Georg Lukács: Die Seele und die Formen

 

In: Frankfurter Zeitung, 5.9.1912

 

Der Inhalt, in dem alle geistigen Ströme unserer Zeit zusam­menfließen, ist das Leben. Immer tiefer verhüllen sich die Bil­der über dem Leben; immer mehr verblassen und verlöschen die Gestirne des Absoluten; immer mehr kehren Sinn und Wert, die einst über ihm gesucht wurden, in das Leben selbst ein. So werden sie für den, der selbst ein Lebender ist, unend­lich fragwürdiger, problematischer. Statt klar leuchtend über ihm zu stehen, bilden sie sich schwer und ringenden im verworrenen Leben, von dem er selbst Teil ist. Göttliches, das dennoch immer empfunden wird, wird nicht mehr vom Men­schen angeschaut, sondern von ihm selbst geboren. Darum be­trachtet der heutige Mensch es mit jenem verwirrten Zweifel an seiner Realität, der uns allem Selbsterschaffenen gegen­über beschleicht. Und doch sucht er es, wie einst der Mystiker seinen Gott suchte, sehnt sich, daß es in ihn einkehre, ringt darum mit aller Leidenschaft seines Geistes und weiß um seine Notwendigkeit für eine wahrhaftige Erkenntnis, ein ge­treues Bild des Lebens. Um so mehr weiß er um diese Notwen­digkeit, je mehr das Göttliche sich ihm verbirgt und verwischt. Durch die ganze geschichtliche Welt hindurch verfolgt er es, um sich die Gewißheit einer Realität zu geben; in jeder großen Gestalt begrüßt er es mit gebeugtem Knie, und der heimlich an ihm Zweifelnde ist der heißeste Anbeter seiner Offenba­rungen.

Denn daß uns die Geschichte breiter erschlossen ist als frü­heren Zeiten und daß wir mehr äußere Mittel besitzen, sie zu erschließen, ist uns nicht der einzige Sporn zu ihr: auch unsere metaphysische Sehnsucht treibt uns in die Geschichte, läßt uns in ihr Formen und Bewährungen des Ewigen suchen. Der Schaffenswahnsinn unserer Zeit, für die Schaffen etwas ganz anderes bedeutet als für alle früheren Zeiten, die schaffen muß, weil sie jene Formen des Absoluten nicht vor dem Leben be­sitzt, sondern sie selbst erzeugen muß, die gestalten muß, weil die Welt leer ist – sieht sich zugleich gewaltsam gehemmt durch jenen Zweifel an der Realität der eigenen Gestaltungen. Die metaphysische Kraft kann sich in diesen Gestaltungen, an die sie nicht ganz mehr glaubt, nicht mehr rein erlösen; der gewal­tige Drang nach Wahrheit, nach »Reinlichkeit«, wie ihn Nietz­sche nennt, gibt dem Zweifel einen Nachdruck, der zerstörend auf das zu Erschaffende wirkt. Das metaphysische Bedürfnis flüchtet sich aus den eigenen Gestaltungen in die Gescheh­nisse, in denen es sichere Realität findet, an die es unbedingt glauben kann, sucht das Übersinnliche, Göttliche in den For­men auf, in denen es sich bereits lebendig verwirklicht hat: in den vorhandenen Werken und Taten nicht nur, sondern vor al­lem in den geheimen Unter– und Zwischenströmen zwischen den Zeiten und ihren Gestaltungen, in den feinen, schwer zu durchschauenden Zusammenhängen zwischen Leben und Werk, Seele und Form, aus denen uns letzte Offenbarungen des Menschlichen, Göttlichen kommen.

