Die geistigen Tragkräfte des modernen
Kollektivismus
In: Neue
Wege 33, 1939
Dieser vor mehr als zweieinhalb
Jahren vor den Freunden der Neuen Wege gehaltene Vortrag konnte aus
verschiedenen Gründen nicht früher im Druck erscheinen. Nach dem Buche
Rauschnings „Die Revolution des Nihilismus“, das, wenigstens in einer Hinsicht,
sich mit diesem Aufsatz berührt, könnte heute die Veröffentlichung als
verspätet erscheinen. Es kommt aber in dieser Arbeit auf etwas anderes an als
in dem Buche Rauschnings: nämlich auf die Aufweisung und Klärung der geistigen
Grundlagen des heutigen Geschehens in sich selbst, nicht wie dort auf ihren
Ausdruck in der politischen Wirklichkeit.
Wenn ich Ihnen von den geistigen
Tragkräften des Kollektivismus, vor allem des nationalistischen Kollektivismus,
spreche, so denke ich selbstverständlich nicht an die Blut- und Rassentheorien,
etwa an Rosenbergs „Mythos des zwanzigsten Jahrhunderts“ oder an die zahllosen
ähnlichen, einen wahnhaften Nationalismus begründenden Bücher. Denn alle diese
Bücher stehen zwar Schwarz auf Weiß gedruckt; aber Geist sind sie darum noch
nicht; sie sind lediglich Waffen im politischen Machtkampf: Politik und
Propaganda.
Die geistigen Tragkräfte, von
denen ich Ihnen sprechen möchte, sind vielmehr sehr ernst zu nehmende
Erscheinungen. Es sind Anschauungen verschiedener Art, die aus denselben
Zeitverhältnissen hervorgegangen sind, wie die Faschismen, die Spuren dieser
Zeitlage unverwischbar an sich tragen und, indem sie sich ihr nicht
entgegenwandten, sondern sie gestalteten, deuteten und in dieser Gestaltung und
Deutung vertieften, dem Faschismus in jeder Gestalt neben sich Raum gegeben und
ihn geistig unterbaut haben. Es ist nicht Konjunkturphilosophie; denn alle
diese Gebilde und Deutungen sind vor der Machtergreifung, wenigstens des
Nationalsozialismus, entstanden, gleichzeitig mit den anwachsenden Faschismen.
– Die Zeitgrenze dieser neuen geistigen Einstellung ist in der geschichtlichen
Wirklichkeit selbst als ein tiefer, abgründig tiefer Einschnitt gegeben: es ist
die des Weltkrieges. Der große Krieg
ist die Wasserscheide zwischen den Welten, von der aus alle, zum Teil auch
vorher schon bestehenden Strömungen des Lebens und Denkens die entgegengesetzte
Richtung nehmen.
Um die Richtung, die das neue
Denken genommen hat, zu klären, müssen wir uns noch einmal kurz die Lage bei
Kriegsende vergegenwärtigen. Eine grenzenlos ernüchterte und verstörte
Generation kam in allen Ländern aus dem Kriege zurück. Sie hatte den
Zusammenbruch und die Hohlheit aller noch eben bestehenden Werte und Ziele im
Kriege erlebt. Und nicht, wie man während des Krieges erwartet hatte, öffneten
sich dieser Generation nach dem Ausfall ungezählter Menschenleben die von ihnen
verlassenen Stellungen; sondern wie durch einen teuflischen Spuk geschah das
genaue Gegenteil: die Heimat verschloß sich den Zurückkehrenden wie eine Mauer;
für die Masse der ins Land zurückflutenden Truppen gab es in den durch den
Krieg zerrütteten Ländern und Betrieben keine Stellungen mehr; und die im Krieg
erprobte Herrschaft der Maschine verdrängte zugleich immer mehr menschliche
Kräfte. Ein Heer von Arbeitslosen erfüllte die Länder. Und aus der grellen
Ernüchterung, dem grauen Zynismus, vermischt mit dem Gefühl der Unwirklichkeit
des Lebens in den eben erst dem Tode Entronnenen, entsprang ein wilder,
ausgelassener Rausch und Taumel. Es war Karneval und Aschermittwoch zugleich.
