Die Gleichnisse Jesu[i]

 

In: Neue Wege 38, 1944

 

Im achten Kapitel der Apostelgeschichte fragt der Jünger Christi Philippus, den mächtigen Kämmerer aus dem Mohrenland, den er beim Lesen des Jesajabuches betrifft: „Verstehst du auch, was du liesest?“ Die Antwort lautet: „Wie kann ich verstehen, wenn mich nicht jemand anleitet?“ Er hatte, was er las, dem Wortsinn nach verstanden; gerade darum begriff er, daß er es nicht wahrhaft verstanden hatte, daß mehr darin verborgen war, als er erkennen konnte, und suchte die Anleitung zu dem echten Verstehen, das ihm sagte, was das Gelesene für sein Leben bedeutete. Es ist genau dieser Weg vom Verstehen zum Verstehen, den Ragaz mit uns in seiner Erläuterung der Gleichnisse Jesu geht, die als Teil seines großen Bibelwerkes erschienen ist; der Weg vom bloß dem Wortsinn nach Begriffenen (denn die Gleichnisse scheinen in ihrer sublimen Einfachheit zuerst nicht schwer zu begreifen) zu dem wahrhaftigen Verstehen dessen, was sich als Wirklichkeit und damit als Botschaft an unser Leben in ihnen verbirgt. Es ist der Weg vom ahnenden Erfassen eines Übermächtigen zu der lebendigen Begegnung mit Jesus Christus.

Und in wunderbarer Weise kommt die Welt dieser Gleichnisse nach Form und Inhalt dieser Art der Erschließung entgegen. Schon seiner Form nach ist ja das Gleichnis nicht abgelöste gedankliche Wahrheit, die dem bloß verstandesmäßigen Begreifen zugänglich ist; es ist selbst ein Stück Welt und Wirklichkeit, die als solche sich auch dem angestrengtesten Nachdenken nicht erschließt, sondern nur dem lebendigen Hineingehen. Ausdrücklich sagt Jesus den Jüngern, daß er in den Gleichnissen das Reich den einen öffnet, den anderen aber verschließt, „daß sie sehend nicht sehen und hörend nicht hören“. Und er öffnet es nicht bestimmten Einzelnen, geistig besser Ausgerüsteten; er öffnet es denen, die wirklich zu ihm kommen; er verschließt es denen, die ihm in Wirklichkeit fernbleiben. Und damit ist es doch wieder allen geöffnet. Und wie mit der Form, so verhält es sich auch mit dem Inhalt der Gleichnisse; auch er: „die zusammenhängende Verkündung des Reiches Gottes“, wendet sich nicht an ein denkendes Begreifen, sondern an unser Leben. Auch das Reich steht uns in der eigentümlichen, in sich ruhenden Verschlossenheit und Unzugänglichkeit alles dessen, was Welt ist, gegenüber. „Es drängt sich nicht auf“, sagt Ragaz. Die Botschaft überredet uns nicht; es steht uns frei, sie anzunehmen; sie will in Freiheit ergriffen sein. Gott läßt uns dem Reich gegenüber frei, wie der Vater im Gleichnis der Gleichnisse seine beiden Söhne; er läßt uns unseren Weg gehen; er ist nur da – dann aber, wenn wir kommen, von uns aus kommen und ihn suchen, dann läuft er uns entgegen, nimmt er uns an sein Herz, dann werden wir so über alles Denken und Hoffen überschwänglich aufgenommen, wie der Vater den verlorenen Sohn aufnimmt. „Er hat ja auf ihn gewartet – lange und immer!“ in diesem schlichten Wort von Ragaz birgt sich die ganze unbegreifliche Gnade des Reiches.

Dieser nur wartenden, sich nicht aufdrängenden Welt der Gnade und des Gerichts gegenüber, die nicht Predigt, nicht Aufruf, nicht Anruf an uns ist, die uns in einem eigentümlichen Schweigen gegenübersteht, kann die Arbeit des Deutenden allein in der Herstellung des lebendigen Kontaktes zwischen ihr und unserem Leben bestehen. Und dies ist wirklich der Weg, den Ragaz durchweg geht. Er verfährt damit in seiner Deutung in mehrfacher Hinsicht anders als es bisher geschehen ist. Er geht zunächst nicht, wie es sonst in der Praxis üblich ist, allen Einzelheiten der Gleichnisse nach; es kommt ihm allein auf den zentralen Vergleichungspunkt an, an dem die Grundbedeutung aufspringt. Und indem er so den Herzpunkt des Gleichnisses trifft und herausarbeitet, springt wirklich der Lebensfunke unmittelbar über, erhalten die Deutungen das Schlagende, Packende und Zupackende, das Innerste des Menschen Anpackende, erfahren wir in ihnen immer wieder, wie der Blitz des Göttlichen in das Menschliche einschlägt. So kommt uns in diesem Buch das Reich in solcher Kraft und Unmittelbarkeit entgegen, wie wir es selbst in den Werken von Ragaz noch kaum erlebt haben; es kommt uns nicht nur entgegen; es kommt über uns, wie der unbegreifliche Liebesreichtum des Vaters im Gleichnis über den heimkehrenden Sohn kommt. Denn „das Reich ist nicht nur Aufgabe; es ist in erster Linie Gabe, Geschenk“. Es ist das Wunder, das überall in der göttlichen Paradoxie der Gleichnisse waltet, in denen in dem unbedingten Maß Christi, das in ihnen streng und herrlich hervortritt, zugleich das ganze Übermaß der Gnade gegenwärtig ist, das uns von aller Angst und Ängstlichkeit unserer menschlichen Maße erlöst.

