Gustav Landauers Briefe[i]
In: Der
Morgen, Heft 2 (Juni 1929)
Wir besitzen von Gustav
Landauer eine große Anzahl von Büchern und Schriften, in denen er sein Leben, seine
Überzeugung und sein reiches, umfassendes Wissen niedergelegt hat. Alle diese
Werke bieten ein klares, einheitliches Bild. Aber erst seine eben erschienenen
Briefe vollenden dies Bild, zeigen uns die Gestalt und das Ereignis Landauer in
seiner ganzen großen und originalen Menschlichkeit. Aber damit zeigen sie uns
noch mehr. Sie geben uns einen geschichtlichen Einblick und Überblick von
schmerzlicher Eindringlichkeit. Genau 10 Jahre sind es, seit Gustav Landauer
den Tod für seine Überzeugung erlitten hat, und schon blicken wird, die wir
inzwischen das schwere und zähe Leben dieses Jahrzehnts weitergesponnen haben,
auf seine Gestalt wie auf eine Erscheinung einer fernen, entschwundenen Welt
zurück. Diese Briefe zweigen uns ein Menschenbild von einer Schönheit, das in
unserem heutigen Dasein keinen Lebensraum mehr hätte, und lehren uns Mitlebende
so den ganzen Abstand jener Zeit von der unseren ausmessen. Wir empfangen hier
also nicht nur das Bild eines seltenen Menschen, sondern wir lernen aus den
zwei Jahrzehnten geschichtlichen Lebens, die wir durch seine Augen sehen,
zugleich das Damals aus dem Jetzt und das Jetzt aus dem Damals begreifen.
Was uns in diesen Briefen
zunächst und immer neu überwältigt, ist in allem Reichtum von Leben und Wissen,
in aller Kraft und Leidenschaft, in aller Phantasie und allem Traum die tiefe,
unerschütterliche Sicherheit, das unantastbare In-sich-selbst-Ruhen dieses
Menschen gegenüber allen auf ihn wirkenden und ihm benachbarten Strömungen,
Meinungen und Gewalten: das in einem letzten Sinne Unproblematische dieses
problembewegten Daseins. Die einsame, ganz für sich stehende Gestalt Landauers
hat einen Umriß von einer ruhevollen Festigkeit, der an den eines großen,
einsam stehenden Baumes erinnert, dem alles um ihn her zu seiner Landschaft
wird. Und der Vergleich mit einem mächtigen Baume drängt sich auch von anderer
Seite her auf; denn dies ist das große Geheimnis von Landauers tiefer
Sicherheit: Er besaß noch die Wurzelung in einer Welt. Sein Dasein wurzelt noch
in einer vollen, lebendigen Kultur, die er inmitten ihres Verfalles mit einer
inbrünstigen Kraft in sich selbst gerettet und bewahrt und zu einem vollen
Leben entfaltet hat. Die Formen wie die Inhalte der Kultur, aus der er sich
nährte, waren ihm heilig; er ergriff sie von der realen Grundlage, auf der sie
ruhten, abgesondert und unverletzt. In bezug auf die Berechtigung der
Kulturwerte für den Aufbau des Lebens – in diesem Punkt, wo alle unsere
schwersten und dunkelsten Probleme aufspringen, gab es für den großen Revolutionär
keine Frage. Sein ganzes revolutionäres Denken und Tun wurzelte gerade in einer
Schicht, die uns heutigen Menschen als Lebensgrund fragwürdig geworden ist; im
Geist. Der Geist war das Erdreich dieses großen Baumes, aus dem er alle Kräfte
für sein Werk und Leben sog, aus dem er seine herrliche, breitschattende Krone
über das Leben zu seinen Füßen entfaltete. Diese tiefe und echte Wurzelung
seines persönlichen Daseins – echt, weil er bei aller Weise seines Umkreises
die Kräfte des Erdreiches, das ihn speiste, durchaus zu den seinen, zu
lebendiger Blüte und Frucht eben dieses Daseins wandelte – gibt ihm jene
leidenschaftliche Unbeirrbarkeit der Existenz und Überzeugung, die aus jedem
seiner Worte spricht. Durch seine unmittelbare und von ihm nie bezweifelte
Stellung zu Geist und Idee sind ihm alle Konflikte und Probleme einer
zerbrechenden Kultur, die sich der europäischen Menschheit seither immer
gewaltsamer aufgedrängt haben, erspart geblieben. Er ist nie durch den
grausamen – in entgegengesetzter Weise gelösten – Konflikt Tolstois und
Nietzsches zwischen Menschentum und Schöpfertum gegangen; Menschentum und
Schöpfertum waren und bleiben in ihm eins. Darum war auch zwischen Eros und
Agape, die bei seinem unendlich problematischeren Vorbild Tolstoi in einem Riß
auseinanderklafften, der bis in die untersten Tiefen der Welt ging, für
Landauer keine Trennung; wie sie in ihm, dem großen Liebenden, eine
ursprüngliche Einheit bildeten, so bleiben sie auch in seinem rein und blühend
gestalteten Leben immer eins.