„Esset und trinket, denn morgen seid Ihr tot“, das war die Lehre, die eine
verwilderte, um ihr Leben betrogene, von der Todesnähe und den Greueln des
Krieges zerstörte, aus Arbeit und Beruf gerissene und von ihnen nicht wieder
aufgenommene Generation aus der absoluten Ziellosigkeit und Sinnlosigkeit ihres
Daseins schöpfte. Nun raste mitten aus dem Kriege heraus zügelloser tanz durch
alle Lokale, nun wurde der Körper in
jedem Sinne: in Tanz, Sport und Spiel, in jeder Art von Genuß anstelle des
versunkenen Geistes und der verlorenen Seele als einziger Sinn des Lebens aufgestellt. Zuerst war alles nur Taumel
und Raserei mit geschlossenen Augen. Dann brach die kahle Hoffnungslosigkeit
sich immer mehr Bahn. Zahllose Existenzen standen vor dem Nichts, zahllose
stürzen in das Nichts ab. Der Selbstmorde, der Zusammenbrüche war – vor allem
in Deutschland – kein Ende. Das Einzelleben verlor jeden Wert und Sinn; denn es
hatte seinen Ort und seine Aufgabe verloren; es zählte einfach nicht mehr. Und
zugleich sank der Boden tiefer und tiefer ein. Mit dem beispiellosen Zerfall
aller Realwerte, wie er in der galoppierenden und gigantischen Entwertung der
deutschen Währung einen ebenso wirklichen wie symbolischen Ausdruck fand, ging
der fortschreitende Zerfall aller sittlichen und geistigen Werte unmittelbar
Hand in Hand. Die Jugendbewegung, diese bei aller Lautheit greisenhaft
hoffnungslose Bewegung, die in Ermangelung jedes Wertes und Gehaltes die Jugend
selbst, das bloße Jungsein, als Banner über sich aufpflanzte und die in ihrer
kleinbürgerlichen Unbürgerlichkeit nicht ohne Einfluß auf die spätere Gestaltung
der deutschen Wirklichkeit blieb, bedeutete im Grunde nichts anderes als die
totale Absage an eine Generation, in deren Zusammenbruch sie sich selber fand.
Die große Romankunst der Nachkriegszeit, vor allem die angelsächsische: die
amerikanische und englische, aber auch die der meisten anderen großen
Kriegsländer, gibt ein großartig grauenvolles Bild dieser zerfallenden Welt. In
allen diesen Romanen ist das Leben in den verschiedensten Gestalten als die
bloße Maske des Todes gezeichnet; überall blicken Nacht und Tod und alle Mächte
der Zerstörung herein und steigern den Rausch des bloßen, besinnungslosen
Lebens. Die Dichter Joyce, Lawrence, O’Flaherty, Hemingway und viele andere
ihnen nachfolgende haben, jeder auf seine Weise, diesen totalen Verfall der geistigen
Wirklichkeit dargestellt.
Der Hauptgegenstand der
angelsächsischen Romane ist der radikale Verlust des Wortes als eines Verständigungsmittels zwischen den Menschen, so
daß nun nicht mehr die Geister und Seelen, sondern nur noch die Leiber sich begegnen
können. Am radikalsten hat der amerikanische Dichter Hemingway diesen Verlust
des Wortes in der Nachkriegszeit ausgesprochen, indem er einen seiner Helden
sagen läßt, daß nach der Entweihung, Entwertung aller Worte durch den Krieg
eigentlich nur noch Eigennamen, Straßennamen, Ortsbezeichnungen ihre Wahrheit
behalten haben, weil nur sie eine noch bestehende Wirklichkeit ausdrücken. – So
ist diese große, trauervolle Kunst in gewissem Sinne mit zu den geistigen
Stützen des Faschismus geworden; denn sie hat, indem sie den Weltzerfall in
seiner Wahrheit in eindringlichsten Formen zeichnete, dadurch zugleich mächtig
an diesem Zerfall mitgearbeitet. Ihre Wirkungen im Leben der neuen Generation
sind kaum abzumessen, und viele der neuen Nihilismen gehen auf sie zurück.
