In: Masken
18, 1919
Wer war Gustav Landauer? Wie sehr auch unter dem Eindruck der damaligen Ereignisse der Streit der Meinungen um ihn tobte – heute kennt ihn keiner mehr, aber in der Geschichte wird sein Bild nicht schwanken. Er selbst hat eine klare Zeichnung in seinen Schriften davon hinterlassen, die unverwischbar ist. Wer die wirkliche Erscheinung dieses Mannes kennenzulernen begehrt, wer danach strebt, den heute unvorstellbaren Wirrwarr von Lüge und Verleumdung, in den er eingesponnen wurde, zu durchdringen und die Wahrheit über ihn zu erfahren, der braucht nur Landauers Lebenswerk zur Hand zu nehmen. Dann aber wird ihm zugleich weit mehr werden als die Wahrheit über den Menschen: er wird mit tiefer Ehrfurcht in diesen Schriften den Atem einer Wahrheit wehen fühlen, die wir in Deutschland seit langen Zeiten nicht mehr gekannt haben: einer Wahrheit, die eine Vermählung der absoluten subjektiven Wahrhaftigkeit mit der in den klarsten Umrissen geschauten objektiven Wahrheit der Tatsachen selbst ist. Von Landauers Person aus gesehen, bedeutet diese Wahrheit die Vereinigung des reinsten, strahlendsten Idealismus mit dem schärfsten und unbestechlichsten Blick für die Realität.
Es mag vielleicht hier manchem
sich die Frage aufdrängen, wie ein reiner Idealist, der zugleich den Blick für
die realen Tatsachen besessen hatte, sich in ein, jedem Realpolitiker
wurzellos erscheinendes Abenteuer hatte einlassen können. Für Menschen, die
ihn noch selbst und seine Schriften kannten, gibt es darauf nur eine Antwort:
Er war ein leidenschaftlicher Politiker.
Wie er auch gehandelt und unter
welchen Bedingungen er damals gewirkt haben mag; wir wissen, er kann nie anders
als in Reinheit und Treue gegen sich selbst und seine Idee gehandelt und nie
unter ihn und seine Sache entwürdigenden Bedingungen gewirkt haben. Und wie er
auch war: er muß ein klares Ziel vor sich gehabt haben, und wäre es kein
anderes gewesen als die Bekämpfung der Gewalt durch sein mildes Wort.
Wenn man gegen Landauer als
revolutionären Führer geltend machen konnte, er habe die Wirklichkeit nicht zu
meistern vermocht, daß sie gegen ihn. aufgestanden ist und ihn verschlungen
hat, bevor seine Idee realisiert worden war, so ist damit nur das Schicksal
aller reinen Revolutionäre ohne Ausnahme bezeichnet. Denn wer sich, um das
Bessere zu wirken, in ein schlechtes, verdorbenes Leben begibt, der wird in
seiner grenzenlosen Vereinzelung mit Notwendigkeit von den gewaltigen Wogen
einer zum Guten unfähigen Masse verschlungen werden. Ist das Schicksal
irgendeines großen Revolutionärs, sei er geistiger oder politischer
Revolutionär gewesen, bis empor zu Christus, je ein anderes gewesen? Es war
Goethe, der gewiß als unverdächtiger Zeuge gelten wird, da er sein wahres Herz
lebenslang verschloß und die hoffnungslose Niedrigkeit der Menschen allzu klar
durchschaute, um sie bessern zu wollen, der das Wort gesprochen hat: »die
töricht genug ihr volles Herz nicht wahrten, dem Pöbel ihr Gefühl, ihr Schauen
offenbarten, hat man von je gekreuzigt und verbrannt«. – Aber wer dies notwendige
Scheitern der reinen Idee und der reinen Person im verdorbenen Leben als ein
Versagen der Idee betrachtet, der zeigt, daß er die wahre Wirkung des Geistes
nie begriffen hat. Bedeutete die Kreuzigung Christi, die wahrhaftig auch die
Kreuzigung und das Scheitern seiner Idee in jenem Augenblick bedeutete, da nur
zwölf Männer und einige Frauen aus allem Volk übrigbleiben, die ihr anhingen,
wirklich den Tod jener Idee? Es ist noch kein wahrhafter Geist gekreuzigt
worden, der nicht auferstanden wäre. – Und wenn das, was Landauer gelehrt und
gelebt hat, lebendig und wahr gewesen ist, dann konnte es nicht mit seinem
Körper getötet werden.