So bieten, im Gegensatz zu
allen schmerzhaften Zerrungen und Verkrampfungen persönlicher Beziehungen, die
wir aus dem Leben auf überpersönliche Ziele gerichteter moderner Menschen
kennen, diese Briefe eines radikal revolutionären Menschen das erstaunliche und
wunderbare Bild eines im wahrsten Sinne schönen Lebens, das heißt eines Lebens,
dessen allerpersönlichstes Erleben nie, an keinem Punkt mit seinem
überpersönlichen Ziel in Konflikt gerät. Und das nicht darum, weil er die
einzelnen menschlichen Beziehungen eingeschränkt, verkürzt, beschnitten hätte,
sondern im Gegenteil gerade darum, weil er sie alle aus ihrem persönlichsten
Lebenspunkt voll und reich bis ins Überpersönliche hinein entfaltete. Nie hat
eine noch so leidenschaftliche persönliche Beziehung ihn von seinem
überpersönlichen Wege abgelenkt; niemals aber auch hat sein Wille zum
Überpersönlichen eine wirklich lebendige persönliche Beziehung untergraben.
Jedes persönliche Leben, jeder persönliche Wert, der ihm begegnete, trat
vielmehr sofort rein und unmittelbar in den Dienst an der Idee, und die Idee
groß ihren reinen Glanz über jede seiner menschlichen Beziehungen aus. So
entfaltet sich jede von der nächsten und innigsten bis zur fernsten und
flüchtigsten organisch wie eine Blüte an dem reichblühenden Baum dieses Lebens.
Und das Schicksal hat Landauer wunderbar begnadet. Jede Beziehung, jede
Lebensform war ihm rein und reich auszuschöpfen gegeben: Liebe, Ehe,
Freundschaft, Vaterschaft. Welch eine männliche Kraft und Festigkeit in der
fast weiblich zentrierten Liebe und Hingabefähigkeit der wundervollen frühen
Briefe an seine spätere Frau Hedwig Lachmann. Da ist kein Bruch, keine
Problematik, keine Zerrissenheit und Müdigkeit wie die, durch die der moderne
Mann die Gaben der Frau gar nicht mehr anzunehmen vermag. Im Gegenteil: hier
ist der Mann der Gebende, der Schenkende, der Tragende. Aber auch jeder der
Briefe an seine Freunde zeigt die vollkommene innere Hinwendung, die
Bereitschaft, die reine Güte, mit der er alle seine Beziehungen gestaltete. Und
nicht nur durch die prinzipiellen, auch noch durch die schlichtesten Briefe an
seine Kinder strömt die ganze Kraft der Liebe eines wahrhaft leitenden und
bildenden Menschen; ja, als Vater ist Landauer vielleicht am tiefster der, der
er war. Dabei zieht durch alle seine Äußerungen, von den frühesten
Liebesbriefen bis zu den späten müden und verzweifelten Zeilen aus der
Revolution, bis hinein in seinen Opfertod sich eine einzige ungebrochene Linie.
Seine Existenz zeigt innerhalb dieser zwanzig Jahre bei allem, was sie
bedrängte – und er war übergenug –, keinen Bruch, keine radikale Wandlung; von
Anfang bis zu Ende ist er derselbe reife, mündige, zielbewußte und von seinem
Ziel ausschließlich geleitete Mensch, der alles Nächste und Fernste in den
Lichtkreis seines Lebens zieht und es seiner Idee anbildet.
Und sprunglos, rißlos wie sein
Leben war auch sein Weg zur Verwirklichung seiner Idee. Da wo für uns das
brennendste Problem aller Gemeinschaft ist: im Aufeinandertreffen von
individuellem und kollektivem Leben, sah Landauer die reinste Quelle zu ihrer
Verwirklichung. Genau hier entsprang sein Traum von einem neuen Menschentum,
von jener neuen lebendigen erfüllten Gemeinschaft, für die ihm zuletzt das Wert
Sozialismus nur ein ungenügender Name war: im Zentrum der wenigen
schöpferischen und für ihre Zeit verantwortlichen Menschen. Anders konnte für
ihn Gemeinschaft nicht kommen als aus der Selbstentfaltung und Selbstvollendung
Einzelner und aus ihrer Beziehung zueinander. „Nicht durch ein Begründen im
Äußeren, sondern so, daß Einzelne sich nach der Kraft, die ihnen wurde, in sich
vollenden, um dann, nachdem sie in abgründigen Einsamkeiten gewandert und ganz
welteins und selber geworden sind, auf dem Scheitelpunkt der Reife die Freude
neben sich zu sehen.“
Aus solcher Gemeinschaft der
Wenigen sollten die der Vielen erblühen: jenes wahrere, reichere, schönere
Leben, „in dem alle dem Geiste, der Seele, dem Spiel und dem Gotte leben
können“. Nicht also an eine geschichtliche Entwicklung zum Sozialismus glaubte
Landauer, sondern seine Überzeugung war: „Sozialismus ist zu allen Zeiten
möglich, wenn eine genügende Anzahl Menschen ihn will.“
Und wie der Sozialismus, so war
auch die Revolution, die ihn bringen sollte, für Landauer persönliche Tat: quer
durch alle geschichtlichen Bedingungen hindurch Werk freien, unbegrenzten
Menschenwillens. Darum war für die marxistische Theorie mit ihrer strengen
Einordnung und Unterordnung des Einzelnen unter die geschichtliche
Notwendigkeit, mit ihrer Statuierung der relativen Ohnmacht des Einzelnen ein
Hohn auf die Revolution, die ihm allein „aus dem Geist und der Wahrheit“ kommen
konnte. Mitten im Brausen der Revolution, als schon der marxistische Gedanke
mit seinem Gefolge der Gewaltpolitik mächtig auflohte, hielt er an seinem sein menschlichen
und nur mit den reinsten Mitteln zu verwirklichenden Ziel als Einziger fest. In
diesem Sinne hat er sein Leben eingesetzt in das Geschehen seiner Zeit. Er
erscheint uns heute als eine Notwendigkeit, daß seine Revolution scheitern
mußte. Denn Landauers Tat war wie die jedes echten Revolutionärs ein großes
Trotzdem. Revolution ist immer Wagnis, Einsatz des eigenen Daseins in das
Ungewisse. Revolutionen scheitern darum immer, denn die Wirklichkeit sieht
immer anders aus als die Idee. Aber das beweist nicht, daß sie vergeblich sind.