Geschichte wird in unserer Zeit, in der alle Träume von einer in ihr geoffenbarten, durchschaubaren göttlichen Logik zer­ronnen sind, vielleicht religiöser empfunden als je zuvor; ihre Geheimnisse werden zugleich als für uns unauflösbarer und in sich klarer, ihre Geschehnisse als unendlich tiefere Verschlin­gungen verborgener Mächte verehrt. Indem man ehrfürchtiger sie zu entwirren sucht, indem man, statt ihnen ein Schema von außen aufzudrücken, sie aus sich selbst, aus ihren eigenen Zu­sammenhängen zu begreifen oder sich ihnen verstehend anzu­nähern sucht, wurde die Notwendigkeit des geschichtlichen Geschehens in einem anderen immanenteren Sinne begriffen: nicht als ein Vollzug von außen gegebener Normen, sondern als das uns Verhüllte, das, wenn wir alle Fäden, aus denen es sich zusammenspann, zu erkennen, zu verfolgen vermöchten, uns seine Unabwendlichkeit enthüllen müßte. Und wenn an dieser Geschichtsbetrachtung dem modernen Geist die Relativität und Bedingtheit alles Geschehens und Erkennens schmerzhaft aufgehen mußte, so entwickelte sich an ihr zugleich um so lei­denschaftlicher die Ehrfurcht und Bewunderung für die großen Augenblicke und Gestalten, in denen ein unfaßbares Absolutes in der gebundenen und festgelegten Geschichte durchbricht. Wie wir modernen Menschen als das Ziel und Licht der aus so dunklen und vielfachen Geschehnissen verschlungenen Ge­schichte das menschliche Große begreifen lernen, wie für uns über den Stil und die Leistung einer Zeit die des großen Indivi­duums sich erhebt, so begreift auch unsere Zeit mit einer neuen Klarheit den Zusammenhang zwischen dem dunklen Strom der Geschehnisse und der in sich ewig unauflösbaren Größe ei­nes Individuums und damit zugleich den Weg der einzelnen menschlichen Erscheinung aus dem ihr gewordenen Lebens­chaos zur menschlichen Wesenhaftigkeit.

»Von den Zufällen zur Notwendigkeit, das ist der Weg jedes problematischen Menschen Dieser Weg ist es, der in dem Buch von Georg v. Lukács »Die Seele und die Formen« mit Lei­denschaft und Tiefe an bedeutsamen heutigen und vergange­nen Erscheinungen verfolgt wird – aber nicht nur an den einzel­nen Erscheinungen, die ihm immer nur Illustrationen typischer Wege der Seele zum Absoluten sind. Denn »der Kritiker ist der, der das Schicksalhafte in den Formen erblickt, dessen stärkstes Erlebnis jener Seelengehalt ist, den die Formen indirekt und unbewußt in sich bergen. Die Form ist sein großes Erlebnis«. Es ist das Buch eines Kritikers – aber eines Kritikers in jenem allerweitesten Sinne, der hier bezeichnet wird: eines Durch­schauers der Formen bis in die Wurzel ihres Entstehens, eines Anbeters der Form als der menschlichen Erlösung und Er­schließung zugleich. Er spricht nicht über die gestalteten Dinge, er formt an ihnen neue Erkenntnisse von Gestaltungs­weisen. Oder umgekehrt: sie bieten sich ihm als Bewährungen seiner Erkenntnisse vom Gestalten: vom Weg der Seele zu den Formen. In die Problematik dieses Weges, der unsere Lebens­frage ist, leuchtet dies ernste und einsame Buch hinab. Die geschichtlichen Erscheinungen werden von einem ganz mo­dernen, ganz sehnsüchtigen und um Wirklichkeit ringenden Geiste betrachtet. Und dieser moderne, kritische, um jede Le­bensfestigkeit verarmte Geist steht einer Erscheinung nahe, die ihn am vollkommensten auszuschließen scheint: er steht nicht fernab von der Mystik. Man könnte sein Buch das Buch eines modernen, eines glaubenslosen Mystikers nennen; denn es kreist rein um den Weg der Seele zum Absoluten. Eine andere Seele als die jener großen Zeit, in der die Seele diesen Weg als ihren Lebensinhalt, sein Beschreiten als ihre Funktion, ihr le­bendiges Atemholen selbst erkannte und damit zugleich das Absolute als den eigentlichen Gott der Seele setzte und glaubte – eine andere Seele müht sich hier einem anderen Absoluten entgegen. Die verlassene Einzelseele, die nicht mehr in ihrem kleinen isolierten Spiegel ein Absolutes in seiner gigantischen Gottesform aufzufangen vermag, strebt einer von Gott verlasse­nen Göttlichkeit des Lebens zu.

