Das Hiob-Problem bei Franz Kafka
In: Der Morgen, Heft 1 (April 1929)
Herr,
wenn ich gleich mit Dir rechten wollte, behältst Du doch Recht; dennoch muß ich
vom Recht mit Dir reden. Jeremia 12. 1.
Wer
wird ihm erzählen, daß ich rede? So jemand
redet, der wird verschlungen. Hiob 37. 20.
Der Hader mit Gott, der Prozeß
des Menschen mit Gott um seiner Gerechtigkeit will hat im Judentum in frühester
Zeit begonnen und niemals aufgehört. Er ist die Kehrseite des Lebens unter dem
Gesetz, das die unbedingte Gerechtigkeit Gottes voraussetzt. Je reiner die
göttliche Forderung an den Menschen erfaßt und gelebt wird, um so unbedingter
muß der Mensch auf seiner Forderung der unbedingten Gerechtigkeit Gottes
bestehen. Und an der unerreichbaren Ferne und Überlegenheit Gottes, an der
Machtlosigkeit des Menschen ihm gegenüber brennt die menschliche Forderung um
so heftiger und leidvoller auf. Aber wenn Jeremia mit Gott hadert, wenn es
ausruft: „Gehet es doch den Gottlosen so wohl, und die Verräter haben alles die
Fülle ... Mich aber, Herr, kennest Du und prüfest mein Herz vor Dir: -- wenn er
unter der Last seiner Sendung zusammenzubrechen droht: er weiß dennoch immer, warum er leidet. Er weiß, daß das ihm
auferlegte Leid das Leid seiner Sendung selbst ist; er weiß daß Gott sein Herz
kennt, daß er ihn ausgesondert hat von Mutterleibe an, daß er ihm zu leiden
bestimmt hat, weil er ihn erwählt hat, den Abfall, die Schuld seines Volkes auf
sich zu nehmen und für sie zu leiden. Sein Gott ist der Gerechte.
Anders Hiob. Auch ihm ist Gott
der unendlich Ferne, der Übermächtige, dessen Gedanken nicht unsere Gedanken,
dessen Wege nicht unsere Wege sind. Aber er ist mit diesem Gott allein. Nicht
sein Volk, nicht die Menschheit trägt ihn, und nicht er trägt sie; er steht
einzig für sich selbst. Seine Rechnung geht allein zwischen ihm und Gott. Er,
dieses fliegende Blatt, dieser dürre Halm, dieses winzige, vergängliche,
sterbliche Wesen steht zugleich als dieser unverwechselbare Eine von aller Welt
verlassen dem unendlich Fernen gegenüber und wagt es, seine Stimme, diesen
Hauch eines Augenblicks, verzweifelnd und anklagend wider den Ewigen zu
erheben.
Seine Freunde können sein
Gespräch mit Gott gar nicht verstehen; sie sehen und hören es nur von außen;
sie sprechen von ihm und von Gott „wie der gemeine Pöbel“, von außen,
subjektlos, allgemein. Sie reden von einer allgemeinen Gerechtigkeit Gottes,
von einem allgemeinen Zusammenhang von Schuld und Leid. Unter Hiob aber ist im
Leid der Grund des allgemeinen Daseins eingebrochen; er ist hinabgestürzt in
den Abgrund des radikalen Alleinseins. Er ist nichts anderes als das reine
brennende Subjekt des Leidens: die reine unmittelbare Frage an Gott. Denn Leid
ist in alle Ewigkeit nur mein Leid.
Es gibt kein Leiden eines Er; er ist als solches einfach nicht erlebbar.
Mitleid ist so lange leer und nichtig, als ich das Leid des anderen nicht auf
mich genommen und zu meinem eigenen gemacht habe. Das haben Hiobs Freunde nicht
getan; darum haben sie weder vom wirklichen Leid noch vom wirklichen Gott
gesprochen; darum sagt Gott: „Sie haben nicht recht von mir geredet wie mein
Knecht Hiob.“ Hiob aber redet aus seinem
Leid zu seinem Gott – zu dem, von dem
er sagt: „Denselben werde ich mir sehen, und meine Augen werden ihn schauen und
kein Fremder.“
Aber er erreicht diesen ganz
nahen, diesen seinen eigenen Gott nicht – weil er zugleich der unermeßlich
Ferne ist. Das Urentsetzen des Buches Hiob ist das jähe Erkennen, daß die
Stimme Gottes auf die Stimme des einzelnen Menschen überhaupt nicht antwortet,
daß weder die Stimme des Menschen Gott, noch die Stimme Gottes den Menschen zu
erreichen vermag: daß das Schicksal der Einzelnen: mein Schicksal, mein
Leben – und ich haben ja kein anderes als dieses – rechtlos, hilflos vor Gott
im Lebensganzen ertrinkt.
Denn was Hiob von Gott
verlangt, ist weder Trost noch Aufhebung seines Leides; es ist einzig Gottes
Gerechtigkeit. Aber Gott ist viel zu groß und viel zu mächtig, viel zu weit vom
Menschen entfernt, als daß er sie ihm gewähren könnte. „Ach daß ich wüsste, wie
ich ihn finden und zu seinem Stuhl kommen möchte!“ – so ringt Hiob um Gottes
Nähe, so ruft, so beschwört er ihn immer aufs neue, auf seine arme versinkende
Menschstimme zu hören – sich von ihm finden zu lassen, ihm die Rechenschaft
nicht zu verweigern, obwohl seine Wege dem Menschen so unauffindbar verborgen
sind. Denn derselbe Gott, dem er vertraut, steht ja wider ihn im Bund mit dem
Bösen, hat ihn, seinen Knecht, im Leiden dem Versucher preisgegeben und ist so
über ihn, indem er ihn bis ins Mark seines Lebens getroffen hat, zugleich
erbarmungslos seine gewaltigen unverständlichen Wege fortgegangen. Derselbe
Gott, dem er zuruft: „Willst Du wider ein fliegendes Blatt so ernstlich sein
und einen dürren Halm verfolgen?“, derselbe, der ihn so bitter ernst nimmt, daß
er ihn täglich heimsucht und versuchet ihn all Stunden – derselbe verschließt
seinem Rufen und Schreien sein Ohr und hört ihn nicht. Und dennoch kann Hiob
nicht aufhören, nach seiner Gerechtigkeit zu suchen, weil er fühlt, daß die
Züchtigung Gottes, die er erfährt, gar nicht ihm gelten kann.
Denn Hiob weiß sich schuldlos.
Er wiederholt es immer wieder. Er findet in seinem persönlichen Leben keine
Schuld. Er findet in sich keine Antwort auf das Warum der göttlichen
Züchtigung. Und Gott antwortet ihm nicht. Und doch zweifelt er keinen
Augenblick daran, daß sein Leid seine Züchtigung Gottes ist. Darum kann er,
indem er Gottes Gerechtigkeit sucht, nicht ablassen, seine eigene Schuld zu
suchen. Aber als er schließlich in diesem unablässigen Suchen auf eine
verborgene Schuld seines Daseins trifft, da zeigt sich an ihr die
Hoffnungslosigkeit seiner Frage nur noch tiefer. Denn diese Schuld kann gar
nicht ihm zur Last gelegt werden, sie ist nicht die seine. Es ist die
menschliche Schuld schlechthin, die in seiner Frage aufbricht: „Wer will einen
Reinen finden bei denen, da keiner rein ist?“
Kein Mensch ist rein vor Gott.