Es gibt keinen Propheten, keinen Künder, keinen Täter aus der Idee, der nicht
in irgendeiner Form an der Wirklichkeit gescheitert wäre – aber es gibt auch
keinen, der nicht die Wirklichkeit um ein Stück weiter gebracht hätte.
Vielleicht lag in dem Wort Landauers „Nichts, nichts in der Welt hat so
unwiderstehliches Gewalt der Eroberung wie das Gute“, politisch gesehen, sein
großer Irrtum; aber menschlich gesehen, lag darin seine tiefste Wahrheit. Und
wenn wir auf diese Briefe sehen, so scheint uns die menschliche Wahrheit die
wahrere.
Und nichts wäre falscher, als
Landauer um dieser Überzeugung willen einen wirklichkeitsfremden Träumer und
Optimisten zu nennen. Kein Mensch seiner Zeit hat die Wirklichkeit so klar und
so düster gesehen wie er. Er, und er ganz allein, erkannte sich zwischen Seylla
und Charybdis; auf der einen Seite sah er, wie er sie von je gesehen hatte, die
vollkommenen unhaltbaren und nun offenbar gewordenen Zustände des gegenwärtigen
Systems; auf der anderen Seite sah er, was kommen mußte, wenn die Welt sich dem
großen russischen Experiment ergab. Er fürchtete beides gleich sehr; er bejahte
und wollte mit der ganzen Kraft seines Wesens ein Drittes: eben jene Revolution
aus dem Geist und der Wahrheit, aus dem Wissen um ein reineres und besseres
Leben, von der er wußte, daß ihre Verwirklichung auf Messers Schneide stand. Er
hat nicht aus dem Glauben, sondern aus der Verzweiflung heraus gehandelt; aber
diese Verzweiflung war – ewiges Wunder jedes großen jüdischen Menschen –
zugleich eine unerschütterbare Hoffnung.
Es war die Hoffnung auf die
Kraft der Idee, die in ihm lebte. Und wenn er so aus einer mächtigen lebendigen
Seele heraus die eiserne Macht der historischen Notwendigkeiten verkannte oder
sich über sie hinwegzusetzen strebte, so glaubte er vielleicht nicht so sehr an
die Möglichkeit einer Realisierung seiner Idee, wie er sie sich unmittelbar
auferlegt fühlte.
Das ganze erschütternde Drama
der Münchener Revolution spielt sich in diesen Briefen noch einmal vor uns ab;
Landauers Einspringen nach Eisners Tod und sein Zurücktreten, als die
Räterepublik sich für die bolschewistischen Methoden entschied, sein Abrücken
von jeder Gewalt. Wir sehen in den knappen Zeilen seiner letzten Tage Landauers
geistiges Antlitz wieder wie damals sein wirkliches immer mehr die Züge des
Heiligen annehmen. Eine der Anmerkungen ruft uns in die Erinnerung zurück, wie
er den heranziehenden weißen Garden als Zeichen friedlicher Gesinnung einen Zug
von Frauen und Kindern entgegenschicken wollte – er, der wenige Tage später von
denselben rohen Gewaltmenschen erschlagen wurde.
Das Leben ist über die Tragik
hinaus; es steht im Zeichen der Religion. Die schwerste Frage der Bergpredigt
brennt auf und alle Fragen nach dem Weg des Absoluten und des Reinen in unserer
dunklen und verworrenen Welt.
[i] Gustav Landauer. Sein Lebensbild in Briefen. Unter Mitwirkung von Ina Britschgi-Schimmer herausgegeben von Martin Buber. Rütten & Löning, Frankfurt a. M.