbare Geheimnis seiner Schöpfung: seine ungeheuren, alle menschliche Fassungskraft übersteigenden Werke: Meer und Himmel, Tod und Leben und die grauenvollsten seiner Kreaturen ihm entgegenführt und ihm so die ganze unermeßliche Entfernung des Schöpfers vom Geschaffenen, der Allmacht von der Ohnmacht, des Ewigen von dem nichtigen, vergänglichen Menschenwesen enthüllt, – gerade da erkennt Hiob seinen Gott wieder. Nun entsetzt er sich nicht mehr vor der Macht Gottes, sondern er vertraut sich dieser Macht. Er versucht nicht mehr zu rechten. Er demütigt sich und tut Buße in Staub und Asche. Er betet an. Denn nur begreift Hiob: Du, der Du diese unermeßliche Tat getan hast, der Du dies alles erschaffen hast, das mich in sich befaßt, und der Du mir doch auch dies alles zu erfahren gegeben hast, – Du brauchst dem fliegenden Blatt, dem dürren Halm keine Antwort zu geben; denn ich bin Dein. Ich gehöre Dir, bin eingeschlossen in Deine Schöpfung, eingeordnet in Dein Gesetz. Ich erkenne, wer ich bin, da ich sehe, wer Du bist. Nur als Gott aller Kreatur vermag er, der Einzelne, seinen Gott zu erfahren. Und nicht von sich selbst, nur von Gott aus kann er sich in seiner Wahrheit erkennen. Die Unerlösung gegen das Urentsetzen des Buches Hiob beruht darin, daß der Mensch in dem Augenblick, wo er Gott als Schöpfer, als Schöpfer einer ungeheuren sinnvollen Ordnung, erfahren hat, nicht mehr rechtlos vor ihm im Lebensganzen ertrinkt, sondern in seine Schöpfung aufgenommen ist und als Geschöpf dem Schöpfer anbetend sich beugt. In der reinen Anbetung erst erfährt er Gott als reines Du.

Hiobs Prüfung ist vollendet. Seine Frage verstummt in dem Augenblick, wo die Schöpfung Gottes ihm zur Antwort auf seine eigenste Frage geworden ist. Nicht indem er die Ordnung der Schöpfung verstanden und sein Leiden in ihren Zusammenhängen begriffen hätte, sondern gerade indem er sie nicht verstanden hat, indem er sich der Macht anheimgibt, die er nicht mehr begreifen kann und die ihm keine Rechenschaft schuldet: indem er seinen Ort in der Schöpfung Gottes in Demut angenommen hat und damit sein Leiden auf sich genommen hat.

Was bedeutet aber diese jähe Wendung? Was bedeutet es, daß Gott, um dessen Übermacht Hiob doch auch vorher schon wußte, nun selbst die Allgewalt seiner Schöpfung an ihm vorüberführt und so sein Herz wandelt? Ist denn die Schöpfung nicht immer und zu jeder Zeit Gottes Offenbarung an den Menschen? Was bedeutet es, daß Gott selbst sich nun in ihr Hiob nochmals offenbart, daß er sein Schweigen bricht und zu ihm redet?

Alles, was Gott Hiob im Donner seiner Schöpfung entgegenschleudert: seine Macht, seine Übergröße, den ganzen Abgrund zwischen Schöpfer und Geschöpf, hat Hiob schon vorher gewußt. Gerade daraus stammt ja seine Hoffnungslosigkeit. Aber er hat es vom Menschen aus und damit in Verzweiflung gewußt. Nun aber erfährt er es von Gott aus und damit als Erlösung. Wohl hat er auch schon aus der Tiefe seines Leides, als ihm noch keine Offenbarung geschehen war, ausgerufen: „Aber ich weiß, daß mein Erlöser lebt!“ Immer wußte Hiob um Gott. Immer glomm das Licht hinter der finsteren Wand des Leides, die Gott zwischen sich und Hiob aufgerichtet hat. Daß dies Licht nun hell aufflammt, daß Gott selbst zu ihm kommt, daß er zu ihm redet, daß Hiob sagen kann: „Ich habe Dich nun mit den Ohren gehöret, und mein Auge siehet Dich auch“, das bedeutet nichts anderes, als daß die Wand plötzlich sinkt, daß sie von Hiobs unablässigen Ringen durchbrochen ist und daß er selbst damit in eine andere Ordnung durchgebrochen ist, in der der Glanz und die Stimme Gottes auf ihn hereindringt. Was Hiob vor diesem Durchbruch gewußt hat, war die Ohnmacht des Geschöpfes gegenüber dem Schöpfer; was er durch ihn, in der Erfahrung Gottes erlebt, ist die unbegreifliche Übermacht Gottes, vor der es nur die rein Anbetung gibt. Oder – das ist dasselbe: Was er von sich aus wußte, war die Sinnlosigkeit seines Leides; was er von Gott aus erfährt, ist sein Aufgenommensein in den Sinn.