Ich gebrauche des Wort Nihilismus, d. h. Bejahung des Nichts, Bekenntnis zum Nichts. Denn wenn
man unsere Zeit überhaupt, so wie sie sich vom Kriege an darstellt,
charakterisieren will, so drängt sich uns von überall her das Wort auf: Nichtigkeit oder Nichts. Alles Etwas ist in ihr im tiefsten Sinne fragwürdig
geworden. Aller Sinn, alle Bedeutung scheinen in ihr erloschen; die Dinge sind
dunkel und leer geworden; alles taucht in wachsendem Maße in den Schatten der
Weltstunde ein. Es ist, als verbliche und zerfiele die Welt als Schöpfung immer
mehr, als würde das Siegel Gottes auf den Dingen von Tag zu Tag unsichtbarer.
Der wachsenden Vernichtung der
menschlichen Gesichter, der wir
überall begegnen, entspricht in nicht minder beängstigender Weise der verloren
gegangene Blick für das
Menschengesicht. Das zeigt sich im Schicksal der Einzelnen wie der Völker. Aber
nicht nur in den heutigen Gesichtern, auch in den heutigen Gestalten finden wir
keine Festigkeit mehr. Das sehen wir am deutlichsten an den Figuren der Männer,
die die Völker über ihr Schicksal entscheiden lassen. Wie Marionetten, die an
ihren Fäden nicht richtig festgehalten werden und so fortwährend wanken,
schwanken und umfallen, bewegen sich die einen, wie leere Schattenbilder
bewegen sich die anderen vor uns auf der Bühne des Lebens hin und her, und ganz
andere Wirklichkeiten als jene, die sie zu vertreten vorgeben, scheinen durch
ihre transparenten Erscheinungen hindurch. Gibt es nicht vollends in unserer
Welt eine Gestalt, die deutlich an die Figur einer spanischen Legende erinnert,
in der ein Ritter in schwarzer Rüstung mit geschlossenem Visier, dessen Antlitz
nie ein Mensch gesehen hat, mit ungeheurem Lärm und Getöse lange Zeit durch
eine blühende Gegend tobt, alles verwüstet, was ihm in den Weg kommt, und ganze
Horden von Menschen in die Flucht schlägt – bis eines Tages ein einzelner,
wahrhaft tapferer Ritter im Namen des Kreuzes auf ihn eindringt, sein Visier
gewaltsam öffnet und die Rüstung – leer findet?
Diese Legende zeugt aber noch von
etwas anderem als von dem Lärm, den das Nichts um sich her zu verbreiten
vermag: sie lehrt auch, daß es falsch wäre, zu glauben, das Nichts sei ohnmächtig. Sie lehrt im Gegenteil,
welche ungeheure, verheerende macht das Nichts in einer Welt gewinnen kann, in
der es nicht als solches entlarvt, durchschaut ist. Und mehr noch: man
begreift, wie allüberwältigend diese Macht anwachsen muß in einer Welt, die diese Entlarvung um ihrer Interessen willen
nicht will und gar nicht wollen kann.
So gesellt sich zu den
schwanken Gestalten, deren Visier niemand zu öffnen wagt, mit Notwendigkeit die
eigentliche Dienerin und Vollstreckerin des Nichts: die Lüge. Sie, die alle Wahrheit und Wirklichkeit grundsätzlich
verneint und aufhebt, hat, indem sie in unserer Welt in einer vor dem Kriege
gar nicht vorstellbaren Umfänglichkeit und Schamlosigkeit gehandhabt, von der
Technik in phantastischen Ausmaßen unterstützt und durch die Welt getragen
wird, die ganze Wahrheit und Wirklichkeit unseres Lebens unterminiert und
bereits zum größten Teil in die Luft gesprengt.
So ist die letzte Grundlage des
Faschismus überall das Nichts. Wie aber ist es denkbar, daß der Geist einer
solchen Wirklichkeit seine Dienste geleistet, ja, daß er sie mit erzeugt hat?