Was Gustav Landauer im Grunde
wollte, war nichts anderes, als den Menschen die Augen zu öffnen für ihre
eigene Sehnsucht, für das, was sie alle im Grunde ihres Herzens suchen und
wollen. Wie er in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg alles aufbot, um die
Menschen sehend zu machen für das, was sie bedrohte, so hat er danach nicht
geruht und gerastet, um den Menschen zu zeigen, wie sie allein aus dem
furchtbaren, selbst geschaffenen Elend hinausfinden könnten, sobald sie sich
auf sich selbst und ihre wahreren, reineren Lebensmöglichkeiten besinnen würden.
In der Vorrede zur Neuauflage
(1919) seines Aufrufs zum Sozialismus schrieb
Gustav Landauer: »Mit einer wahrhaft grenzenlosen Bitterkeit spreche ich es
aus: es zeigt sich, daß ich in allem Wesentlichen recht hatte mit dem, was ich
vor langer Zeit in diesem ›Aufruf‹ und in den Aufsätzen meines ›Sozialist‹ gesagt
habe.« Mit wieviel grenzenloser Bitterkeit noch mag er gesehen haben, daß
alles, was er vorausgesehen, sich bewahrheitet hatte. Er, der zu einer Zeit,
da wir alle noch wirr und tastend um Wahrheit rangen und uns mit den
furchtbaren Geschehnissen verstört auseinanderzusetzen strebten, hatte bereits
das erkannt, was später offen und unumstößlich vor aller Augen lag, der nichts
zurückzunehmen brauchte, vor dem offen und klar die Dinge dalagen, die für uns
andere in die dichten Nebel und Netze überkommener Ideologien und übernommener
Lebensgewohnheiten eingesponnen waren und uns erst allmählich in übermächtigem
Ringen klar zum Bewußtsein kamen – er, der so sonnenklar Gerechtfertigte, mußte
dastehen und die Rechtfertigung seines Standpunktes immer ganz von vorn
beginnen und den Menschen überhaupt erst ins Bewußtsein zu bringen suchen, was
mit ihnen und durch sie geschehen war. Er versuchte in seiner übermächtigen
Liebe, das Werk, zu dem er sie aufrufen wollte, selbst zu beginnen, obwohl er
sah und wußte, daß die Stunde dazu noch nicht gekommen war. Aber das
menschliche Leben ist zu kurz, zu einmalig; was getan werden muß, muß bald
getan werden – und wann hätte ein wahrer Revolutionär je auf seine Stunde
gewartet? Hätte er es getan, hätte er nicht an einem noch so armseligen Zipfel
die Wirklichkeit selbst in die Hand zu bekommen versucht – wann wäre je die
Welt in irgendeiner Sache um einen Schritt weitergebracht worden?
Revolutionär sein, das heißt
die Menschen lieben bis zum letzten Opfer, sie lieben jenseits vom Glauben oder
Unglauben an sie; denn die Menschen lieben, das heißt sie erlösen wollen.