Damit enthüllt sich der tiefe Zusammenhang zwischen Sinn und Leid. Das Leid ist – von dieser Gewißheit ist das Buch Hiob übervoll – nichts anderes als der eigentliche Ausdruck und die Verwirklichung der menschlichen Situation schlechthin: der unfaßlich schweren Lage alles Menschdaseins, daß wir, winzige Lebensfünklein, die wir sind, ausgestreut in eine Unendlichkeit des Todes, dennoch vor der Unendlichkeit des Lebens, die fordernd über uns hereinbricht, mit allem, was wir sind und tun, uns verantworten müssen. Aus dieser überschweren Lage des Anspruchs der Unendlichkeit an unser flüchtiges, verwehendes Menschdasein entspringt der Aufschrei Hiobs, Millionen Mal von Menschenlippen laut und schweigend wiederholt: „Willst Du wider ein fliegendes Blatt so ernstlich sein und einen dürren Halm verfolgen?“ – Aber Gott ist ernstlich gegen das fliegende Blatt. Und daß er ernstlich ist, das bedeutet seine Erwählung. Der Ernst Gottes ist das Siegel unserer menschlichen Existenz. Durch ihn, und nur durch ihn sind wir von dem dürren Halm, dem fliegenden Blatt unterschieden. Der Halm muß verdorren, das Blatt muß abgerissen werden. Das ist das große Gericht über alles Sterbliche. Aber das Sterben dessen, was nur Natur ist, in dem der Kreislauf alljährlich alles wiederbringt, ist nur ein bloßes Spiel von Sterben und Auferstehung, und das Gericht in der Natur ist nur ein Bild des wirklichen Gerichts. Der Mensch allein ist wahrhaft sterblich; ihm ist nur das eine Leben gegeben, das Eine Leben: Auge in Auge mit dem Tod und mit Gott. Er allein erfährt den Abgrund der Sterblichkeit, er allein das wahrhaftige Gericht.

Darum steht der Mensch im Leid. Und je tiefer es gelebt, je brennender es erfahren wird, je mehr es Leid um Gott, Ringen mit Gott ist, um so tiefer dringt er zur Wahrheit seines Daseins vor. Das Buch Hiob lehrt uns erkennen, daß nicht der Verstand, das Denken, sondern das Leid es ist, das zur letzten der Wahrheit führt. Zu der Wahrheit, von der es dort heißt: „Sie wird nicht gefunden im Land der Lebendigen ... Tod und Verdammnis haben mit ihren Ohren ihr Gerücht gehört ... Gott weiß den Weg dahin und kennet ihre Stätte.“

Diese Wahrheit, zu der nur Gott den Weg weiß, ist nicht da, ist nichts Gegebenes, nichts, das vom menschlichen Denken, menschlichen Verstand gefunden, entdeckt werden könnte. Sie ist uns zu erfahren gegeben von Gott aus in Tod und Verdammnis, vom Menschen aus in Leid und Verantwortung. Auch auf unsere Hiobfrage, die Frage unserer Zeit, gibt es keine andere Antwort als diese. Gottes Gerechtigkeit mit der des Menschen zu versöhnen, ist uns versagt, wie es Hiob versagt war. Aber auch heute, in unserer späten, gottfernen Welt ist es die auf tausend Wegen von uns abgedrängte Schöpfung selbst, die mit ihrer zerschmetternden Gewalt an uns vorüberzieht und uns dennoch zur Erlösung werden kann. Aber sie erscheint in anderer Gestalt. Wo, wie heute, die Dämonie einer widernatürlichen Sachwelt die Natur in mehr tönen, wo mit dem Wort eines großen Dichters „die Musik der Welt bis in alle Tiefen hinunter abgebrochen“ ist, wo nicht Donner und Blitz uns als mächtigste Offenbarungen Gottes erschüttern, sondern die Geschehnisse, die sich zwischen Menschen und Völkern vollziehen – da offenbart Gott sich und sein Werk uns nicht in den überschwenglichen Wundern und Geheimnissen der Natur; aber er tut es in einer nicht minder geheimnisvollen und überschwenglichen Gestalt: in der Geschichte. Und auch hier erscheint seine Offenbarung nicht als Antwort auf die menschliche Frage, sondern als Gegenfrage Gottes an den Menschen. Wenn mit dem Vorüberziehen der Schöpfung als Natur an Hiob die Frage gestellt war: Wo stehst du, wo ist hier dein Ort?, und wenn Hiob seinen bescheidenen Ort in Gottes Schöpfung annehmend, sich beugt und demütigt und erst so in der rechten Beziehung zu Gott steht, so ist mit der Offenbarung der geschichtlichen Welt an den Menschen noch eine weitere Frage gestellt. Zu dem Wo stehst du? tritt das: Was wirst du tun? Wie wirst du dich entscheiden?