Es wäre unmöglich, wenn er nicht selbst so tief in sie hineingezogen wäre. Auf Wahrheit in dem Sinne, in dem wir sie
bisher verstanden, kann sich dieser Geist nicht stützen; und wirklich hat sich
auch der Begriff der Wahrheit in unserer Zeit – und zwar auf allen
Wissensgebieten – entscheidend verändert. Ruhte dieser Geist einfach auf der
Lüge, so lohnte es weder ihn zu betrachten, noch hätte sicher trotz allem eine
ganze Generation, hätten Generationen ihm zum Opfer fallen können. Es handelt
sich um etwas weit Gefährlicheres, um ein Denken und Erkennen, dem der Boden
der Wahrheit unter und Füßen fortgezogen ist und das sich zu dieser
Boden-losigkeit im wahrsten Sinne des Wortes bekennt, dem darum die Wahrheit selbst letzthin nichts anderes
bedeutet als die Einsicht in das Nichts, in dem wir stehen.
Es mag schon ähnliche Zeiten
des Nichts und der Vernichtung gegeben haben wie die unsere. Vielleicht war der
Untergang des großen Römerreiches – wenn auch in weit weniger gewaltigen
Dimensionen – eine ähnliche Zeit. Niemals und nirgends aber – das können wir
aus allen geistigen Zeugnissen aller Zeiten entnehmen – hat es eine solche Einsicht in das Nichts und ein so
schrankenloses Bekenntnis zum Nichts
gegeben wie in unserer Welt. Allen Theorien, allen Systemen unserer Zeit liegt
– ausgesprochen oder unausgesprochen, meist aber in voller Klarheit – das
Nichts und das Bekenntnis zum Nichts zugrunde.
Um mit diesem Nichts eine
genaue Vorstellung zu verbinden, müssen wir uns aber zunächst über seine Art
klar zu werden suchen. Denn das Nichts ist an sich ein uralter, ehrwürdiger
metaphysischer Begriff – so alt wie die Menschheit selbst. Immer bedeutet es
die Grenze unseres Daseins. Denn sehr
schnell stößt ja unser kurzes, vergängliches Menschendasein in Raum und Zeit,
in Leben und Erkennen an die Grenze des Nichts und des Todes, die für unser
irdisches Dasein das Nichts ist. Überall, wo wir von uns aus ein Ganzes zu
ergreifen streben (und dies Verlangen nach einem Ganzen ist dem Geist trotz der
Kürze und Beschränktheit unseres Lebens unsterblich mitgegeben; ja: dies
Verlange ist überhaupt der
menschliche Geist) – überall da stoßen wir an die Grenze des Nichts. Unser
Leben wie unser Erkennen ist ein winziger beleuchteter Ausschnitt in einer
großen uns umgebenden Dunkelheit von Nichts und Tod.
Darum ist keine große
Weltdeutung oder Weltdarstellung je ohne das Nichts ausgekommen. In der Bibel
liegt es als Chaos der Schöpfung der Welt voran. Durch die Schöpfung Gottes
aber und durch seine Offenbarung ist es ursprünglich überwunden; und es in
jedem Einzelleben aus der Kraft der Schöpfung und der Offenbarung neu zu
überwinden, ist in ihr als Aufgabe und Sinn des menschlichen Daseins gesetzt. –
Ganz anders steht es nun aber mit der größten und in sich geschlossensten
Konzeption des Nichts, die wir kennen: mit der alten Inder: der Buddhas, die
ich hier streifen muß, weil in ihr das Nichts eine positiven Sinn für das Leben des Menschen hat. Dem Auge, das, in
die letzten Tiefen schauend, den Tod gesehen, dem das Nichts sich gezeigt hat,
dem enthüllt sich von dort aus alle Wirklichkeit der Erdendinge als bloßer,
täuschender Schein, als ein bunt und verlockend gewebter Schleier, hinter dem
als Wahrheit das große All-Nichts steht. Aber aus der Einsicht in die
Scheinhaftigkeit der Dinge, aus dem ihnen als ihrer Wahrheit zugrunde liegenden
Nichts erwächst nun dem Menschgeist eine gewaltige Aufgabe: die Aufgabe, die Welt unserer Erfahrung, die die Menschen
so unendlich mit Lust und weit mehr mit Schmerz bedrängt, immer mehr als
täuschenden Schein zu durchschauen, sie wie einen Traum abzustreifen, um aus
ihm zu immer vollkommenerer Klarheit zu erwachen. Dieser Weg der Durchdringung
des Scheins bis zum Erlöschen aller Sinnendinge, zum Erwachen zur Wahrheit ist ein einziger streng
geordneter und gestufter Läuterungsprozeß des Menschen. Denn der Weg zum Nichts
ist hier zugleich als der Weg zur Wahrheit, der zur Vollkommenheit, zur
unendlich schwer zu erreichenden menschlichen Vollendung führt. Vom Nirwana her, das nicht nur das Nichts,
sondern auch die Wahrheit, nicht nur Erlöschen, sondern auch Erlösung bedeutet,
weht Reinheit, Entsühnung, Verklärung in das menschliche Leben. Und mit tiefer
Klarheit und Frommheit gestaltet sich von dieser großen Lichtquelle aus auch
das Leben der Gemeinschaft.