Alles Menschliche ist vor der Unbedingtheit Gottes zuvor gerichtet. Darum geht
sein Gericht über den Einzelnen, indem es ihn trifft, zugleich hinweg. Denn nur
den Einzelnen kann es treffen, auch wo es nicht dem Einzelnen gilt. Göttliche
und menschliche Gerechtigkeit können nicht zusammenkommen, können sich gar
nicht wahrhaft erfassen. Es ist die furchtbare Einsicht in die Vergeblichkeit persönlicher
Unschuld, die das ganze Buch Hiob durchzieht. Bis zu der persönlichen
Schuldlosigkeit dringt Gott gar nicht vor. Dazu sind wir zu tief in die
allgemeine Schuld hineingestellt, zu ursprünglich in unserem menschlichen
Dasein schlechthin von Gott gerichtet. Ja, die radikale Hoffnungslosigkeit
persönlicher Unschuld zeigt sich darin, daß die Strafe für die allgemeine
Schuld mit ihrer ganzen Wucht gerade an dem ausgehen muß, der persönlich
schuldlos ist. Der in seinem eigenen Leben Schuldige erfährt – wenn er sie erfährt – die Züchtigung
Gottes für seine eigene Schuld. Der persönlich Schuldlose allein erfährt an
sich die Züchtigung für die allgemeine Schuld, die den persönlich Schuldigen
gar nicht erreicht, weil sie ihm durch die Strafe für seine eigene Schuld
verdeckt ist. So dringt zu dem Schuldlosen der Zorn Gottes unmittelbarer vor.
Das Maßlose von Hiobs Unglück erscheint als ein Zeugnis für die Unmittelbarkeit
des göttlichen Zornes. Für den Schuldlosen allein ist dieser Zorn nichts als
Zorn. Denn für den Schuldigen bedeutet der Gerechtigkeit – für den Schuldlosen
bedeutet er reines Entsetzen: das Irrewerden an der göttlichen Gerechtigkeit
selbst. Unverstehend, fragend, beschwörend steht er seinem Gott gegenüber,
dessen Züge er in diesem sinnlosen Zorn nicht mehr zu erkennen vermag. Und doch
fühlt er sich von dieser Gewalt seines Zornes ganz und gar vor Gottes Angesicht
hingerissen; weit unmittelbarer, wirklicher als der persönlich Gestrafte
erfährt er gerade an der Unverständlichkeit, der Ungerechtigkeit des göttlichen
Gerichtes, daß es das Gericht Gottes ist. Das verständliche, begreifliche
Gericht ist das des Menschen; das Gottes ist das absolut unfaßbare. So wie Hiob
durch die Unbegreiflichkeit des göttlichen Gerichtes mit jedem seiner Gedanken,
mit allen Fasern seiner zerrissenen Seele unter Gott gepreßt wird, wie er von
dem Leid zu einer einzigen brennenden Frage an Gott zusammengepreßt wird: so,
in dieser unüberbrückbaren Ferne und entsetzlichen Nähe erfährt nur der
schuldlos Leidende des Zorn Gottes. Wie aus zehrendem Feuer schreit Hiob über
den allzufernen, allzunahen Gott: „Erbarmet euch meiner, erbarmet euch meiner,
ihr meine Freunde, denn die Hand Gottes hat mich gerührt.“ Das weiß Hiob immer
– das ist ihm in all seinem Hader, und gerade in ihm, jeden Augenblick
gegenwärtig, daß es Gott ist, der ihn getroffen hat. Nur aus dieser Gewißheit
entspringt ja seine unablässige menschliche Frage. Sie selbst ist das Zeichen
seines Getroffenseins von Gott.
Und als endlich Gottes Antwort
an ihn geschieht, da geschieht sie nicht dadurch, daß Gott von ihm abläßt, und
auch nicht dadurch, daß er sich ihm als der Nahe entgegenneigt, noch dadurch,
daß er ihm eine begreifliche Antwort gibt; sie geschieht überhaupt nicht als
Antwort, sondern als Gegenfrage Gottes an Hiob. Sie geschieht dadurch, daß Gott
ihm die ganze Größe und Gewalt seiner Schöpfung enthüllt, daß er selbst, der
Schöpfer der Welt, im Donner seiner Allmacht an ihm vorüberzieht. Und
wunderbar: während Gott, ihn in seine Schranken zurückweisend, Hiob die Fragen
entgegenschleudert: Wo warest du, als ich die Erde gründete? Haben sich dir des
Todes Tore aufgetan oder hast du gesehen die Tore der Finsternis? – kannst du
die Bande der sieben Sterne zusammenbinden oder das Band des Orion lösen? –
gerade da, wie er ihm die ganze unermeßliche Entfernung des Schöpfers vom
Geschaffenen, der Mach von der Ohnmacht, des Ewigen von dem nichtigen,
vergänglichen Menschenwesen enthüllt – gerade da erkennt Hiob seinen Gott wieder. Gerade in der
Schöpfung ist ihm, dem winzigen, von Gott angerufenen und doch von ihm
übergangenen Menschen Gott zum reinen Du geworden: zu dem Du, das in seiner
Übergewalt die Antwort auf seine Frage, gerade indem es sie verschweigt, in
sich schließt. Du, Du, der Du diese unermeßliche Tat getan hast, der Du dies
alles erschaffen hast, das mich in sich befaßt – Du brauchst dem fliegenden
Blatt, dem dürren Halm keine Antwort zu geben; denn ich bin Dein. Ich gehöre
Dir, bin eingeschlossen in Deine Schöpfung, eingeordnet in Dein Gesetz. Ich
erkenne, wer ich bin, da ich sehe, wer Du bist. „Ich habe Dich nun mit den
Ohren gehöret, und mein Auge siehet Dich auch.“ So, in dem Anschauen des
Schöpfers ist das fliegende Blatt, der dürre Halm zu etwas anderem geworden.
Die Urerlösung gegen das Urentsetzen des Buches Hiob ruht darin, daß der Mensch
im Augenblick, wo er Gott als Schöpfer erblickt hat, nicht mehr rechtlos vor
ihm im Lebensganzen ertrinkt, sondern in seine Schöpfung aufgenommen ist und
als Geschöpf dem Schöpfer anbetend sich beugt. In der reinen Anbetung erst
erfährt er Gott als reines Du.
Hiobs Prüfung ist vollendet;
seine Frage verstummt in dem Augenblick, als die Schöpfung Gottes ihm zur
Antwort auf die Frage seines eigensten Daseins geworden ist. Nicht indem er die
Ordnung der Schöpfung verstanden und sein Leiden in ihren Zusammenhängen
begriffen hatte – sondern gerade indem er sie nicht verstanden hat, indem er nicht mehr verstehen will, wo nichts
für ihm zu verstehen ist, indem er seinen Ort in der Schöpfung Gottes in Demut
angenommen und damit sein Leiden auf sich genommen hat.
Im Schicksal Hiobs, den Gott im
Leiden dem Versucher preisgegeben hat, ist das ganze Leidschicksal des
Judentums im Exil vorgezeichnet. Wie Hiob nimmt das jüdische Volk sein Leid als
von Gott verhängtes auf sich. Aber es nimmt es nicht einfach an. Es will es
verstehen. Das heißt, es will den Gott, um dessentwillen es duldet, verstehen.