Und wir heutigen Menschen erfahren in einem Ausmaß, wie es die Menschen früherer Zeiten nicht kannten, was Geschichte ist. Denn das ist in Wahrheit nur zu erfahren um den Preis aller menschgeschaffenen Sicherungen, die immer die Grundwahrheit des geschichtlichen Daseins verhüllen. Wirkliche Geschichte tritt nur über die Schwelle unseres Lebens in den Augenblicken, wo alle menschlichen Wahrheiten und Gewißheiten, alle rein gedanklich festgelegten Werte, alle allgemeingültigen objektiven Systeme des Geistes zerfallen. Denn dann erst offenbart sich, daß die Geschichte zwar von Menschen gemacht wird, aber sich nicht im Menschlichen erschöpft, daß in ihr eine Wahrheit sich auswirkt, die vom Menschen mit ungeheurer Wucht erfahren wird, aber nicht gefunden wird im Land der Lebendigen, deren Gerücht Verdammnis und Tod gehört haben: die Wahrheit, wie sie für das geschichtliche Dasein die Propheten den Menschen offenbart haben: das unaufhörlich durch alles Tun und Gestalten hindurchbrechende Gericht Gottes über alles Menschliche. Es ist der Ernst Gottes für den Menschen, der sich wie im Einzelleben so auch in der Geschichte in Erschütterungen und Zerstörungen offenbart. Es ist derselbe Sinn des Leides, der auch zu der geschichtlichen Wahrheit führt: Erweckung, Aufgescheuchtwerden aus jeder Selbstverständlichkeit. Der Anruf: „Könnet ihr denn nicht einen Augenblick mit mir wachen?“ klingt als ewiger göttlicher Erweckungsruf aus der untersten Tiefe des geschichtlichen Daseins. Um wie viel mehr heute, in einer dem Abgrund entgegenrasenden Welt, in deren Gestaltung nichts Göttliches mehr Stimme hat, in dieser dunklen Schicksalsstunde Gottes in der Welt ruft uns dies Wort mit schmerzlicher Gewalt auf, nicht zu ermatten, uns dem Leid, dem Ringen mit Gott um seiner Gerechtigkeit willen nicht zu entziehen, mit ihm, für ihn zu wachen, zu ihm zu stehen, uns für ihn zu entscheiden.

Damit enthüllt sich der Erweckungssinn des Leides in seiner tiefsten Wahrheit als Stellvertretung. Das Leid um Gott, das allereinsamste Leid, wird als die Wahrheit unseres Seins von denen, die es auf sich nehmen, für die gewaltige Überzahl derer mitgelitten, die seine Botschaft nicht vernehmen oder sich nicht für sie entscheiden. Das gewaltigste Ereignis solcher Vertretung ist ausgesprochen in den Worten: „Fürwahr, er trug unsere Krankheiten und lud auf sich unsere Schmerzen ... Die Strafe lag auf ihm, auf daß wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilet.“

Mit diesem Leidenssinn steht Israel abermals im Herzen der Menschheit. Es führt eine einzige große Linie von dem Kampf Jakobs mit der finsteren Macht, die sich ihm im Licht eines neuen Tages zum göttlichen Segensantlitz wandelt, über die Propheten, die, gleich Jeremia, zum Leiden „ausgesondert sind von Mutterleibe an“, über Hiobs Erweckung durch den Satan zum Ringen mit dem lebendigen Gott, bis zu dem gewaltigsten Schmerzensaufschrei, in dem sich alles je um Gott gelittene Menschenleid sammelt: „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?

Aber dies ist nicht das letzte Wort des Leides. Sein letztes ist der Durchbruch in eine andere Ordnung. Daß Hiob, nachdem er sein Leid durchgerungen, nachdem er es ganz und gar auf sich genommen hat, „zweifältig soviel zurückerhält, als er vorher gehabt hatte“, das weist auf die große Verheißung hin, die aller lebendigen Leidensüberwindung gegeben ist: auf die neue Verbindung, worin der mit Gott steht, der das ihm auferlegt Leid bis zum Ende durchgelitten hat. Wir nennen diesen Stand Gnade.