So als Gabe und Geschenk, tritt das Reich mitten in unsere Welt herein, ist es mitten unter uns. Es ist hier nicht wie in den üblichen theologischen Deutungen ein fernes Jenseits, das einst am Ende der Zeiten unabhängig vom Wollen und Tun des Menschen sich verwirklicht, nicht eine vom Ganzen unseres Lebens abgelöste rein religiöse Sphäre; es ist ein durchaus Reales: das immer und überall in der lebendigen Beziehung zwischen Gott und Mensch sich Verwirklichende. Und nicht vor allem im rein inneren, persönlichen Dasein, sondern es verwirklicht sich in den großen geschichtlichen Entwicklungen und Entscheidungen der Menschheit. Damit ist es der Einwirkung des Menschen nicht entzogen, sondern die Verantwortung für seine Verwirklichung ist in die Hände der Menschen gelegt. In einem wahrhaft klassischen Wort ist das Verhältnis zwischen Gott und Mensch, wie es in den Gleichnissen lebt, ausgesprochen: „Der Acker gehört dem Herrn; aber es wird darauf gearbeitet, wenn er etwas taugen soll.“ Überall ist dies ja die Grundlage der Gleichnisse: Gott sendet Arbeiter in das Seine, damit sie es instand halten und verwalten. Damit ist auch das Wachstum des Samens, das Gedeihen der Saat und die Ernte nicht unser; unser ist allein das Beginnen, die tägliche Arbeit und Mühe. Und wem dies angesichts des Ungeheuren, das damit erreicht werden soll, wenig scheint, dem antwortet abermals ein kraftvolles Wort von Ragaz: „Ist recht säen und ernten nicht genug? Wahrhaftig, der Landmann ist kein Müßiggänger!“

Der Acker, der Weinberg, der Weinstock, das aus der Herde verlorene Schaf, der verlorene Groschen, der Sauerteig im selbstgebackenen Brot, das winzige Senfkorn, das in den Boden gelegt wird, der Landmann, der Herr, der Knecht, das Leben der ländlichen Familie, das einfache Verhältnis zwischen Vater und Sohn, die primitivsten bäuerlichen Geld-, Rechts- und Eigentumsverhältnisse – es ist diese bescheidene, schlichte ländliche Wirklichkeit, in der uns das Größte und Äußerste, das Tiefste und Überschwenglichste von Gott und vom Menschen gesagt wird. Und es will uns scheinen, als hätte uns heutigen, durch ein städtisches, technisiertes Leben ihr so tief entfremdeten Menschen diese erdhafte Welt und die in ihrer Gesetzlichkeit schlafende Bedeutungskraft nur ein Geist so lebendig nahe bringen können, dem die naturhaften Urverhältnisse und Gesetze von der Jugend her als Eigenes eingewoben sind. Und nur ein gleich, tief im Gesetz wie in der Freiheit wurzelnder Geist konnte derart lebendig vor uns die tief paradoxe Erscheinung dieser Gleichnisse erstehen lassen, in denen im Festesten und Dauerndsten, im von der Natur selbst Gesetzten die gewaltigste Revolution der Menschheitsgeschichte Gestalt gewinnt.