Wie Hiob verlangt es, daß der Gott, unter dessen Forderung und Gericht es
steht, der absolute Gerechte sei. Darum lebt auch das Judentum im Exil in einem
einzigen Prozeß, einem unablässigen Hader mit Gott. Es hat sein Bestes getan;
es ist seinem Gott treu geblieben, es hat such für ihn entschieden. Es ist um
seinetwillen in doppeltem Sinne heimatlos geblieben. Es hat seit der Zerstörung
des Tempels und der Wanderung ins Exil kein anderes Land als das, das den
Tempel trug, als das seine anerkennen können; es ist um des Tempels willen
heimatlos geblieben auf Erden. Und es hat in noch weit tieferem Sinne seine
irdische Heimatlosigkeit auf sich genommen, indem es den inmitten des
geschichtlichen Lebens erschienenen Gott abgelehnt und sich rein und unbedingt
für den Gott der absoluten Transzendenz entschieden hat. Darum weil es alles
für seinen Gott getan zu haben glaubt, ist seine unablässige Frage die Hiobs
nach dem Zusammenhang zwischen menschlichem Leid und menschlicher Schuld, die
dieselbe ist wie die Frage nach der göttlichen Gerechtigkeit. Sein Leiden
selbst, dessen Grund es nicht erkennt, zwingt das Judentum des Exils zur
Theodizee, das heißt zu immer erneuten Versuchen, Gott zu rechtfertigen: die
Entstehung des Leides und der Schuld und ihren Zusammenhang im Leben zu
erklären. Es gibt keine große Leistung des Judentums im Exil, die nicht in
ihrem Kern eine Theodizee wäre.
Aber diese Theodizee, die schon
in der Frühzeit des Exils die innigste Angelegenheit des Judentums war, ändert
unter dem Druck der geschichtlichen Entwicklung immer mehr ihre Gestalt. Sie
wird in wachsendem Maße von der Berührung und Auseinandersetzung mit der Umwelt
ergriffen. Und zwar beginnt dieser Prozeß schon frühzeitig und setzt sich in
das Ghetto und durch das Ghetto hindurch fort. Der Chassidismus, diese große
Flamme aus dem Herzen des Ghetto, die all sein Trübes und Dunkles in sich
hineinreißt und zu Licht verbrennt, ist die letzte große explizit religiöse,
das heißt an den offenbaren Gott angeschlossene Theodizee des Judentums. Ein
tiefer – ein in seiner Tiefe gar nicht abzumessender – Einschnitt trennt unsere
Welt von ihm ab.
Erst nach der Auflösung des
westlichen, nach der Lockerung auch des östlichen Ghetto beginnt das jüdische
Verhängnis die Form anzunehmen, in der wir es kennen. Hier erst, in der
modernen Welt erkennen wir: das Leid, die Verlassenheit des jüdischen Menschen
war mit seiner doppelten Heimatlosigkeit und mit dem Aufsichnehmen des Leides
um seines Gottes willen noch nicht erschöpft. Ein Weiteres kommt hinzu. Seitdem
das Ghetto sich geöffnet, sich unter die übrigen Völker aufgelöst hat, hat der
Jude am Schicksal der abendländlichen Welt unmittelbar teil, und damit kommt
über diesen doppelt heimatlosen Menschen die letzte und sein Schicksal erst
ganz vollendende Einsamkeit: daß der Gott, um dessentwillen er all dies auf
sich genommen hat, für ihn nicht mehr zu finden ist; daß der Gott der
Offenbarung, unter den er sich gestellt hatte, in einem nie zuvor geahnten
Sinne in der abendländischen Welt, der nun auch er angehört, der verborgene,
der gar nicht mehr aufzufindende Gott geworden ist. Und dies bedeutet für den
jüdischen Menschen noch etwas anderes, weit Katastrophaleres als für den
christlichen. Der Jude steht und fällt mit seinem Gott. Dem Christen bleibt
noch die ganze Welt; denn in ihr ist ihm das Göttliche einmal erschienen, und
sie glänzt davon für immer. Wenn der Jude seinen Gott verloren hat, hat er
alles verloren. Die Kehrseite der unbedingten Bereitschaft des Abrahamsopfers
ist die vollkommene Verlassenheit des jüdischen Menschen, wenn Gott ihn
verläßt.
So ist nun erst in dem Aufgehen
in die abendländische Welt die Verlassenheit und Heimatlosigkeit des jüdischen
Menschen im Exil vollendet. Der Prozeß mit Gott kann auch jetzt nicht aufhören.
Er kann nicht schweigen, weil Gott sich verbirgt. Denn auch Hiob verbirgt er
sich. Wie er sich Hiob in seinem persönlichen Schicksal entzieht, so entzieht er
sich dem modernen Juden im allgemeinen Schicksal. Darum wird der Prozeß mit
Gott seine Gestalt ändern – aber gerade darum wird er neu, in einer neuen Form
wieder aufgenommen werden müssen: in einer Form, in der Gott ganz verstummt,
der Mensch allein redet – in der er aber, auch wenn er Gottes Namen
verschweigt, immer nun mit Gott redet.
Die Gestalt Franz Kafka[i] steht in der heutigen
abendländischen Welt. Sie ist aus ihr nicht zu lösen; sie ist mit tausend Faden
mit ihr verknüpft; sie gehört zu ihr. Zwischen ihm und der Welt des Alten
Testaments scheint auf den ersten Blick nichts, aber auch nichts Gemeinsames
mehr zu bestehen. Dort, im Alten Testament alles Dröhnen des göttlichen Wortes,
Atem seiner lebendigen Schöpfung – hier bei Kafka völliges Verstummen Gottes,
reine Negativität einer menschgeschaffenen, gottverlassenen Welt. Aber man kann
sich der Gestalt Kafkas nur vorsichtig und zögernd nahen; denn hier ist der
Zugang zu einem Allerheiligsten zu gewinnen, das in die Profanität der heutigen
Welt wie in einen schweren, staubbedeckten grauen Mantel eingehüllt ist, der
alle seine Strahlen aufsaugt und festhält.
Die Welt Kafkas ist wie sein
Stil von einer strengen sachlichen Präzision und Nüchternheit; aber zugleich
ist sie eine fremde und unheimliche Welt. Ein labyrinthischer Wahnsinn scheint
in ihr alle Wege um sich selbst gedreht und ineinander verschlungen zu haben.
Und doch ist diese seltsam unverständliche Welt ganz und gar – nur unter einem
gegen alle andere Betrachtung völlig veränderten, sie völlig verändernden
Aspekt – die unsere: unsere heutige Welt. Es ist die rationalisierte,
versachlichte und immer mehr von der Sache und von den Sachen überwältigte
Welt, in der wir leben, in der die Seele ganz den Dingen unterworfen und von
ihnen erdrückt ist. Und es ist zugleich die Welt, in der auch von anderer Seite
her der Seele Gewalt geschehen ist, in der sie durch die große Entdeckung
Freuds aufgelöst ist zum bloßen Schnittpunkt einander widerstreitender Mächte.
