In:
Frankfurter Zeitung, 5.9.1912
Der Inhalt, in dem alle geistigen Ströme unserer Zeit
zusammenfließen, ist das Leben. Immer
tiefer verhüllen sich die Bilder über dem Leben; immer mehr verblassen und
verlöschen die Gestirne des Absoluten; immer mehr kehren Sinn und Wert, die
einst über ihm gesucht wurden, in das Leben selbst ein. So werden sie für den,
der selbst ein Lebender ist, unendlich fragwürdiger, problematischer. Statt
klar leuchtend über ihm zu stehen, bilden sie sich schwer und ringenden im
verworrenen Leben, von dem er selbst Teil ist. Göttliches, das dennoch immer
empfunden wird, wird nicht mehr vom Menschen angeschaut, sondern von ihm
selbst geboren. Darum betrachtet der heutige Mensch es mit jenem verwirrten
Zweifel an seiner Realität, der uns allem Selbsterschaffenen gegenüber
beschleicht. Und doch sucht er es, wie einst der Mystiker seinen Gott suchte,
sehnt sich, daß es in ihn einkehre, ringt darum mit aller Leidenschaft seines
Geistes und weiß um seine Notwendigkeit für eine wahrhaftige Erkenntnis, ein getreues
Bild des Lebens. Um so mehr weiß er um diese Notwendigkeit, je mehr das
Göttliche sich ihm verbirgt und verwischt. Durch die ganze geschichtliche Welt
hindurch verfolgt er es, um sich die Gewißheit einer Realität zu geben; in
jeder großen Gestalt begrüßt er es mit gebeugtem Knie, und der heimlich an ihm
Zweifelnde ist der heißeste Anbeter seiner Offenbarungen.
Denn daß uns die Geschichte breiter erschlossen ist als
früheren Zeiten und daß wir mehr äußere Mittel besitzen, sie zu erschließen,
ist uns nicht der einzige Sporn zu ihr: auch unsere metaphysische Sehnsucht
treibt uns in die Geschichte, läßt uns in ihr Formen und Bewährungen des Ewigen
suchen. Der Schaffenswahnsinn unserer Zeit, für die Schaffen etwas ganz anderes
bedeutet als für alle früheren Zeiten, die schaffen muß, weil sie jene Formen
des Absoluten nicht vor dem Leben besitzt,
sondern sie selbst erzeugen muß, die gestalten muß, weil die Welt leer ist –
sieht sich zugleich gewaltsam gehemmt durch jenen Zweifel an der Realität der
eigenen Gestaltungen. Die metaphysische Kraft kann sich in diesen Gestaltungen,
an die sie nicht ganz mehr glaubt, nicht mehr rein erlösen; der gewaltige
Drang nach Wahrheit, nach »Reinlichkeit«, wie ihn Nietzsche nennt, gibt dem
Zweifel einen Nachdruck, der zerstörend auf das zu Erschaffende wirkt. Das
metaphysische Bedürfnis flüchtet sich aus den eigenen Gestaltungen in die
Geschehnisse, in denen es sichere Realität findet, an die es unbedingt glauben
kann, sucht das Übersinnliche, Göttliche in den Formen auf, in denen es sich
bereits lebendig verwirklicht hat: in den vorhandenen Werken und Taten nicht
nur, sondern vor allem in den geheimen Unter– und Zwischenströmen zwischen den
Zeiten und ihren Gestaltungen, in den feinen, schwer zu durchschauenden
Zusammenhängen zwischen Leben und Werk, Seele und Form, aus denen uns letzte
Offenbarungen des Menschlichen, Göttlichen kommen.