Hat man einen Blick auf diesen
Nichts geworfen und kehrt man in unsere Welt zurück, so befällt einen erst das
ganze Entsetzen vor dem, was das Nichts in unserer Welt bedeutet. Denn dies
Nichts ist ja nicht Klarheit, Wahrhaftigkeit, Entwirrung und Vollendung,
sondern es ist Verfinsterung, Lüge, Auflösung, Zersetzung, Verlust aller Werte,
aller Maßstäbe und Gesetze, ein Absturz in das nicht mehr Greifbare. Es ist das
Nicht einer Welt, in der das Jenseits von Gut und Böse, das Nietzsche als
geheime Lehre für einige wenige geistesstarke und zutiefst vornehme Menschen
aufgestellt hatte, die volle, entsetzliche Wirklichkeit Aller geworden ist.
Es ist nun eingestandenermaßen
das Wesen des Faschismus – zumal in Deutschland ist das immer wieder
ausdrücklich ausgesprochen worden – , daß er auf dem Nichts erwächst, daß er
dies Nichts vollzieht, indem er es
freilich zugleich teilweise überdeckt. In Ursprungsland des Faschismus: in Italien, ist es neben dem Franzosen
Sorel, dem geistigen Vertreter des absoluten Machtgedankens (in einem
konkreteren politischerem Sinne als bei Nietzsche), ein Dichter gewesen, der dieser Denkweise ganz real vorgearbeitet und
den heutigen Faschismus mitbegründen hat: Gabriele d’Annunzio. Indem er, der
selbst eine Stadt erobert hat, einen rauschhaften dichterischen Enthusiasmus
der Vaterlandsliebe, einen schrankenlosen nationalen und persönlichen Egoismus
in eins mit dem politischen Machtgedanken verkündet hat, hat er das begangen,
was ein bedeutender Franzose, Julien Benda, bald nach dem Kriege in einem Buch,
das ein Gericht über die Intellektuellen der Nachkriegszeit ist, „La trahison
des clercs“[i] genannt hat. Die italienische
Philosophie dagegen hat in ihrem weitaus bedeutendsten Vertreter Benedetto
Croce diesen Verrat der Geistigen nicht begangen; er ist, obwohl, gewiß
andererseits auch weil, Nachfolger
Hegels, der großen Tradition des europäischen Denkens treu geblieben. Geringere
Erscheinungen, die dem Faschismus erlegen sind, interessieren uns hier nicht;
denn nicht das Denken, das dem Faschismus erlegen ist, sondern das, das ihn
mitbegründet und trägt, kommt hier in Frage.
Als eigentlicher und sozusagen
klassischer Vertreter der faschistischen Philosophie Italiens tritt uns nun
kein Geringerer entgegen als Mussolini
selbst. Wir besitzen von ihm eine knappe Zusammenfassung der heutigen
italienischen Philosophie „La dottrina
del Fascismo“.[ii] Es ist der Grundgedanke dieser
Philosophie, daß der Mensch außerhalb der Geschichte – wie es zunächst
ausgedrückt wird – nichts, wirklich nichts ist. Der Einzelne, das Individuum,
erhält hier wie in jeder faschistischen Denkweise seinen Abschied als ein
Begriff, eine Fiktion des verpönten 19. Jahrhunderts und seiner Ideale: des
Liberalismus und Idealismus. Es ist ein überaus lehrreiches Schauspiel, den
ganz realen Zerfall des Einzellebens, der Individuen als selbständiger
Wirklichkeiten hier als eine geistige
Konzeption wiederzufinden. Denn durchaus behauptet Mussolini, daß der
Faschismus nicht nur ein Regierungssystem, sondern vor allem ein Gedankensystem
„un sistema di pensiero“ sei. Ja, er bezeichnet ihn auch durchaus als eine
ethische Konzeption, und zwar, „insofern er den wesenhaften Wert der Arbeit
anerkenne, mit der der Mensch die Natur besiegt und die menschliche Welt schafft“.