Die krasse Wirklichkeit einer allbeherrschenden Sachwelt von oben und die
zerfließende Unwirklichkeit der heraufdrängenden Traumwelt von unter haben in
gleicher Weise an diesem seltsamen doppelsinnigen Weltbild teil. Die Dinge
stehen klar, greifbar, unverwechselbar vor uns, und doch hat diese Klarheit
zugleich etwas durchaus Unwirkliches, und keines dieser Dinge scheint einfach
es selbst zu sein. Und gegen den Menschen zu wird alles immer undeutlicher,
unwirklicher und verschwimmender. Wie Freud in seiner grandiosen Darstellung
der Traumarbeit aus dem Gegeneinanderwirken von Trieb und Ich, von Leben und
Tod as Zustandekommen des seltsamen Gewebes von Verdichtungen, Verschiebungen,
Durchkreuzungen und Verwirrungen erklärt, das der Traum ist, und wie wir daraus
zugleich verstehen lernen, daß wir überhaupt nie im Leben voll aus dem Traum
erwachen, nie ganz Ich werden, daß wir nicht mehr sind als Ansätze zum Ich – so
ist Kafkas eigentümlich nüchterne, überklare Sachwelt zugleich Darstellung
eines seltsam verwirrten, gleichsam unfertigen Traumlebens, dessen
halluzinatorische Allzuwirklichkeit nur der Ausdruck seiner hoffnungslosen
Unwirklichkeit ist, in dem nichts Menschliches ganz und eindeutig zur Gestalt
kommt, indem es eine geschlossene menschliche Persönlichkeit nicht gibt.
Im Herzen dieses unheimlichen
und qualvollen Traumgespinstes, das unser Leben ist, steht das Hiobproblem des
Leides und der Schuld. Aber der Zusammenhang zwischen Leid und Schuld ist allen
bisherigen Einsichten, auch denen Freuds gegenüber, gelockert. Ja, er scheint
gelöst; er ist vollkommen unbegreiflich geworden. Damit scheint Gott noch
ferner gerückt als selbst in Freuds atheistischem Bekenntnis – und doch ist Er
es allein, von dem jedes Buch, von dem jede Zeile Kafkas redet, um den es in
allen seinen Gedanken und Gestalten geht. Das Hadern und Rechten mit Gott um
Leid und Schuld tritt bei ihm mit voller Wucht in den Vordergrund. In jedem
seiner Worte führt er den einen, einzigen großen Prozeß mit Gott, der nur
unheimlicher und verwirrter ist dadurch, daß Gott und sein Gesetz nirgends
mehr, weder in der Schöpfung noch über ihr, zu finden, zu erkennen ist. Während
wir überall bisher noch irgendeine Gesetzmäßigkeit des Lebens finden, während
wir aus ihr, gerade auch bei Freud, wenigstens der Form, der Richtung nach,
erfahren, was wir zu tun haben – hier, bei Kafka ist die Gesetzmäßigkeit nicht
mehr zu erkennen; wir wissen nicht mehr, was wir tun sollen. Es bleibt in allem
zuletzt nur die Frage, wie überhaupt etwas getan werden könne.
Zum erstenmal in der
abendländischen Welt ist das Gesetz ganz aus dem Leben herausgetreten. Kafka
hat – nach einem eigenen Wort – zum erstenmal die bisher immer wenigstens zu
ahnende Musik der Welt bis in alle Tiefen hinunter abgebrochen. Er fügt diesem
Bekenntnis das Wort hinzu, das von der ganzen Gewalt des auf ihm liegenden
Zwanges zeugt: „Manchmal hat er in seinem Hochmut mehr Angst um die Welt als um
sich.“ – Diese Angst um die vor seinen Augen versinkende Welt bricht in allen
Erzählungen Kafkas auf. Die Seele hat keine Welt mehr, in der sie sich
zurechtfindet. Alles Kosmisch-Anamnetische, alles Ideenhafte, jeder Sinn, wie
er bisher in allen abendländischen Gestaltungen waltete, ist verschwunden. Es
gibt keine nach Gesetzen geordnete Welt mehr. Das Leben treibt leer in sich
selbst. Nichts ist darum unmöglich; jeder Widersinn ist in dieser Welt
sachlicher Nüchternheit, Geschäftsmäßigkeit – und gerade in ihr, der von allem
menschlichen Sinn verlassenes – zugelassen.
Man könnte sagen, daß Kafkas
unerhörte künstlerische Leistung darin besteht, daß er die Form des Nichts
selbst gefunden hat – das heißt nicht jene „Verteidigung, Verbürgerlichung des
Nichts“, jenen „Hauch von Munterkeit“, den er dem Nichts in seiner Jugend geben
wollte, als er es noch in eine Weltanschauung einzufangen strebte, sondern
wirklich die Form einer Welt, die keine irgendeiner Anschauung zugängliche Welt
mehr ist – die Form des radikalen Nichts selbst. Strindberg, Dostojewski weisen
in diese Richtung; sie haben begonnen, was hier vollendet ist, was so radikal
nur durch einen jüdischen Geist vollendet werden konnte. Die Unterhöhlung
unseres menschlichen Wesens von zahllosen einander widerstreitenden
menschenfremden Mächten zugleich: von der Maschine wie von der Triebwelt, von
der ökonomischen Struktur wie von der Rationalisierung aller Verhältnisse und
Beziehungen bricht in dieser Welt Kafkas offen aus. Die Welt, das Leben selbst
ist radikal ausgehöhlt, vernichtet.
Und doch regelt überall ein
verborgenes übermächtiges Gesetz, regeln strenge, unübertretbare Gebot einer
dem Leben vollkommen transzendenten Macht das Leben. Alle sind sie auf uns
bezogen; und doch verstehen wir sie nicht nur nicht – sondern wir vermögen sie
nicht einmal zu vernehmen; so fern sind sie um, so vollkommen haben wir in der
Nacht und Unwirklichkeit unseres Daseins den Zugang zu ihnen verloren. So
stiften sie in unserem Leben nur Verwirrung; unsere Schuld, unser Leid, unser
ganzes Schicksal laufen sinnlos, unzusammenhängend und vollkommen
unverständlich ab. Und doch ist überall das Gesetz zu spüren, dessen
Übertretung uns die furchtbarsten Strafen bringt, und wir fühlen deutlich, daß
dennoch in alldem ein Sinn wohnt, nur daß wir ihn nicht erfassen können.
Die absolute Transzendenz
Gottes ist in seiner gegenwärtigen Verborgenheit zur absoluten Entfremdung
geworden. Göttliche Gerechtigkeit und menschliche Gerechtigkeit, schon im Buch
Hiob inkommensurabel und unvereinbar, können nun nicht nur nicht mehr
zusammenkommen; sie scheinen sich auch gar nicht mehr aufeinander zu beziehen.
Damit wird alle menschliche Gerechtigkeit nicht nur zu etwas Aussichtslosem und
Vergeblichem, sondern zu etwas gar nicht mehr real Existentem. Freiheit und
Unfreiheit sind gleich sinnlos und vergeblich. Sinn ist da – nur nicht für uns.