Revolutionär sein, das heißt: sein lebendiges, glühendes ganzes Selbst
einsetzen in eine niedere, schlechte Wirklichkeit. Gustav Landauer ist seinen
eigenen Tod gestorben, nicht einen sanften, nicht einen allmählichen, nicht
einen passiven Tod, sondern den aktiven, bitteren, jähen, häßlichen Tod des
Revolutionärs, der zugleich der lichtumstrahlte Opfertod ist. »Jetzt geht's in
den Tod, nun muß man den Kopfhochhalten« – das sind die letzten Worte, die uns
von ihm überliefert sind. Sie klingen in den Ohren derer, die ihn geliebt
haben, wie mit seiner eigenen Stimme gesprochen. Sie hatten ihn mit Kolben
geschlagen, dieselben dumpfen, rohen, zugeschlossenen Menschen, denen er sein
ganzes reines, herrliches Leben hingegeben hat. Unaufhörlich hat er mit dem
Hammer seines lebendigen Geistes an die Särge der menschlichen Herzen
geschlagen, an diese festverschlossenen Särge, die
auch mit dem härtesten Hammer nicht zu öffnen sind. Denn die Menschen wollen nicht gut sein, darum haben sie
sich die Hölle auf Erden geschaffen. Immer und ewig gilt Kants großes Wort, daß überall nichts Gutes in der
Welt ist als allein ein reiner guter Wille. Aber dieser Wille fehlte unserer
Zeit. Ein guter Wille wäre diesem Menschen entgegengekommen, hätte ihn gesucht
und geehrt und auf seine Schultern genommen und ihm alles Schwere und
Drückende des Lebens abgenommen, um es für ihn, der das Leben der andern auf
sich genommen hatte, zu tragen.
Statt
dessen
hatte die Presse ihn den Mörderhänden der öffentlichen Meinung überliefert.
Hätte Schiller das Leben und den Tod dieses Menschen gedichtet, so würden die
Zuschauer vor seiner reinen Tragik in Tränen zerfließen – dieselben irregeführten
Menschen, die über dies Leben, dessen hohe Reinheit ihnen nur durch
dichterische Vermittlung hätte zugänglich werden können, achselzuckend oder
fluchend zu Gericht saßen.
Es ist schwer und mehr als das:
es ist trostlos, diesen Haß zu verstehen. Denn Landauer war kein Lenin, der
glaubte zum Heil der Menschheit ein ungeheures Weltgericht vollziehen zu
müssen, kein fanatischer Bolschewik, dessen Weg über die Vernichtung des
Bürgerstandes gegangen wäre. Niemand hat so grundsätzlich und so sachkundig wie Landauer diesen Weg
verworfen und verabscheut. Und nicht einmal das herbe Wort Kerenskijs:
»Revolution, das heißt die Sünden der Vergangenheit büßen und sich für die
Zukunft opfern« hätte er ganz zu dem seinen machen wollen. Für ihn war die
Revolution nicht allein Sühne und Opfer, für ihn war sie – und damit treffen
wir auf eine der tiefsten Wurzeln des Landauerschen
Denkens – allem voraus Glück: das Glück der Befreiung zum Menschentum;
Befreiung vom Druck jahrhundertealter Vergewaltigung, vom Druck eines grauen,
rohen, ungerechten Lebens. Aber freilich, diese Befreiung konnte nur fühlen,
wer vorher den Druck gefühlt, wer unter ihm gelitten hatte. Gustav Landauers
ganze Seele bebte vor Zorn und Leid über das, was die kapitalistische Welt aus
den Menschen, aus den von ihm so sehr geliebten Menschen gemacht hatte. Seine
Seele litt ihr Leid. Sein ganzer Traum war, sie herauszuführen aus ihrem Elend,
einer besseren und würdigeren Welt entgegen. Aber wo blieb der Wille derer,
die er erlösen wollte zu ihrer eigenen Erlösung? Wie viele ahnten auch nur
etwas von dem, was er ihnen bringen wollte? Wie viele ahnten auch nur etwas von
ihrem eigenen Elend? Denn dies Elend der Menschen, an dem Landauer am tiefsten
litt, war nicht ihre materielle Not, obwohl er in ihr die Grundlage aller
anderen Not erkannte. Wer aber nur um Materielles leidet, der ist mit der
möglichen Hoffnung, durch unermüdliche Arbeit oder eine Wendung des Schicksals
es einmal besser haben zu können, zu trösten; aber die Not, für die kein Mensch zu trösten ist, das ist die, sich selbst,
sein Leben und allen Wert und alle Schönheit des Lebens niemals besessen zu
haben. Diese Not, diese absolute Hoffnungslosigkeit, dies Zugeschlossensein
des Lebens durch tausend unnötige Riegel und falsche Verhältnisse, das war es,
worunter Landauer am tiefsten litt, und von diesem selbstgeschaffenen Elend
wollte er die Menschen befreien. Weit auftun wollte er ihr Leben mit dem strahlenden
Schlüssel seiner Liebe, seines Geistes für alle Güter und Werte. In die Kammern
ihrer eigenen Herzen wollte er sie führen, wo das Gold und die edlen Steine so
reichlich liegen und so abgrundtief verschlossen sind. Er selbst besaß die
Wunderlampe und das Zauberwort und den Schlüssel und alle die Symbole, mit denen in den alten Märchen
die reichen Träumerseelen begabt sind. Denn ein
Träumer war er, aber ein Träumer im allerhöchsten und nur so wenigen
verständlichen Sinn dieses Wortes: ein Mensch, der eine Welt zu träumen vermochte,
die nicht platt vor seinen und aller Menschen Augen liegt, aber an deren
Verwirklichung zu arbeiten er da ist.