Die verzweifelte Tragik der modernen Seele auf ein Ziel hin, dessen Inhalt ihr entschwunden ist, geht unausgesprochen durch dieses Buch. Sie ist es, die den nach der Wirklichkeit des Gesuchten Sehnsüchtigen, dem seine Ehrlichkeit verbietet, daran zu glauben, wie seine Überzeugung ihm gebietet, es zu suchen, in das Leben, in die Geschichte als in seine eigentliche Heimat weist. Das Leben und die geschichtliche Welt sind ihm mit einer unendlich größeren Intensität gegeben als dem gläu­bigen Mystiker vergangener Zeiten: wo sie diesem ein gleich­gültiger oder zu überwindender Durchgang zum Ewigen wa­ren, da sind sie ihm das, in dem sich das Ewige erzeugt, in dem er selbst es zu erzeugen hat: Stoff zur Gestaltung, Kraft zum Ge­staltetwerden. Wie sein einziger Weg zum Absoluten die Bear­beitung des Lebens selbst ist: Formung des Lebens im Leben oder im Werk – so werden ihm zugleich die von Menschen er­zeugten Formen, die er überblickt, die einzigen Zeugnisse der Göttlichkeit des Lebens. Die Form, die für die früheren und im Grunde für alle Zeiten nichts als »der kürzeste Weg, die ein­fachste Art zum stärksten bleibendsten Ausdruck« sein kann, ist für den glaubenslosen Mystiker von religiöser Bedeutung ge­worden. Der Seele, die ihre eingeborene Richtung: den Weg zum Absoluten, zu allen Zeiten realisieren muß – gleichviel, ob sie das Ziel bereits im Glauben besitzt oder daran zweifelt – ist das letzte erreichbare Ziel die reine Notwendigkeit des eigenen Welterfassens: die Form in jedem Sinn geworden. Und damit werden die Formen zugleich zum reinsten Ausdruck der Seele, aus der Erlösung zur Erschließung.

Ungeheuer und zart zugleich sind die intellektuellen Tragö­dien der modernen Seele auf ihrem Weg zur Form. Unserem verworreneren Leben, das nicht vorweg durch bestimmte klare Bindungen gestaltet und darum an sich ganz formlos ist, steht die Form als etwas zugleich viel intensiver Erstrebtes und viel schwerer zu Erreichendes gegenüber – sei es die Form im Le­ben, sei es die im Werk. Das Leben für die eigene Form, das die eigentliche Lebensform der heutigen geistigen Menschen ist, birgt Unerträgliches, ist ein bewußtes Speisen der eigenen Kraft aus der eigenen Kraft – ein Kreisen um die eigenen Möglichkei­ten, dem nur die ganz Großen gewachsen sind. Dennoch ist dies unser Schicksal und unser notwendiges Schicksal, weil wir so viel mehr der Form bedürfen als alle früheren Zeiten und zu­gleich so unendlich gewaltsamer um sie werben müssen. Ver­zweifelte und große Gestalten wie die Kierkegaards, Novalis', Stefan Georges treten auf, um die intellektuellen Tragödien des modernen Menschen zu illustrieren – die Tragödien einer Zeit, in der alles ungreifbar, haltlos, gegenstandslos wird, in der Wort und Tat sich zu Blick und Geste verflüchtigen, in der das Genie aus dem Leeren in das Leere gestalten muß und seine ei­genen Gestalten sich als sein einziges Gericht über ihm erhe­ben. Die überströmend reiche und gebrechlich zarte Kunst Beer–Hofmanns, seine aus dem lustigsten Impressionismus ge­borene pantheistisch leuchtende Einbeziehung alles Zufälligen in die ewige Notwendigkeit des Geschehens: die Monumental­werdung des Zufalls mit all seinen Schauern und Erschließun­gen und das harte Ringen um den Stil dieser ungreifbaren Of­fenbarungen taucht wie eine noch halb verschleierte und doch schon selig leuchtende Insel aus den Wellen der modernen Träume und Hoffnungen herauf. Ihm gegenüber steht die stille romanische Schlichtheit und Vollendung des Charles Louis Philippe, die das Innere der Seele einzig in den klaren und har­ten Konturen der äußeren Wirklichkeit zeichnet. Auch diese einander widerstrebenden Erscheinungen sind um das gleiche Ziel geeint: auch sie Zeugnisse der modernen Seele auf ihrem Weg, zu Form und Reinheit. Jede dieser Gestalten ist in diesem Buch für sich und als ein besonderes Problem gestellt; aber die sie isolierende Form des Essays läßt hier die einzelnen Gestal­ten nur klarer und selbständiger von einem gemeinsamen Grunde sich loslösen; denn nirgends sind die Gestalten um ih­rer selbst willen aufgezeichnet, immer sind sie nur Phantasien, Variationen über das Thema der Beziehung der Seele zur Form und der Form zur Seele, nirgends hintergrundlose Plastik, im­mer einheitlich belebtes, durch einen gemeinsamen Grund, ei­nen gemeinsamen Rhythmus verbundenes Relief. – Und selbst wenn wir nicht hinsichtlich aller einzelnen Erscheinungen, die Lukács als Träger seiner Überzeugungen von der Form und vom Weg zur Form vor uns aufleben läßt, uns mit ihm einver­standen erklären können, so werden uns darum diese Überzeu­gungen und das Leben, das er seinen Gestalten gibt, nicht we­niger bedeuten.