Wie sieht sie aus, diese
menschliche Welt des Faschismus? „Seria, austera, religios, ernst, streng
religiös“, verkündet Mussolini. „Der Faschismus verachtet das bequeme Leben. Antiindividualistisch,
ist die faschistische Konzeption für den Staat und ist für das Individuum,
insofern es mit dem Staat zusammentrifft, Universalbewußtsein und Unversalwille
des Menschen in seiner geschichtlichen Existenz.“ Ja, wir erfahren – wir trauen
unseren Augen nicht – : „Der Faschismus ist für die Freiheit“, nämlich, so wird sofort hinzugefügt: „für die einzige
Freiheit, die eine ernsthafte Sache sein kann: die Freiheit des Staates und des
Individuums im Staat.“
So wird die Freiheit des
Staates, die die vollendetste Unfreiheit des Individuums bedeutet, ohne
weiteres mit der Freiheit des Individuums, wir die menschlich-geschichtliche
Existenz ohne weiteres mit der staatlichen gleichgesetzt. Der realen
Machtergreifung durch den Staat unterschiebt sich die geistige. Der Punkt, in
dem das Individuum mit dem Staat zusammentrifft, gilt als sein allein
wirkliches, geschichtliches Dasein. Und als das „religiöse“ Element diese
„ernsten, strengen“ Dienstes bleibt allein die passive, fraglose Einordnung in den
Staat.
Wir sehen, wie sich hier alle
Begriffe, wie von einem einzigen Wirbel erfaßt, gegen ihre eigentliche
Bedeutung herumdrehen: der des Individuums, der Geschichte, der Freiheit und
damit notwendig der des Ethischen und Religiösen.
Zugleich aber haben wir damit
die Elemente der faschistischen Weltauffassung in der Hand. „Fehlt leider nur
das geistige Band“, könnten wir mit Faust fortfahren. Dafür ist das reale um so
sichtbarer. Denn deutlich können wir erkennen, wie sehr alle Begriffe diesen
Systems der vorliegenden Wirklichkeit unmittelbar entnommen und ihr wiederum
angepaßt sind. Der Mensch, der, von geschichtlichen Mächten überrannt, erfahren
hat, daß sein Einzeldasein keinen Sinn mehr hat, ja, daß es überhaupt nicht
mehr zählt, sieht sich plötzlich als „geschichtliche Existenz“ wieder zu einer
Wirklichkeit, ja zu einem Sinn gelangen. Der Mensch, der jede Bindung an eine
Gemeinschaft verloren hat, sieht sich plötzlich von einem Staat, der ihm
Aufgaben gemeinsamer Art schenkt, aufgenommen. Einer Welt, in der die Arbeit
Sinn und Wert verloren hat, in der es für eine große Zahl von Mensch Arbeit
überhaupt nicht mehr gibt, tritt eine Welt, die sich ausdrücklich eine Welt der
Arbeit nennt (und die ja auch in einer ganz bestimmten Art Arbeit zu vergeben
hat), gegenüber. Einer Zeit, die alle festen Werte und Maßstäbe eingebüßt hat,
wird plötzlich eine strenge Werteinteilung gegeben. Einer Welt, die keine
Hingabe mehr kennt, bietet sich ein Gegenstand der Hingabe bis zur
Selbstaufgabe. – Und zugleich damit wird auf der anderen Seite den Existenzen,
die die Verantwortung für das eigene Leben und das ihrer Nächsten nicht mehr
tragen können, die Verantwortung abgenommen und ihnen eine Scheinverantwortung
auferlegt, die darin besteht, daß in einer bedingungslosen Unterordnung alle
eigene Verantwortung aufgegeben wird, „Consapevole, mitbewußt,
mitverantwortlich“, das ist das immer wieder gebrauchte, zutiefst irreführende
Wort Mussolinis. Denn Mitbewußtheit, Mitverantwortlichkeit sind doch Begriffe,
die in dem totalen Staat, den er allein leitet, ihren Sinn verloren haben. Wohl
aber wird mit diesem völlig ausgehöhlten Wort einer Generation, die die
Ungültigkeit aller bestehenden Ideale durchschaut hat, etwas geboten, das den
moralisch erschöpften Existenzen als eine neue Ethik einleuchten mag. Was