Aber eigentlich gibt es doch Sinn nur und ausschließlich für uns. Aber es ist
ganz aussichtslos, ganz unmöglich, zu ihm zu gelangen. So zeigt es die große
und unheimliche Legende „Vor dem Gesetz“, in der ein Mensch seine ganzes Leben
damit verbringt, nach dem Eingang zum Gesetz zu suchen, den der Türhüter ihm
unablässig verwehrt, um zuletzt auf seine Frage, warum nie ein anderer Mensch
diesen Eingang gesucht habe, dem Sterbenden, dessen Gehör er kaum mehr erreicht,
zuzubrüllen: „Hier konnte niemand sonst Einlaß erhalten; denn dieser Eingang
war nur für Dich bestimmt; ich gehe jetzt und schließe ihn.“
Der eisige Schauer, der aus
dieser Legende weht, sagt: die Schuld – und eine Schuld besonderer Art – ist
unentrinnbar mit unserem Leben selbst gesetzt. Es ist die Vernichtigung, die
jeden Eingang zum Wirklichen verhindert. Alles, was da ist, auch der Mensch
selbst, scheint nur da zu sein, um ihn an der Erreichung seines Zieles, ja,
auch aller seiner einzelnen Ziele zu verhindern. Diese Schuld ist gesetzt
damit, daß Gott sich von uns zurückgezogen hat und daß wir in dem Zusammenhang
mit ihm auch den Zusammenhang mit uns selbst und mit der Welt verloren haben,
daß wir nicht mehr wissen, was wir tun sollen.
Wenn über die Welt der Arbeit
am laufenden Bande, dieser völlig von Sinn und Seele entleerten, rein dem
kahlen Netzwerk dienenden Arbeit, plötzlich das Gesetz Gottes hereinbräche –
wenn in ihr die lebendige Schöpfung selbst ihr Recht forderte: so sähe die Welt
so aus, wie Kafka sie zeichnet. Dann würde die entsetzliche Umkehrung alles
Menschlichen gegen sich selbst, die in ihr geschehen ist, offenbar – dann
erscheint eine solche Erzählung wie Kafkas grausige „Strafkolonie“, in der für
die Aufrechterhaltung eines äußerst sinnreichen und um so fürchterlicher
grausamen Mordapparates ein Mensch seine Ehre, sein Leben einsetzt und
schließlich selbst durch das entsetzliche Ding in einer Art von stumpfem,
eisernem Heroismus sich töten läßt.
Gräßlicher kann sich der
Widersinn, die Verworrenheit und Verkehrtheit unseres Lebens nicht äußern. Es
mag damit eine finstere Satire auf den Krieg, auf die heutige Art des Krieges
gegeben sein, wie in der Erzählung „Schakale und Araber“ eine Satire auf die
Revolution. Das spezifisch Unheimliche der Kunst Kafkas ruht jedenfalls hier,
wie auch sonst vielfach, darin, daß in einer unerhört sachlichen,
leidenschaftslosen, persönlich scheinbar völlig unbeteiligten Art mit
erschreckender Präzision und Konkretheit Dinge erzählt werden, wie sie nur in
unserem heutigen Leben ihren Ort haben können, und daß sie doch zugleich in
jedem Wort den ganzen Widersinn dieses Lebens spukhaft und grauenhaft
offenbaren. Oder es ruht umgekehrt darin, daß sich mitten in unserem
alltäglichen Leben vollkommen wahnsinnige Dinge mit einer solchen
Selbstverständlichkeit ereignen, daß kein Mensch darüber wahnsinnig wird. So
wenn in der Novelle „Verwandlung“ der bescheidene junge Angestellte eines
Morgens als ein – bis in alle Einzelheiten, bis in das mit seinen Formen selbst
gegebene Lebensgefühl hinein geschilderter, gleichsam zu seiner eigensten
Wirklichkeit erweckter – riesiger Mistkäfer erwacht, sich selbst und seiner
Umgebung zum Entsetzen. Aber alle, auch er selbst, gewöhnen sich allmählich an
dies Ereignis. Immer erwarten wir noch, das dieser ganze gräßliche Spuk sich
als Traum oder als Wahnvision enthüllen wird; aber nein: das Schicksal des
Unglücklichen wird bis zu seinem Tode grausam schlicht und folgerichtig zu Ende
erzählt. Und als es zu Ende erzählt ist, da sehen wir, daß in all diesem Unsinn
und Wirrsal es sich um ein schlichtes, einfaches Menschenschicksal handelt, wie
es sich alle Tage vor unseren Augen abspielt oder abspielen kann. Mitten in der
Alltäglichkeit ist ein Stück Leben, tatsächlichen heutigen Lebens aufgerissen
unter jeden bisher erblickten Abgrund hinab. Es ist unser versachlichtes,
entwirklichtes heutiges Leben mit seinem bescheidenen Minimum an menschlichem
Empfinden, mit seiner ungeheuren Tiefe an realem, aber von den heutigen
Menschen gar nicht mehr realisiertem Leid. Darum ist es ganz ohne Pathos.
Selbst die Frage nach dem Warum erstirbt auf den Lippen von Kreaturen, die ihr
stumpfes, unsinniges Leid unter das Menschliche hinabgezerrt hat.
Dies Leid ist es, das Kafka zu
realisieren gezwungen ist. Aus der Realisierung dieses unsinnigen, nur von ihm
so klar erblickten Leides entspringt sein unablässiger Hader mit Gott. Kafka
fragt nicht für sich persönlich wie Hiob, sondern für seine Welt. Und doch
fragt er nicht allgemeiner, nicht unpersönlicher als Hiob. Denn er persönlich
ist geschlagen mit dem ganzen Leid seiner Zeit. Sein Ich selbst hat die nackte
Wahrheit dieser Weltstunde, ihren ganzen Abgrund ausgemessen. Alles Leid ist
hier ganz persönlich erlittenes. Und immer da bricht es am gewaltigsten auf, wo
ein stumpfer Blick nichts von Leiden sieht, wo eine Art gleichgültiger,
häuslicher Zufriedenheit, beruflicher Befriedigung, äußere Erfolge, wo sogar
etwas Ähnliches wie ein ganz klein bißchen Glück ist. So sieht Kafka die ganze
unerhörte Fülle des Leidens im Leben eines erfolgreichen und später vergessenen
Hungerkünstlers; in dem kindlichen Wunsch eines Trapezkünstlers, dem sein
Trapez das ganze Leben ist, nach einem neuen Trapez, das nicht sofort zu
bekommen seine ganze bisherige Lebenskonstruktion umwirft; in den glänzenden
Erfolgen einer kleinen Zirkusdame, die er mit einer Tiefe der Wahrheit und des
Leidens erfaßt, wie sie sonst nur an die größten Gestalten und Dinge gewendet
wurde – in den kleinen alltäglichen Berufen: überall dort, wo die Seele vergeblich
gesucht wird, wo das Leben leer geworden ist bis zum Grund.
Denn überall da – gerade da:
auf dem Grunde der Leere, die die Wahrheit unserer Weltstunde ist, erkennen wir
bei Kafka die Hand einer verborgenen Macht, die unser Leben unentrinnbar einfordert.