Geschichte wird in unserer Zeit, in der alle Träume von
einer in ihr geoffenbarten, durchschaubaren göttlichen Logik zerronnen sind,
vielleicht religiöser empfunden als je zuvor; ihre Geheimnisse werden zugleich
als für uns unauflösbarer und in sich klarer, ihre Geschehnisse als unendlich
tiefere Verschlingungen verborgener Mächte verehrt. Indem man ehrfürchtiger
sie zu entwirren sucht, indem man, statt ihnen ein Schema von außen
aufzudrücken, sie aus sich selbst, aus ihren eigenen Zusammenhängen zu
begreifen oder sich ihnen verstehend anzunähern sucht, wurde die Notwendigkeit
des geschichtlichen Geschehens in einem anderen immanenteren Sinne begriffen:
nicht als ein Vollzug von außen gegebener Normen, sondern als das uns
Verhüllte, das, wenn wir alle Fäden, aus denen es sich zusammenspann, zu
erkennen, zu verfolgen vermöchten, uns seine Unabwendlichkeit
enthüllen müßte. Und wenn an dieser Geschichtsbetrachtung dem modernen Geist
die Relativität und Bedingtheit alles Geschehens und Erkennens schmerzhaft
aufgehen mußte, so entwickelte sich an ihr zugleich um so leidenschaftlicher
die Ehrfurcht und Bewunderung für die großen Augenblicke und Gestalten, in
denen ein unfaßbares Absolutes in der gebundenen und festgelegten Geschichte
durchbricht. Wie wir modernen Menschen als das Ziel und Licht der aus so
dunklen und vielfachen Geschehnissen verschlungenen Geschichte das menschliche
Große begreifen lernen, wie für uns über den Stil und die Leistung einer Zeit
die des großen Individuums sich erhebt, so begreift auch unsere Zeit mit einer
neuen Klarheit den Zusammenhang zwischen dem dunklen Strom der Geschehnisse und
der in sich ewig unauflösbaren Größe eines Individuums und damit zugleich den
Weg der einzelnen menschlichen Erscheinung aus dem ihr gewordenen Lebenschaos zur menschlichen Wesenhaftigkeit.
»Von den Zufällen zur Notwendigkeit, das ist der Weg
jedes problematischen Menschen.« Dieser Weg ist es,
der in dem Buch von Georg v. Lukács »Die
Seele und die Formen« mit Leidenschaft und Tiefe an bedeutsamen heutigen und
vergangenen Erscheinungen verfolgt wird – aber nicht nur an den einzelnen
Erscheinungen, die ihm immer nur Illustrationen typischer Wege der Seele zum
Absoluten sind. Denn »der Kritiker ist der, der das Schicksalhafte in den
Formen erblickt, dessen stärkstes Erlebnis jener Seelengehalt ist, den die
Formen indirekt und unbewußt in sich bergen. Die Form ist sein großes
Erlebnis«. Es ist das Buch eines Kritikers – aber eines Kritikers in jenem
allerweitesten Sinne, der hier bezeichnet wird: eines Durchschauers
der Formen bis in die Wurzel ihres Entstehens, eines Anbeters der Form als der
menschlichen Erlösung und Erschließung zugleich. Er spricht nicht über die
gestalteten Dinge, er formt an ihnen neue Erkenntnisse von Gestaltungsweisen.
Oder umgekehrt: sie bieten sich ihm als Bewährungen seiner Erkenntnisse vom
Gestalten: vom Weg der Seele zu den Formen. In die Problematik dieses Weges,
der unsere Lebensfrage ist, leuchtet dies ernste und einsame Buch hinab. Die
geschichtlichen Erscheinungen werden von einem ganz modernen, ganz
sehnsüchtigen und um Wirklichkeit ringenden Geiste betrachtet. Und dieser
moderne, kritische, um jede Lebensfestigkeit verarmte Geist steht einer
Erscheinung nahe, die ihn am vollkommensten auszuschließen scheint: er steht
nicht fernab von der Mystik. Man
könnte sein Buch das Buch eines modernen, eines glaubenslosen Mystikers nennen;
denn es kreist rein um den Weg der Seele zum Absoluten. Eine andere Seele als
die jener großen Zeit, in der die Seele diesen Weg als ihren Lebensinhalt, sein
Beschreiten als ihre Funktion, ihr lebendiges Atemholen selbst erkannte und
damit zugleich das Absolute als den eigentlichen Gott der Seele setzte und
glaubte – eine andere Seele müht sich hier einem anderen Absoluten entgegen.
Die verlassene Einzelseele, die nicht mehr in ihrem kleinen isolierten Spiegel
ein Absolutes in seiner gigantischen Gottesform aufzufangen vermag, strebt
einer von Gott verlassenen Göttlichkeit des Lebens zu.