endlich die immer wiederholte Absage an ein bequemes Leben betrifft, so ist
damit doch ganz einfach ein Ausdruck und eine Bejahung der bestehenden Lage
gegeben. Denn das ist ja eben die Lage dieser Generation, daß ein bequemes Leben
für sie nicht mehr möglich ist. So enthüllen sich alle Begriffe dieses neuen
Gedankensystems als aus der empirischen Lage gewonnene reine Dekrete und
zugleich als ebenso viele Köder. Denn Mussolini stellt diese Gedanken nur
einfach auf. Er gibt ihnen nirgends eine tiefere Begründung. Sein
Gedankensystem hängt gedanklich in der Luft. Er schiebt die Begriffe einfach
wie Figuren auf einem Schachbrett willkürlich hin und her. Er ist kein
Philosoph; sein Gedankensystem ist nicht durchdacht.
Darum ist seine Philosophie,
obwohl es die des leitenden Staatsmannes selbst ist, als solche, d. h. rein
geistig gesehen, weit ungefährlicher als die deutsche, in der die faschistischen Grundbegriffe durch und durch
zu Ende gedacht, auf allerletzte Kategorien des Geistes zurückgeführt sind.
Denn dadurch lauert in ihnen für den Geist die weit tiefere Gefahr. Daß aber
diese Begriffe in Deutschland wirklich mit strengem Ernst durchdacht worden
sind, daß so die neu heraufkommende Wirklichkeit mit den Mitteln eines subtilen
Denkens unterbaut worden ist, das wäre nicht möglich gewesen, wenn dies Denken
nicht einerseits vom selben Wirbel des Geschehens erfaßt und um sich selbst
gedreht worden wäre wie die Politik, wenn nicht andererseits dies Denken ein
sehr weites und mächtiges Erbe angetreten hätte, in dem die Auseinandersetzung
mit der wachsenden Weltveränderung schon begonnen und zu einem großen Teil
geleistet war. Ganze Ströme durchdachten Lebens mündeten von allen Seiten in es
ein. Stromweise sind vor allem die Auflösungen
und Vereinungen in dies Denken
eingeflossen. Als Auflösung aller festen Werte und Gesetze wirkte schon die Lebensphilosophie in all ihren ganz
verschiedenen Gestalten, indem sie das sich sinn- und wertfremde Leben anstelle der bisher gültigen
gesetzhaften Vernunft zur Basis des
menschlichen Daseins und Erkennens machte. Dazu gesellten sich als eine noch
unheimlichere Erbschaft die drei großen Analysen.
Als erste die der Gesellschaft, die in Marx,
den bisherigen bürgerlichen Verschleierungen gegenüber, die wahre und zutiefst
fragwürdige Struktur der modernen Gesellschaft aufdeckte und, indem sie damit
den bis dahin unterhalb der Geschichte verborgenen großen Hauptmassen der
Menschen den Eintritt in das Tageslicht des geschichtlichen Daseins erzwang,
diese selbst zum Träger des geschichtlichen Daseins machte und so das
Individuum in wachsendem Maße aus dem Zentrum des Geschehens verdrängte. Als
zweite die Analyse der menschlichen Seele, die, indem sie in Freud gleichfalls ein bisher
verborgenes, dunkles Unterreich des Menschlichen mit seinen Kräften und
Gesetzen erschloß und das Licht des Wissens in das bis dahin nur in Traum,
Mythos und Dichtung geahnte geheimnisvolle Reich des unterbewußten Daseins
fallen ließ, das allein durchforschte bewußte Leben nur als einen Teil, einen
winzigen Ausschnitt des Menschenlebens enthüllte, und so gleichfalls die
Substanz der einzelnen Seele, der persönlichen Ich bis tief hinab auflöste. Als
dritte kam schließlich die phänomenologische Analyse, die ursprünglich, in
ihrem Entdecker Husserl, sich streng
auf die Ergründung des reinen Denkens beschränkte, um von ihr aus zu einem
tieferen Wahrheitsgrund vorzudringen, die dann aber von seinen Schülern und
Nachfolgern immer entscheidender auf die Phänomen der menschlichen Wirklichkeit
angewandt wurde.