Und weil er an ihr arbeitete,
darum war er zugleich der allerwachste Wächter. Vom
Turme seiner Weltanschauung aus überblickte er die Wirklichkeit. Darum sah er
Jahre vorher all die furchtbaren Dinge kommen, deren Herannahen wir nicht
ahnten. Denn nicht nur aus einzelnen Geschehnissen folgerte er einzelnes; von
seiner hohen Warte aus sah er immer das Ganze. Aus der falschen und sündhaften
Struktur unseres gesamten Gemeinschaftslebens sah er all das Furchtbare mit
prophetischer Klarheit sich entwickeln. Und immer wieder hatte er zum Kampf
gerufen. Nie hat ein Deutscher eindringlicher und furchtbarer die Schäden und
Sünden des kapitalistischen Systems enthüllt. Bis in all ihre entsetzlichen
Einzelheiten hinab verfolgte er die wahren Zusammenhänge unseres
Gesellschaftslebens: die ungeheure Entrechtung der Mehrzahl aller Menschen
zugunsten einiger Privilegierter, deren Lebensinhalt keineswegs diese
Privilegierung rechtfertigt; die Knebelung und Schändung aller reinen
menschlichen Empfindungen durch Ausbeutung, Maschine, Lohnarbeit: die ganze
entsetzliche Entlebendigung und Entmenschlichung des
Lebens bis hinab zu ihrer grauenhaftesten und folgerichtigsten Konsequenz: dem
Kriege in der Form, in der wir ihn erlebt haben. Und alles dies führte er auf
die eine entsetzliche Tatsache zurück, daß das ganze Leben der Menschen auf der
Gier nach Gewinn, auf dem Profit aufgebaut ist, statt auf Liebe, Freiheit und
Geist.
Aber für diese wahrhaftige
Schilderung unseres Lebens hat ihn auch der bitterste, dumpfste und stumpfste Haß aller derer getroffen, denen es nicht um die
Wahrheit, sondern um ihr Behagen zu tun war. Denn wahrhaftig: für sie war noch
ein Behagen in dieser Welt und nur in dieser Welt zu finden, die Gustav Landauer
bis in ihren pestartig verseuchten Grund hinab vor uns aufdeckte, bei deren Sichleerung das kalte Grausen jeden fühlenden Menschen
überläuft. Aber sie hatte sich viel grauenvoller noch, als selbst er es
vermochte, selbst enthüllt, diese todkranke, vergiftete kapitalistische Welt,
die nicht sterben wollte, obwohl das Leben längst aus ihr gewichen war. Wer
damals Augen hatte zu sehen, dem mußten sie längst aufgegangen sein in jenem ersten
Massenmord, dessen höllisches Feuer die kapitalistischen Interessen der ganzen
Welt entfacht und immer neu mit ihren krampfigen
Griffen geschürt haben, deren letztes Endergebnis, die Friedensbedingungen, die
Schuld der ganzen Welt offenbarte, die bisher noch mit schönen Worten und
gefälschten Ideen, mit Form und Gesetz notdürftig sich verhüllt hatte.