So ist in dem großen Roman „Der Prozeß“ einem schlichten, pflichtgetreuen
Bankbeamten von einer Instanz, die er nicht kennt, um seiner Schuld willen der
Prozeß gemacht. Er wird eines Tages von zwei fremden, sehr gewöhnlichen,
alltäglichen und doch durchaus unheimlichen Gesellen in seiner eigenen Wohnung
festgenommen, und die Untersuchung beginnt. Er kennt sein Verbrechen nicht, er
kennt auch seinen Richter nicht. Er weiß sich schuldlos. Er lebt sein
alltägliches Leben weiter. Aber er ist aufgejagt. Er beginnt über seine Schuld
zu grübeln. Er versteht sie nicht und weiß nicht, was man von ihm will. Er
findet in seinem Leben nichts, was ihn schuldig sprechen könnte. Aber nach und
nach beginnen die fortgesetzten unheimlichen Untersuchungen, die über ihn
verhängt werden und denen er sich zwangshaft stellt, die Formen seines Lebens
zu zersetzen. Nichts bleibt beim alten; er ist gestört und verstört. Sein
Berufsleben, seine menschlichen Beziehungen zerfallen mit seinem inneren Leben.
Sein ganzes Leben nimmt die Gestalt eines wahnsinnigen Angsttraumes an. Und wir
beginnen dunkel zu ahnen: Vielleicht ist gerade dies unsere Schuld, daß wir
nicht schuldig wurden. Wer weiß das? Vielleicht ist das die größte, die
eigentliche Lebensschuld für uns heutige Menschen, daß wir die mit unserem
Dasein selbst unter der vollkommenen Verborgenheit Gottes gesetzte Schuld nicht
auf uns nahmen, daß wir von Gott getrennt schuldlos und damit irgendwie
gesichert und geborgen leben wollten. Die allgemeine Schuld, die schon in Hiobs
Schuldlosigkeit getroffen wird, sie aber nicht auflöst, hat hier die
persönliche Schuldlosigkeit zerstört und in ihr genaues Gegenteil: die
schwerste Lebensschuld, verkehrt. Dies erst ist das vollendete Grauen.
Das Leben des Gerichteten geht
in Trümmer. Überall greift eine Gerechtigkeit ein, die er nicht kennt und nicht
versteht, ja die im Grunde gar nichts mit ihm zu tun hat, die nur ihre
niedrigsten Boten zu ihm schickt. Diese Boten eines Unverständlichen spielen in
allen Erzählungen Kafkas eine große Rolle. Sie sind ebenso unverständlich wie
die Macht, die sie gesandt hat: alltägliche, ja gemeine und jeder persönlichen
Gerechtigkeit, oft jedes Anstandes bare Gestalten, die sich ganz den
Erscheinungsformen unserer eigenen Welt anpassen. Aber sie vertreten jene Macht
und sind darum selbst mit übernatürlicher Macht ausgerüstet. Erschütternd
blitzt plötzlich in einem von ihnen Schönheit auf; aber wir erkennen sofort:
diese Schönheit war nur Schein; nichts, das in unserer Welt auftritt, kann in
Wirklichkeit schön sein, kann teilhaben an der echten Schönheit. Alles ist der
Entwertung, der Verschüttung und Vernichtigung dieser Stunden ausgeliefert.
In dieser Einsicht beruht auch
Kafkas herber Verzicht auf Schönheit in der eigenen Gestaltung. Ein Geist,
begabt mit einer Gestaltungskraft, mit einem Auge für die Schönheit der Dinge
wie nur der ganz große Dichter, versagt sich jede Schönheit, tritt mit seiner
Gestaltungskraft hinter seiner Leidenschaft zur Wahrheit völlig zurück. Die
Schönheit hat in dieser Weltstunde keine Wahrheit; so verzichtet er auf Gestalt
und Schöne. Nur zuweilen sehen wir in einem Satz wie er der fast unfaßlichen
Schilderung einer Theaterloge am Schluß von „Amerika“, wie in der der Schakale,
deren Heulen nach Freiheit ihm in weiter Ferne eine Melodie zu sein scheint,
die ganze verhüllte und verhehlte Schönheit aufleuchten, für die sein Geist
geschaffen war und deren verborgene Dynamik wir unter seiner knappen, sich auf
das Notwendigste streng beschränkenden Sprache immer brausen fühlen. Aber all
statische, alle offenbare Schönheit ist verbannt. Es gibt keine Gestalt mehr in
dieser Welt. Es gibt keine Landschaften und es gibt keine Blumen mehr in ihr,
wie es keine Ideen, keine Formen, keine allgemeine Anschauung von der Welt mehr
gibt. Das letzte Band zu einer gemeinsamen, nach Ideen geordneten Welt: die
Erinnerung, ist zerrissen – es gibt keine Evidenz mehr; d. h. das Aufleuchten
der Dinge ist kein Beweis mehr für ihr Sein in der Wahrheit; es gibt nur noch
Präsenz: unabweisbare, übermächtig sich aufdrängende Präsenz.
Und der reinen Präsenz
entsprechend gibt es in dieser Welt keinen formhaft abgegrenzten Individuen
mehr – es gibt nur noch ineinander verfließende Existenz. Das bedeutet aber
zugleich, daß die Einsamkeit der Menschen vollkommen hoffnungslos geworden ist,
weil sie einander nicht mehr erfassen, nicht mehr in der Anschauung ergreifen,
einander nicht mehr erkennen können.
Aber gerade weil es keine
gemeinsame menschliche Welt mehr gibt,
weil die Einsamkeit so hoffungslos geworden ist, darum leben hier alle Menschen
in einer unablässigen Auseinandersetzung miteinander. Weil sie sich nicht mehr
finden, nicht mehr erkennen, einander gar nicht mehr verstehen können – gerade
darum sind sie gezwungen, dies Verstehen unablässig zu suchen. Darum reden sie
immerfort miteinander, absatzlos, unausgesetzt und reden immer aneinander
vorüber.
Auch schon in ihrer äußeren
Erscheinung sich die Gestalten Kafkas nichts formhaft Abgegrenztes, nichts klar
Anschaubares, Erkennbares, Wertbares mehr. Sie sind durchaus rätselhaft –
undurchdringliches Geheimnis, jeder Mensch für jeden Menschen. Auch in ihrem
Äußeren wenden sie uns nicht ihre Gestalt, einzig ihre Existenz zu. Die knappen
Umrisse, in denen sie in das Dichters Zeichnung wie aus einem verworrenen
Lehensnebel herauftauchend plötzlich vor uns stehen, sind überwältigend
bestimmt und traumhaft undeutlich zugleich – sind genau die, mit denen
Gestalten der Träume vor uns auftauchen. Wir könnten ihr Äußeres nicht
nachbilden, wir können von ihrem Inneren keine bestimmte Vorstellung fassen;
aber wir wissen genau, weit genauer als von den auf uns zutretenden
Erscheinungen des Tages, wer sie sind. wir wissen es sofort und unmittelbar –
im selben Augenblick, wo sie uns ihr Traumgesicht zuwenden. Nicht wie bei den
Erscheinungen des wachen Lebens müssen wir an der Hand von Worten, Blicken,
Bewegungen uns ihr Inneres aus ihrem Äußeren erst erschließen. Ihr Inneres ist
nichts anderes als ihr weislich, gleich den Gestalten des Traumes, auch wenn
wir uns von ihnen abwenden, da – sind präsent, aufdringlich gegenwärtig – sind
von aller Vergangenheit und Zukunft gelöst gleichsam reines Jetzt.