Umspannt ist das Buch von den beiden Abhandlungen über den Essay und über die Tragödie, den Essayisten und den tragi­schen Menschen – diese beiden heterogensten Formen der Kunst und des Menschen. Mit vollendeter Klarheit und Kraft sind hier die Lebensformen und Seelenformen geschieden: die seelische Art des Menschen, der in der Wirklichkeit, im Leben, in den Dingen lebt und sein Schicksal und sein Heil, sein Ge­richt und seine Ewigkeit aus ihnen selbst empfängt, und die Art dessen, der allein in den Zusammenhängen der Dinge, in den Begriffen lebt, des sokratischen, platonischen Menschen, des­sen nicht weniger bewegtes und reiches Schicksal sich allein in der Reihe des Geistigen abspielt. Und ebenso klar enthüllt sich als das Ergebnis dieser Schicksale die Form, die der Mensch der Tragödie im konkreten Leben, der des Essays jenseits des Lebens, im Abstrakten, im Erschaffenen findet. Und wiederum scheidet sich vom Essayisten, vom Kritiker im tiefsten und wei­testen Sinne, von dem, der immer hinter die Dinge greift und allein ihre Bedeutung zu erfassen sucht, der Dichter, der die Dinge selbst sieht und wiedergibt und darum in den Bildern der Dinge statt in ihrer Bedeutung lebt – und ebenso auf der ande­ren Seite vom tragischen, einzig im Leben selbst formenden Menschen der tragische Dichter, der das Leben dieser Schick­sal formenden Menschen formt, wie der Kritiker das menschli­che Leben überhaupt.

Alle diese scheinbaren Abstraktionen – deren Mischung im realen und namentlich im heutigen Leben klar erkannt und ausgeformt ist – sind im Tiefsten konkret, weil sie niemals nachträglich sind, sondern immer von dem reden, was allen einzelnen Ausgestaltungen des Lebens und der Kunst schon zu Grunde lag, was als ihr formendes Prinzip vor ihnen da war. Sie alle tragen das Licht der Idee in die einzelnen Formen, Werke und Gestalten, das alles Existierende mit der selbstverständli­chen Reinheit der letzten Forderung erleuchtet. So erfüllen diese Essays rein die Forderung, die in ihnen selbst an den Es­say gestellt ist. »Die Idee ist der Maßstab alles Seienden: darum wird der Kritiker, der ›bei Gelegenheit‹ von etwas Geschaffe­nem dessen Idee offenbart, auch die einzig wahre und tiefe Kri­tik schreiben... Es muß gar nicht ›kritisiert‹ werden, die Atmo­sphäre der Idee genügt, um es zu richten

Und darum erhebt sich in diesen Essays über alle einzelnen Formen immer wieder die Form. Ihrem Wesen und ihrer Be­ziehung zur Seele müssen alle Darstellungen einzelner Wege zu ihr dienen. Sie, die als die Erlöserin des Glaubenslosen, des im eigentlichen Sinne problematischen Menschen erkannt und verehrt ist, ist wiederum für sich als Problem der Seele gegen­übergestellt. Es »kann nur die bis ins Ethische rein gewordene Form – ohne deshalb blind und arm zu werden – das Dasein al­les Problematischen vergessen und es für immer aus seinem Reiche verbannen«. Aber alle Probleme der Menschennatur spiegeln sich in der Form, und wie sie allein unsere Probleme aufnimmt und löst, als das Gereinigte und Erlöste der Seele ge­genübersteht, ist auch die Seele immer neu aufgerufen, die Probleme der Form in sich zu empfangen und zu lösen.