Aber es waren wenig Deutsche,
die wirklich begriffen, wie sehr unsre gesamte damalige Existenz die
Voraussetzung dieses Krieges war – es waren nur wenige, die selbst nach dem
furchtbaren Ende des Ersten Weltkrieges diese Schuld begriffen, und man
streitet sich bekanntlich noch heute darüber. Aber einer stand lange bevor
diese Hölle ausbrach auf und rief wie ein Richter der Feme, nur mit offenem,
unverhüllten Antlitz, sein düsteres »J'accuse, ich
klage, klage an« über die entartete Menschheit hin.
Ihm konnten auch die
sozialdemokratischen Ideen nicht genügen – ihm, dem sein Wissen nie und
nirgends aus der Theorie, sondern immer unmittelbar aus dem lebendigen,
schmerzhaften Erleben der Wirklichkeit selbst erwachsen war. Er war ein
erbitterter Feind aller Theorien, vor allem aber sofern sie sich anmaßten,
selbst praktisch zu sein und zu wirken. Und eine solche Theorie: die Theorie,
die sich geradezu an die Stelle des Lebens und der lebendigen Entwicklung
drängt, galt ihm der Marxismus. Er bekämpfte darum den Marxismus mit der ganzen
Kraft seines lebendigen Geistes als die unfruchtbare Lehre, die aus der als
notwendig gefaßten historischen Entwicklung das lebendige Eingreifen des
menschlichen Willens ausschließt. Er sah im Marxismus im Grunde das genaue
Gegenteil eines revolutionären Sozialismus, einen Sozialismus, der sich rein
dialektisch aus den gegebenen historischen Voraussetzungen entwickelt habe.
Nicht sehende, liebende, strebende Menschen überwinden hier die
Wirtschaftsform des Kapitalismus durch einen wahreren und reineren Gemeinschaftswillen,
sondern der Kapitalismus überwindet durch sein ungeheures Ansteigen sich
selbst, d. h. ein seelenloses Prinzip schlägt in ein seinem Wesen nach ebenso
seelenloses um. Dieser Überhegelianismus, der Tun und Willen des lebendigen
Menschen ausschaltet und nur eine in sich selbst wirkende Gesetzmäßigkeit
anerkennt, war Landauer, dem durch und durch lebendigen, wertenden, ethisch
gerichteten Menschen in der Seele zuwider. Was er Sozialismus nennt, das ist
etwas ganz anderes. Wollte man wagen, seinen Begriff des Sozialismus in einen
kurzen Satz zusammenzufassen, so könnte man sagen: Es ist der aus dem tiefen
Gram eines liebenden Geistes um die heutigen Menschen und ihre
selbstgeschaffene Hölle geborene Wille zu ihrer Rettung, Reinigung und
Befreiung. Reinigen und befreien wollte Landauer die Menschen von all ihren materiellen
und ideellen Vorurteilen und Bindungen, die ihnen den Weg versperren zu ihrem
Heil: zu dem lebendigen Leben ihrer Seele, ihres Geistes, ihres Herzens. Das
Glück wollte er den Menschen bringen; aber dies entweihte Wort, wie Jakob
Burckhardt es einmal nennt, wird in Landauers Munde nicht nur wieder zu einem unentweihten, sondern es wird zu einem heiligen Wort. Für ihn bedeutete das Glück die Beflügelung zum
wahren Leben, das Aufgetansein für alles Große,
Schöne, Göttliche. Und darum verlangte der revolutionäre Dulder, daß gerade die
Revolution Glück bringe.
Aber freilich: wie viele
Menschen in aller Welt können diesen Traum vom Glück nachträumen? Und doch
hätte die Zukunft Deutschlands daran gehangen, daß er von der deutschen Jugend
nachgeträumt werde; daß die jungen Menschen ihre Bestimmung begriffen hätten,
zu verhüten, daß wieder ein Geschlecht heranwachse, das alle Keime zu einem
solchen Glück mit der Wurzel ausreißt und den Geist, der nicht zu töten ist,
für die eigene Zeit hoffnungslos tötet. Sie haben es nicht erfaßt, daß das
ganze Leben hätte anders werden müssen von Grund auf: das äußere wie das
innere. Und was Landauer wollte, um die Menschen zu einem gesünderen, wahreren,
glücklicheren Leben zu erziehen, das war ihre Sammlung in freien ländlichen
Gemeinschaftsgebilden, damit sie miteinander abseits und unabhängig vom
verseuchten Leben der Großstädte und vom durch die Geschichte gerichteten Leben
der Staaten arbeiten und wirken könnten. So sollte allmählich ein neues, aus
sich selbst wachsendes Gemeinschaftsleben entstehen, ein Leben auf reinen,
einfachen Grundlagen in materieller wie in moralischer Hinsicht. Er wollte die
Menschen loslösen vom Fluch des Geldes, nicht indem er sie verarmte, sondern
indem er jedem ein Stückchen Erde und die Möglichkeit sich zu ernähren und für
sich selbst freudig zu arbeiten gönnte.