Es gibt darum auch keine
allmählichen Annäherungen zwischen den Menschen – alles ist sofort, im ersten
Augenblick entschieden. Die Schicksale sind da mit den Menschen. Und darum sind
es nicht eigentlich Schicksale: der Tragik oder Komik fähige
Lebensentwicklungen mit bestimmten, klar umrissenen Inhalten – sondern sie sind
alle nur unter das eine übermächtige Gericht gestellte, von ihm willenlos
geführte und durcheinandergeschüttelte Existenzen. Die Menschen sind nicht
aufeinander bezogen, sondern auf das Gericht. Ohne die Beziehung auf das
Gericht wäre in dieser Welt überhaupt gar nichts zu erkennen.
Das zeigt sich am
erschütterndsten in dem Roman „Das Schloß“. Der Landvermesser kommt als der
Fremde von außerhalb in das Dorf. Er fragt die Menschen, die im Dorf leben,
nach all ihren unverständlichen und seltsam miteinander verwobenen Schicksalen.
Vor allem aber und immer fragt er nach dem Weg zum Schloß. Denn von ihm aus hat
er seine Anstellung empfangen. Aber gerade diesen kann ihm niemand zeigen; es
ist vollkommen unmöglich für ihn, hinzugelangen. Ein ganzer Stab von Dienern,
Zwischeninstanzen und Kanzleien, in denen die ganze Weltläufigkeit, Wichtigkeit
und alles Menschliche versperrende Elendigkeit der Bürokratie dargestellt ist:
das getreue Abbild unseres heutigen, von jeder Unmittelbarkeit des Lebens
abgeschnürten Daseins – liegt dazwischen und verbaut ihm den Weg. Seine eigene
Anstellung ist fragwürdig. Niemand weiß, ob er hierher gehört – auch er selbst
nicht. Er war hierher gerufen. Aber nun weiß niemand davon, und niemand hat
Arbeit für ihn. Er klammert sich an jeden, auch den niedrigsten und
entferntesten Angestellten des Schlosses; er klammert sich vor allem an die
Frauen; denn die Frauen haben alle Beziehungen zum Schloß. Aber gerade die
Frauen führen ihn auch wieder in die Irre, so daß er durch sie, die ihm den Weg
zum Schloß weisen wollten, immer hoffnungsloser von ihm weggeführt wird.
Es ist immer dasselbe: Wir
verstehen nichts von dem Leben, in dem wir stehen, den Mächten, die uns lenken
und über uns richten, den Schicksalen, in die wir verstrickt werden, den Formen
und Bedingungen des Lebens, die uns angewiesen sind. Wir sind absolut und ganz
im Exil. Keines von den Dingen der Welt spricht unsere Sprache. Der reinste
Wille erreicht den absolut transzendenten und nun völlig aus unserem Leben
gewichenen Gott so wenig wie die absolute Verworfenheit. Ja, das Verworfene
scheint ihm in seiner fraglosen Hingabe an ein Unbekanntes näher, scheint
unmittelbarer auf es bezogen. Die vollkommen fraglose Hingabe erscheint als die
einzige Kraft, die gerade in ihrer vollkommenen Weglosigkeit und weil sie eines
Weges nicht bedarf, aus dem vollkommen ausweglosen Nichts wenigstens für
Augenblicke herausführt. Denn im Grunde können wir überhaupt keinen Schritt
tun, keinen Weg geben, der uns zu den Dingen führt. Alles strebt von uns fort,
zeiht sich vor uns zurück. zeit und Raum haben nicht mehr die konstitutive
Kraft, diese Welt zu gliedern. Die Dinge sind völlig aus der Beziehung zu ihnen
und sie aus der Beziehung zu den Dingen gelöst. Die Zeit, die Dinge und die
Menschen fallen auseinander. Die Zeit zieht sich zusammen, wird etwas für sich
selbst, so daß ein alter Mann am Schluß seines Lebens gar nicht mehr begreift,
wie jemand den Entschluß fassen kann, auch nur ins nächste Dorf zu reiten, wie
man überhaupt in der Zeit irgendetwas unternehmen könne. Denn es gibt hier
keine allgemeine meßbare Zeit mehr, die uns trüge. Jedes Leben hat seine
besondere, nur ihm eigene Zeit, die an keiner allgemeinen Zeit gemessen werden
kann. Und auch der Raum bedeutet für jeden etwas anderes; jeder sieht ihn
verschieden; auch er verbindet die Menschen nicht mehr, er trennt sie nur
voneinander. Und da die verschiedenen Zeiten und Räume nicht mehr
zusammenkommen können, so mischen sie sich überall störend und verhindern uns
als selbständige Gewalten daran, es zu erreichen. Weil es zu keiner gemeinsamen
Zeit, zu keinem gemeinsamen Raum kommen kann, darum kann es auch zu keiner
gemeinsamen menschlichen Gerechtigkeit kommen; daher die radikale Verlassenheit
des Menschen, der Gerechtigkeit sucht, wie sie in dem Roman „Amerika“ zum
Ausdruck kommt. Von den Menschen ist überhaupt nichts mehr für die Menschen zu
erwarten.
Aber so groß hier das Leid und
die Wirrnis durch die Gottentfernung ist – Kafka klagt nicht. Es wird, anders
als bei Hiob, nicht geklagt in seinen Werken. Die unerhörtesten Leiden, die
schauerlichsten Schicksale werden erzählt, aber nirgends ertönt eine Klage.
Dazu ist alles zu unentrinnbar, zu unabänderlich, und Gott würde die Lage gar
nicht hören. Selbst bei der gräßlichen Hinrichtung am Schluß des Prozesses
ertönt keine Klage. So muß es sein. Der Gerichtete weiß nicht warum, aber er
ergibt sich der Notwendigkeit. Er weiß, daß sein Prozeß nicht bis zum Richter
vordringen kann.
Der Prozeß Gottes mit dem
Menschen und des Menschen mit Gott ist verschärft um das Ausfallen seiner
Schöpfung, soweit sie Natur, nach Gesetzen geordnete Welt ist. Die Musik der
Welt ist bis in alle Tiefen hinunter abgebrochen. Alle Form fällt wie ein
glänzendes und verhüllendes Kleid von dem düsteren Grau in Grau dieses Lebens,
über dem die Sonne der Transzendenz nicht leuchtet, in dem der Strom der
Immanenz nicht fließt, dessen Verbindung mit dem Ewigen zerrissen ist, ab. Dies
ist wirklich die von Gott allein gelassene Welt.
Und doch – das ist das große
Mysterium: obwohl er sei verlassen hat, ist alles in ihr seine Offenbarung.
Nichts kann, darf darum in dieser Welt des Nichts negiert, abgewiesen werden.
Alles und jedes muß jenseits der Frage nach seinem Wert um seiner bloßen
Gegenwärtigkeit willen bejaht, angenommen werden. Denn obwohl alles für das
Verstehen so unüberbrückbar getrennt ist, gehört doch im Lebensgrunde alles
unabtrennbar zueinander. Nichts ist hier vom anderen zu lösen, und wir wissen
niemals, welches Glied der unendlichen Kette wir berühren. Alles steht in einem
unenträtselbaren und darum um so unheimlicheren Zusammenhang: das Geringste mit
dem Größten, das Entlegenste mit dem Nächsten. Ja, im Grunde ist alles Leben
miteinander identisch.