Denn um Revolution geht es hier durchaus. Die Botschaft vom Reich ist begriffen als eine einzige Revolution alles Menschlichen. Was Revolution: Revolution überhaupt für Ragaz bedeutet, das ist vielleicht in keinem seiner Werke so grundlegend klar geworden wie in diesem. Was sie ihm immer und von je war: eine über alles Politische und Soziale weit hinausgehende Umwälzung des Menschlichen, das ist an den Gleichnissen Jesu neu und entscheidend entwickelt. Sie ist Revolution im Wortsinn der Umkehrung, die, im Letzten verstanden, Umkehr ist: eine Umkehrung des gesamten Menschwesens von Gott her, in der alle politische und alle soziale Revolution erst wurzelt. Die Forderung: „Trachtet am ersten nach dem Reiche Gottes und seiner Gerechtigkeit!“ steht im Mittelpunkt auch dieses Werkes von Ragaz. In diese Gerechtigkeit des Reiches ist die soziale unbedingt eingeschlossen. Sie aber als das Ganze der Botschaft der Gleichnisse zu nehmen, wäre ein ebenso oberflächlicher wie verhängnisvoller Irrtum. Gerade an diesem zentralen Begriff offenbart sich die ganze sieghafte Kraft des Reiches. Schon sogleich in der Deutung des ersten Gleichnisses vom Weltgericht, das den Grundton der Gesamtdeutung angibt, dieses gewaltigen Gleichnisses, in dem der Mensch allein nach dem gerichtet wird, was er dem geringsten seiner Brüder getan hat, zeigt sich die fundamentale Umwandlung und Neudeutung, die dem Sozialen aus seinem Eingeordnetsein in das Reich erwächst. Ragaz verwirft, getreu seiner Grundhaltung, der das Gericht Gottes nicht ein einmaliges, am Ende der Zeiten eintretendes, sondern ein immerfort in der Geschichte, im Menschenleben sich vollziehendes ist, die Deutung diese Gleichnisses auf das Jüngste Gericht. Ihm ist es allein „die Antwort auf die Frage, auf was es vor Gott ankommt“. Es kommt darauf an, wie wir zu unseren Mitmenschen gewesen sind. Aber indem Jesus hinzufügt: „Was ihr getan habt dem geringsten meiner Brüder, das habt ihr mir getan“, erhebt sich über der sozialen Frage und mitten in ihr die Frage unseres wahrhaftigen Bekenntnisses. Mit unserer Liebe zum Bruder bekennen wir uns zu Christus. Damit ist das Soziale hier aus jeder irdischen Enge herausgeführt in die freie unendliche Luft des Reiches. Es hat nicht mehr nur den festen Grund der Erde unter sich, es ist über ihm auch der ganze Himmel ausgespannt. Das Wort sozial ist in diesem Zusammenhang nur noch ein Hilfswort; gemeint und gewollt ist die in Gott gegründete und alles wieder zu Gott zurückbringende Liebe zum Kind des gleichen Vaters: zum Bruder. In Worten von letzter Innigkeit und Tiefe wird dieser heilende und heiligende Zusammenhang in der Ganzheit Gottes begründet, aus der wir alle leben. Der innerste Sinn alles sozialen Suchens, das Grundmotiv aller sozialen Umgestaltung ist „das Suchen des Verlorenen“. Wie Gott aus seiner göttlichen Ganzheit nichts verloren geben kann, wie des Menschen Sohn gekommen ist, zu suchen, was verloren ist, so kann auch der Mensch nichts und niemanden verloren geben, ist hier alle Rettung, alle Wiederherstellung der Welt an das Suchen des Menschen nach dem Verlorenen gebunden. „Es darf keine Verlorenen geben“, das ist der Ruf, der gewaltig und erschütternd aus dem Ganze des Buches aufsteigt. Das größte Hemmnis des Findens, da, was immer neu die Kluft zwischen Mensch und Mensch aufreißt, ist der Besitz: die Ursache alles Rechnens und Rechtens unter den Menschen. Und zwar der Besitz nicht nur im materiellen, sondern in jedem auch im geistigen Sinne. Erst wenn wir begriffen haben, daß nichts, gar nichts in Wahrheit uns gehört, daß wir von allem, was unser ist, nicht die Besitzer, sondern nur die Verwalter sind, weil alles Gott gehört, ändert sich unser Verhältnis zum Mitmenschen. Denn dann begreifen wir, daß wir alle aus einem gemeinsamen Schatz, aus einer umfassenden Solidarität leben, daß jeder so dem anderen gegenüber in einer unendlichen Schuld steht. Und damit tritt an Stelle unseres eigenen Rechts die Verpflichtung gegen den Bruder. Denn „wir leben nicht aus dem Recht, sondern aus der Gnade. Das ist die Grundtatsache unserer menschlichen Existenz. Und das bedeutet: wir werden aus Gläubigern Schuldner“.