Es wäre gewiß für die Mehrzahl
der Menschen eine ungeheure innere Umwandlung nötig gewesen, um die Reinheit
und Wahrhaftigkeit und damit die Notwendigkeit eines solchen Lebensplanes auch
nur zu begreifen. Aber eben diese Umwandlung war es, die Landauer wollte. Er
wollte als echter Revolutionär nicht nur die äußeren Formen wandeln, sondern
vor allem und über allem den Geist. Dazu rief er die Menschen auf: den Geist
in sich selbst zu erkennen, durch und durch lebendig zu werden, menschlich,
schöpferisch, wahrhaftig und so das ganze äußere Leben notwendig umgestaltend.
Denn es gibt gar keine bloß innere Umgestaltung:
Wo ein Mensch wahrhaftig anfängt sich umzugestalten, da gestaltet er mit
Notwendigkeit auch das Leben um, weil er sich gar nicht vom Leben isolieren
kann, weil er immer und überall Leben berührt. Und weil es das war, was
Landauer letzten Endes wollte: eine innere Umwandlung der Menschen, die das
ganze Leben um sie her umwandelt, darum mußte für ihn die Marxsche
Theorie, nach der der Kapitalismus durch seine eigene Aufgipfelung
sich selbst überwinden sollte, ein wahrer Hohn auf das Leben sein, weil sie
ein Hohn auf den Geist ist. Dieser für ihn toten Theorie stellte er den
schöpferisch wirkenden Menschengeist entgegen. Was lebendig geschehen soll,
das muß durch den Geist und im Geist geschehen.
In seinen Briefens,
diesen überwältigenden Zeugnissen eines in all seiner Wissensfülle begnadeten
Menschen, hat Landauer uns seiner einsamen, ganz für sich stehenden Gestalt
einen Umriß von schmerzlicher Eindringlichkeit gegeben. Was uns an ihm immer
neu überwältigte, war das unantastbare In-sichselbst-Ruhn dieses Menschen gegenüber allen auf ihn wirkenden und
ihm benachbarten Strömungen, Meinungen und Gewalten: das in einem letzten
Sinne Unproblematische dieses problembewegten Daseins, die Wurzelung
in einer Welt, die gar nicht mehr bestand. Sein Dasein wurzelte in einer
vollen, lebendigen Kultur, die er inmitten ihres Verfalles mit einer inbrünstigen Kraft in sich selbst gerettet und bewahrt
hatte. Die Formen wie die Inhalte der Kultur, aus der er sich nährte, waren
ihm heilig; er ergriff sie von der realen Grundlage, auf der sie ruhten,
abgesondert und unverletzt. In bezug auf die Berechtigung der Kulturwerte für
den Aufbau unsres Lebens, auf die Frage: Kann man eine neue Wirklichkeit auf
den alten Kulturwerten aufbauen?, gab es für den
großen Revolutionär nur die eine Antwort: einzig auf diesen. Durch seine
unmittelbare und von ihm nie bezweifelte Stellung zu den Ideengütern der
Vergangenheit sind ihm alle Konflikte und Probleme einer zerbrechenden Kultur,
die sich der europäischen Menschheit seither immer gewaltsamer aufgedrängt
haben, erspart geblieben. Er hat nie den grausamen – in entgegengesetzter
Weise gelösten – Konflikt Tolstois und Nietzsches zwischen Menschentum und
Schöpfertum empfunden; Menschentum und Schöpfertum waren und blieben in ihm
eins. Darum lag für ihn auch zwischen Eros – der Liebe des Einzelnen zum Einzelnen
– und Agape – der kantischen Liebe zu den Vielen, den Bedürftigen – für
Landauer keine Trennung. Insofern bietet dies revolutionäre Leben das