Und doch wir alles zugleich mit
unendlichen Vorbehalten aufgenommen, weil nichts das Eigentliche ist, weil
alles dem Zufall preisgegeben, alles nicht eigentlich es selbst ist. Alles in
dieser Welt ist ja fragwürdig, ist verwirrt und verzerrt. Und doch peitscht
alles in ihr uns auch wieder dem Ziel entgegen, ist alles Verhinderung und Weg
zugleich. Wie Kafkas alter Landarzt fahren wir mit irdischem Wagen, unirdischen
Pferden verwirrt und gejagt durch die sinnberaubte Nacht. Aber nur die
Sinnlosigkeit, die Verwirrtheit und Fragwürdigkeit unserer nächtigen Welt
selbst ist es, die uns in jedem Augenblick das hinter ihr verborgene,
unauffindbare Gesetz spüren läßt, das all dies richtet, und durch dessen
Gericht es überhaupt erst so verwirrt und verzerrt und fragwürdig wird. Darin
liegt das so seltsam, so tief religiös Erschütternde der gottfernen Welt
Kafkas: sie ist nicht von der Welt, vom Leben aus gesehen, sie ist von Gott,
vom Gesetz aus gesehen, an ihm gemessen und von ihm aus gerichtet. –
In einem späten Briefe schrieb
der todkranke Dichter einem Freunde: „Freude kann ich von Arbeiten wie
„Landarzt“ noch haben – vorausgesetzt, das sie gelingen – Glück aber nur, wenn
ich die Welt ins Reine, Wahre, Unveränderliche haben kann.“ – Dies als ist der
große, klare Traum, der leuchtend auf dem Grunde seiner dunklen, verworrenen
Welt liegt. Die Darstellung seiner gottverlassenen, ins Nichts gesunkenen Welt
in ihrer ganzen qualvollen und düsteren Wahrheit ist in ihrem Grunde nichts
anderes als die Darstellung seiner messianischen Sehnsucht.
Und überall leuchtet der große
Urtraum seines Lebens als unausgesprochenes Geheimnis durch all die
labyrinthischen Verschlingungen seiner Werke, durch diese an ihrer Verwirrung
fast erstickende Welt hindurch. Immer fühlen wir, daß in ihr nicht die Maße des
Menschen, sondern die Maße Gottes gesucht werden und daß nur an ihnen gemessen
unsere Welt ihre ganze hoffnungslose Verwirrung enthüllt. Die Dunkelheit und
Verwirrung selbst, in der das Irdische gesehen wird, zeigt so die Reinheit des
Blicks und die Höhe der Maße an. Um seiner messianischen Sehnsucht willen hat
Kafka seine eigene Wahrheit des Gottes entgegengestellt; um seiner Gerechtigkeit:
um der Reinheit, Wahrheit und Unveränderlichkeit der Welt willen hat er, der
große Rechtssucher in einer unrein und unwahr gewordenen, verzerrten Welt mit
ihm den Prozeß begonnen. Auch er hat diesen Prozeß nicht zu Ende geführt – aber
auch er ist nicht unerhört geblieben.
Die Erfüllung seines
messianischen Traumes: die Welt ins Reine, Wahre, Unveränderliche zu heben, war
Kafka versagt, wie sie jedem geschichtlichen Menschen versagt ist, wie es auch
Hiob versagt war, seine eigene Gerechtigkeit mit der Gottes zu versöhnen. Aber
auch hier – auch in dieser späten Welt wieder – geschieht statt dessen das
Wunder. Auch hier ist es statt aller Antwort die auf tausend Wegen von uns
abgedrängte Schöpfung selbst, die in ihrer zerschmetternden, erlösenden Kraft
vorüberzieht und dennoch dem Leid zur Antwort wird. Aber sie erscheint in
anderer Gestalt. Wo die Welt versunken ist, wo ihre Gesetze entwichen sind, wo
ihre Musik abgebrochen ist bis zum Grund und die Bahnen der Sterne uns keine
Antwort mehr geben – da offenbart Gott sich und sein Werk seinem Knecht nicht
in Donner und Blitz, nicht in den überschwenglichen Wundern der Natur; aber er
tut es in einer nicht minder überschwenglichen und geheimnisvollen Gestalt: in
der Geschichte. Und auch hier tritt an die Stelle der Antwort auf die Frage
nach seiner Gerechtigkeit die Gegenfrage Gottes an den Menschen. Wie mit dem
Vorüberziehen der Schöpfung als Natur an Hiob die Frage gestellt ist: Wo stehst
du? Wo findest du dich hier wieder? Wo ist hier dein Ort? – und wie Hiob,
seinen Ort in Gottes Schöpfung erkennend, sich beugt und demütigt und Gott erst
so in der rechten Beziehung zu ihm als sein übergewaltiges Du erkennt – so ist
auch mit der Offenbarung der geschichtlichen Welt an den heutigen Menschen die
Frage gestellt: Wo stehst du? Wo findest du dich hier wieder? Wo ist hier dein
Ort? Und auch hier liegt die Antwort allein in der Demut und Wahrhaftigkeit,
mit der der Mensch seine Stellung im Ganzen erkennt und auf sich nimmt. Indem
Kafka den vollen Abstand seiner Welt von der Reinheit, Wahrheit und Ewigkeit
der göttlichen ausmaß, stellte er sich ein in seinen Ort in der Geschichte.
Indem er das Leid seiner Weltstunde auf sich genommen, sich mit seinem
Wahrheitsverlangen vorbehaltlos in sie eingesetzt hat, hat er wie Hiob Gott die
Antwort auf die Frage gegeben, die er selbst an Gott gerichtet hatte.
Franz Kafka hat die
Auseinandersetzung der Wahrheit seiner Zeit mit der ewigen Wahrheit des
Judentums geleistet. Und wenn dies: die Auseinandersetzung der zeitlichen,
geschichtlichen Wahrheit, in die das Judentum seit seiner Zerstreuung gestellt
ist, mit der ewigen, in der es verwurzelt ist, Form und Sinn aller großen
jüdischen Leistungen des Abendlandes überhaupt ist, so trägt keine reiner und
tiefer als die Kafkas zugleich die Züge der uralten Auseinandersetzung Hiobs
mit seinem Gott. Hier wie dort ist es die Grundkraft des jüdischen Wesens, von
der sie getragen ist: die allem Leid trotzende und von ihm nicht zu zerstörende
paradoxe Kraft der Hoffnung. Wie Hiob mitten im Brand seines gottverhängten
Leides ausruft: „Aber ich weiß, daß mein Erlöser lebt“ – so sagt Franz Kafka in
seiner ruhigen verhaltenen Sprache: „Es ist keine Widerlegung der Vorahnung
einer endgültigen Befreiung, wenn am nächsten Tag die Gefangenschaft noch
unverändert bleibt oder gar sich verschärft oder selbst wenn ausdrücklich
erklärt wird, daß sie niemals aufhören soll. Alles das kann vielmehr notwendige
Voraussetzung der endgültigen Befreiung sein.“
Und so wird das fest
verrammelte Tor unseres Gefängnisses dennoch um einen schmalen Spalt geöffnet.
Ein Streifen überirdischen Lichts dringt herein. Wir wissen nichts. Aber darum
wissen wir auch nicht, ob nicht diese unsere dunkle von Gott abgetriebene Welt
der Erlösung am nächsten ist.
[i] geb. 1883 in Prag,
gestorben 1924. Seine Werke sind erschienen bei Kurt Wolff (Leipzig) und im
Verlag die Schmiede (Berlin).