Die verzweifelte Tragik der modernen Seele auf ein Ziel
hin, dessen Inhalt ihr entschwunden ist, geht unausgesprochen durch dieses
Buch. Sie ist es, die den nach der Wirklichkeit des Gesuchten Sehnsüchtigen,
dem seine Ehrlichkeit verbietet, daran zu glauben, wie seine Überzeugung ihm
gebietet, es zu suchen, in das Leben, in die Geschichte als in seine
eigentliche Heimat weist. Das Leben und die geschichtliche Welt sind ihm mit
einer unendlich größeren Intensität gegeben als dem gläubigen Mystiker
vergangener Zeiten: wo sie diesem ein gleichgültiger oder zu überwindender
Durchgang zum Ewigen waren, da sind sie ihm das, in dem sich das Ewige
erzeugt, in dem er selbst es zu erzeugen hat: Stoff zur Gestaltung, Kraft zum Gestaltetwerden. Wie sein einziger Weg zum Absoluten die
Bearbeitung des Lebens selbst ist: Formung des Lebens im Leben oder im Werk –
so werden ihm zugleich die von Menschen erzeugten Formen, die er überblickt,
die einzigen Zeugnisse der Göttlichkeit des Lebens. Die Form, die für die
früheren und im Grunde für alle Zeiten nichts als »der kürzeste Weg, die einfachste
Art zum stärksten bleibendsten Ausdruck« sein kann,
ist für den glaubenslosen Mystiker von religiöser Bedeutung geworden. Der
Seele, die ihre eingeborene Richtung: den Weg zum Absoluten, zu allen Zeiten
realisieren muß – gleichviel, ob sie das Ziel bereits im Glauben besitzt oder
daran zweifelt – ist das letzte erreichbare Ziel die reine Notwendigkeit des
eigenen Welterfassens: die Form in jedem Sinn geworden. Und damit werden die
Formen zugleich zum reinsten Ausdruck der Seele, aus der Erlösung zur
Erschließung.
Ungeheuer und zart zugleich sind die intellektuellen
Tragödien der modernen Seele auf ihrem Weg zur Form. Unserem verworreneren
Leben, das nicht vorweg durch bestimmte klare Bindungen gestaltet und darum an
sich ganz formlos ist, steht die Form als etwas zugleich viel intensiver
Erstrebtes und viel schwerer zu Erreichendes gegenüber – sei es die Form im Leben,
sei es die im Werk. Das Leben für die eigene Form, das die eigentliche
Lebensform der heutigen geistigen Menschen ist, birgt Unerträgliches, ist ein
bewußtes Speisen der eigenen Kraft aus der eigenen Kraft – ein Kreisen um die
eigenen Möglichkeiten, dem nur die ganz Großen gewachsen sind. Dennoch ist dies unser Schicksal und unser notwendiges Schicksal,
weil wir so viel mehr der Form bedürfen als alle früheren Zeiten und zugleich
so unendlich gewaltsamer um sie werben müssen. Verzweifelte und große
Gestalten wie die Kierkegaards, Novalis', Stefan Georges treten auf,
um die intellektuellen Tragödien des modernen Menschen zu illustrieren – die
Tragödien einer Zeit, in der alles ungreifbar, haltlos, gegenstandslos wird, in
der Wort und Tat sich zu Blick und Geste verflüchtigen, in der das Genie aus
dem Leeren in das Leere gestalten muß und seine eigenen Gestalten sich als
sein einziges Gericht über ihm erheben. Die überströmend reiche und
gebrechlich zarte Kunst Beer–Hofmanns, seine aus dem lustigsten
Impressionismus geborene pantheistisch leuchtende Einbeziehung alles
Zufälligen in die ewige Notwendigkeit des Geschehens: die Monumentalwerdung
des Zufalls mit all seinen Schauern und Erschließungen und das harte Ringen um
den Stil dieser ungreifbaren Offenbarungen taucht wie eine noch halb
verschleierte und doch schon selig leuchtende Insel aus den Wellen der modernen
Träume und Hoffnungen herauf. Ihm gegenüber steht die stille romanische
Schlichtheit und Vollendung des Charles Louis Philippe, die das Innere
der Seele einzig in den klaren und harten Konturen der äußeren Wirklichkeit
zeichnet. Auch diese einander widerstrebenden Erscheinungen sind um das gleiche
Ziel geeint: auch sie Zeugnisse der modernen Seele auf ihrem Weg, zu Form und
Reinheit. Jede dieser Gestalten ist in diesem Buch für sich und als ein
besonderes Problem gestellt; aber die sie isolierende Form des Essays läßt hier
die einzelnen Gestalten nur klarer und selbständiger von einem gemeinsamen
Grunde sich loslösen; denn nirgends sind die Gestalten um ihrer selbst willen
aufgezeichnet, immer sind sie nur Phantasien, Variationen über das Thema der
Beziehung der Seele zur Form und der Form zur Seele, nirgends hintergrundlose
Plastik, immer einheitlich belebtes, durch einen gemeinsamen Grund, einen
gemeinsamen Rhythmus verbundenes Relief. – Und selbst wenn wir nicht
hinsichtlich aller einzelnen Erscheinungen, die Lukács als Träger seiner
Überzeugungen von der Form und vom Weg zur Form vor uns aufleben läßt, uns mit
ihm einverstanden erklären können, so werden uns darum diese Überzeugungen
und das Leben, das er seinen Gestalten gibt, nicht weniger bedeuten.