Aus dieser innersten Verpflichtung gegen alles Menschliche müssen wir nicht nur den in Armut und Elend verlorenen, sondern auch den im sittlichen Sinne und den im Glauben verlorenen Bruder, auch den „Gottlosen“ suchen. Das freilich ist Ragaz gewiß: Der Name entscheidet nicht. „Gott ist nicht da, wo sein Name genannt wird, sondern wo sein Wille geschieht.“ Und aller engstirnigen Verwerfung des Kommunismus gegenüber wird durch seine zeitlichen Unvollkommenheiten und Schwächen hindurch jene Grundwahrheit der Urgemeinde in ihm erkannt: „Und keiner sagte von seinen Gütern, daß sie sein eigen seien, sondern sie hatten alles gemein.“ Aber nun ist es wieder das Wunderbare, daß auch dies, daß auch der Klassenkampf unter den Gesichtspunkt des Reiches gerückt und einem höheren Gesetze der Menschlichkeit unterstellt wird. So ganz Ragaz überall bei den Entrechteten, den Erniedrigten und Beleidigten steht: vom Letzten aus gesehen muß auch noch der Kampf der unteren gegen die obere Klasse „Die Form der Gnade annehmen, und nicht die eines leidenschaftlichen Eigenrechts“.

So rückt hier alles Menschliche unter das Gericht und die Gnade des Reiches. Und damit ist dies Buch von einer ungeheuren Aktualität. In dem Wort Jesu: „Du Tor, diese Nacht wird man deine Seele von dir fordern, und wem wird dann gehören, was du zusammengerafft hast?“ sieht Ragaz das ausgesprochen, was wir heute in der Weltkatastrophe erleben. Das Grunderlebnis des Zusammenbruchs aller materiellen und geistigen Schätze, die die Menschheit seit Jahrtausenden aufgehäuft hat, eines Zusammenbruchs, in dem offenbar wird, wie wenig sie menschlich mit all dem ausgerichtet hat–, diese revolutionäre Grundtatsache unserer Gegenwart erdröhnt als Pedal schwer und dunkel unter dieser Verkündung des Reiches in den Gleichnissen Jesu. Wie tief in diesem Augenblick, wo die Seele der Menschheit von ihr gefordert ist, die Wahrheit der Gleichnisse Jesu wieder zu unserer eigenen geworden ist, und wie tief und zentral diese Wahrheit mit der Frage des Besitzes verknüpft ist, das wird klar an einem Wort, das vor wenig mehr als einem Jahrhundert ein vom Christentum herkommender geistesmächtiger Denker, Hegel, ausgesprochen hat: das Wort Christi von den Lilien auf dem Felde könne für uns nicht mehr gelten, weil die Geschichte des Eigentums zu mächtig geworden sei in unserer Welt. Heute, wo diese mächtige Geschichte in ihre Katastrophe eingetreten ist, erfahren wir, daß diese zeitliche Wahrheit Christi zerspringt. Wir atmen wieder in einer Luft, in der die Gleichnisse Jesu leben. Es ist nicht die dumpfe, eingeschlossene Zimmerluft vergangener Jahrhunderte: es ist der Sturm der Revolution von Gott her, wie sie uns dies Buch gewaltig verkündet. Aber damit, daß in dieser Welt, die uns so ganz und gar als Gericht antritt, die von dumpferen Zeiten verhüllte und fast geknickte Wahrheit Christi in ihrem ganzen Glanz wieder aufbricht, erfahren wir auch das andere: daß in diesem ungeheuren Gericht die Gnade Christi am Werk ist.

Gewiß: auch der Glaube ist im Angesicht des Entsetzens schwer, schwerer als je zu gewinnen. Aber allen denen, die an der Möglichkeit einer Wiederaufrichtung unserer Welt verzweifeln, die sich scheuen, Hand anzulegen, weil sie sich angesichts dieser Weltzerstörung die Größe und Gewalt des Glaubens an das Wunder des Reiches nicht zutrauen, wird hier der wunderbare Trost mitgegeben: „Jesus redet gar nicht von einem gewaltigen Glauben; er redet nur von einem sehr kleinen Glauben von der Größe eines Senfkorns.“ Und damit werden wir inne, daß in diesen Gleichnissen, in denen das Äußerste von uns gefordert ist, in denen noch das Ausreichende, Pflichtgemäße, genau Errechnete – und gerade dies – mit letzter Härte verworfen wird, ein anderer, uns fremder Maßstab gilt, vor dem unsere eigenen Maßstäbe zerbrechen. Wie wir, wenn wir alles uns Aufgetragene getan haben, sprechen sollen: „Wir sind unnütze Knechte; wir haben nur getan, was uns aufgetragen war“, so erfahren wir nun, daß auch das Kleinste und Bescheidenste, wenn es nur nicht in Selbstgenügsamkeit, im Geist des Verdienstes, sondern um des Reiches willen, aus Sehnsucht nach dem Reicht geschieht, von einem Strahl jener Gnade getroffen wird, deren ungemessener Glanz als das Soli Deo Gloria über dem Ganzen dieses Buches leuchtet. 

 



[i] Vgl. Leonhard Ragaz: „Die Gleichnisse Jesu.“  Verlag von Herbert Lang, Bern.