erstaunliche Bild eines im wahrsten Sinne schönen Lebens, das heißt eines
Lebens, dessen allerpersönlichstes Erleben nie, an keinem Punkt mit seinen
überpersönlichen Zielen in Konflikt geriet. Niemals hat eine noch so
leidenschaftliche persönliche Beziehung ihn von seinem überpersönlichen Weg
abgelenkt; niemals aber auch hat sein Wille zum Überpersönlichen eine wirklich
lebendige persönliche Beziehung untergraben. Seine Existenz zeigt bei allem,
was sie bedrängte, keinen Bruch, keine radikale Wandlung; von Anfang bis zu
Ende war er derselbe reife, mündige, zielbewußte und von seinem Ziel
ausschließlich geleitete Mensch, der alles Nächste und Fernste in den
Lichtkreis seines Lebens zog und es seiner Idee anbildete.
Darum haßte Landauer auch mit
noch größerer Leidenschaft als selbst die Theorie jede Art von Gewalt, weil die Anwendung von Gewalt
immer und unter allen Umständen ein Zeichen der Unzulänglichkeit des Geistes,
ein Versagen der moralischen und geistigen Mittel bedeutet. Wer durch sein Wort
und seine Tat überzeugen kann, der braucht keine Gewalt. Und es ist noch heute
mein Glaube, daß Gustav Landauer in dem Augenblick seine Person und sein Leben
preisgegeben hat, als er erkannte, daß er die Menschen nicht überzeugen konnte,
und daß er sie von der Anwendung von Gewalt nicht mehr zurückhalten konnte.
Der Mann, der der Bekämpfung
jeder Art von Gewalttat sein Leben gewidmet hat, mußte durch den Kolbenschlag
eines verrohten Gesellen enden. Aber wenn Gustav Landauer die Gewißheit
gehabt hätte, daß aus seinem furchtbaren Tode den Menschen die Einsicht
erwachsen könnte, was es für ein Volk und für die Ehre eines Volkes bedeutet,
einen solchen Menschen, statt ihn mit glühender Dankbarkeit zu umgeben, mit
Kolben totzuschlagen; wenn er gewußt
hätte, daß sie sich aus dieser Einsicht heraus schwören würden, es sollte das
letztemal gewesen sein, daß ein Mensch, der sie zum Lichte führen wollte, von
deutschen Menschen totgeschlagen worden ist dann wäre noch unter dem Schlag
seines Henkers ein glückliches Lächeln in seinem sanften gemarterten Antlitz
erschienen. Er hat das reine Schicksal des Revolutionärs gelebt: den unumschränkten
Einsatz der Person in ein tief bedürftiges Leben. Nicht frohen Herzens und ohne
Hoffnung auf eine Erfüllung in absehbarer Zeit hat er gewirkt. Aber ihm mag die
Besiegelung seiner Überzeugung mit seinem Leben in dieser Stunde als etwas
Größeres und Vorbildlicheres erschienen sein als selbst die unablässige,
geduldige Arbeit an einem so tief verkümmerten Leben. Das Licht seines
Opfertodes, das durch das stumpfe Leben nicht hindurchzudringen
vermochte, hat die Flamme der Erkenntnis nicht entzündet, nur das Feuer eines
noch schlimmeren Brandes.
»Was liegt am Leben« waren die
letzten Worte, die vor seinem Tode von ihm gedruckt worden sind. »Wir sterben
bald, wir sterben alle, wir leben gar nicht. Nichts lebt, als was wir aus uns
machen, was wir mit uns beginnen; die Schöpfung lebt; das Geschöpf nicht, nur
der Schöpfer. Nichts lebt, als die Tat ehrlicher Hände und das Walten reinen,
wahrhaften Geistes.«