Umspannt ist das Buch von den beiden Abhandlungen über
den Essay und über die Tragödie, den Essayisten und den tragischen
Menschen – diese beiden heterogensten Formen der Kunst und des Menschen. Mit
vollendeter Klarheit und Kraft sind hier die Lebensformen und Seelenformen
geschieden: die seelische Art des Menschen, der in der Wirklichkeit, im Leben,
in den Dingen lebt und sein Schicksal und sein Heil, sein Gericht und seine
Ewigkeit aus ihnen selbst empfängt, und die Art dessen, der allein in den
Zusammenhängen der Dinge, in den Begriffen lebt, des sokratischen, platonischen
Menschen, dessen nicht weniger bewegtes und reiches Schicksal sich allein in
der Reihe des Geistigen abspielt. Und ebenso klar enthüllt sich als das
Ergebnis dieser Schicksale die Form, die der Mensch der Tragödie im konkreten
Leben, der des Essays jenseits des Lebens, im Abstrakten, im Erschaffenen
findet. Und wiederum scheidet sich vom Essayisten, vom Kritiker im tiefsten und
weitesten Sinne, von dem, der immer hinter die Dinge greift und allein ihre
Bedeutung zu erfassen sucht, der Dichter, der die Dinge selbst sieht und
wiedergibt und darum in den Bildern der Dinge statt in ihrer Bedeutung lebt –
und ebenso auf der anderen Seite vom tragischen, einzig im Leben selbst
formenden Menschen der tragische Dichter, der das Leben dieser Schicksal
formenden Menschen formt, wie der Kritiker das menschliche Leben überhaupt.
Alle diese scheinbaren Abstraktionen – deren Mischung im
realen und namentlich im heutigen Leben klar erkannt und ausgeformt ist – sind
im Tiefsten konkret, weil sie niemals nachträglich sind, sondern immer von dem
reden, was allen einzelnen Ausgestaltungen des Lebens und der Kunst schon zu
Grunde lag, was als ihr formendes Prinzip vor ihnen da war. Sie alle tragen das
Licht der Idee in die einzelnen Formen, Werke und Gestalten, das alles
Existierende mit der selbstverständlichen Reinheit der letzten Forderung
erleuchtet. So erfüllen diese Essays rein die Forderung, die in ihnen selbst an
den Essay gestellt ist. »Die Idee ist der Maßstab alles Seienden: darum wird
der Kritiker, der ›bei Gelegenheit‹ von etwas Geschaffenem dessen Idee
offenbart, auch die einzig wahre und tiefe Kritik schreiben... Es muß gar
nicht ›kritisiert‹ werden, die Atmosphäre der Idee genügt, um es zu richten.«
Und darum erhebt sich in diesen Essays über alle
einzelnen Formen immer wieder die Form. Ihrem Wesen und ihrer Beziehung zur
Seele müssen alle Darstellungen einzelner Wege zu ihr dienen. Sie, die als die
Erlöserin des Glaubenslosen, des im eigentlichen Sinne problematischen Menschen
erkannt und verehrt ist, ist wiederum für sich als Problem der Seele gegenübergestellt. Es »kann nur die bis ins Ethische rein
gewordene Form – ohne deshalb blind und arm zu werden – das Dasein alles
Problematischen vergessen und es für immer aus seinem Reiche verbannen«. Aber
alle Probleme der Menschennatur spiegeln sich in der Form, und wie sie allein
unsere Probleme aufnimmt und löst, als das Gereinigte und Erlöste der Seele gegenübersteht,
ist auch die Seele immer neu aufgerufen, die Probleme der Form in sich zu empfangen
und zu lösen.