Diese drei Analysen strebten
jede auf ihrem Gebiet zu einer neuen Echtheit und Wahrheit des Denkens und
Lebens. Und indem sie sich dann alle mit der Lebensphilosophie wieder
verschlangen, stellten sie gemeinsam in ungeheurer Verdichtung nach dem Kriege
zum erstenmal eine seit langem verstummte Frage: die Frage des Menschen nach seiner eigenen Wirklichkeit.
Es ist selbstverständlich, daß
mit der Frage: „Was ist der Mensch?“, sobald sie in ihrem vollen Ernst gestellt
wurde, auch eine andere, seit langem im Denken verstummte Frage wieder
heraufkam: die Frage nach Gott. Wohl
war diese Frage lange vor dem Kriege von den beiden Blumhardts und vom ganzen
religiösen Sozialismus nicht so sehr als Frage gestellt wie in prophetischem
Geiste beantwortet und in einer gottfremden Zeit mit tiefster Lebendigkeit
gelebt worden. Das weltliche Denken aber, die Philosophie, wußte zu jener Zeit,
in der noch Nietzsches verzweifelter Triumphschrei: Gott ist tot! nachhallte,
nichts mehr von Gott und einer Ergründung des Göttlichen. Und im Kriege gellte
dann der Aufschrei Nietzsches millionenstimmig aus den Tiefen der unseligen
Menschheit selbst auf, ward Gott wie nie vorher in der christlichen Welt zur
reinen, brennenden, schreienden Frage. In dieser Form: als verzweifelte Frage
einer verlorenen Welt wurde sie von einer neuen Theologie aufgenommen, die zwar ursprünglich gleichfalls von
Blumhardts und des religiösen Sozialismus echtem, lebendigem Gotteswissen
ausgegangen war, die aber unter der zerstörenden Gewalt des Kriegs- und
Nachkriegserlebnisses allein noch den Schrei, die Frage vernahm und, indem sei
sich aus ihm heraus einer langen deutschen Denktradition entgegenwandte, sich
schnell und mit großer Wucht auf den entgegengesetzten Weg, in die schroffste
Einseitigkeit des Daseins begab und so erst die gefahrvolle Erbschaft des
deutschen Denkens nach einer entscheidenden Seite hin vollendete. Indem sie die
zu enge Verknüpfung von Göttlichem und Menschlichem in allem Idealismus und
Individualismus gewaltsam löste und mit unerbittlicher Strenge vor allem auf
den erfahrenen, unermeßlichen Abgrund zwischen Gott und Mensch hinwies, hat sie
die Nichtigkeit, das Nichts alles Menschendaseins mit einer weit größeren
Gewalt und Unmittelbarkeit als jede andere Bewegung dieser Zeit enthüllt. Denn
sie hat es unter einem Zeichen getan, das keine der anderen Konzeptionen des
Nichts mehr erblickte und bejahte: unter dem Zeichen und dem Gericht des Kreuzes. Und indem so die Beziehung
zwischen Gott und Mensch in eine ungeheure Fragwürdigkeit eintauchte, hat
zugleich das starre Haften am reinen Wort diese Theologie aus dem Kreise des
Lebens und Wirkens entrückt.[iii]
Es war das Zwingende dieser
Lehre, daß sie Gott, daß sie das Kreuz über einer in schwarze Nacht und
Zerstörung gesunkenen Menschenwelt mit um so größerer Gewalt und Leuchtkraft
wieder sichtbar gemacht hat – fast möchte ich sagen: das Kreuz, aber nicht den
Gekreuzigten. Nicht den im Tode Lebendigen, vom Kreuz Genommenen,
Auferstandenen, unter dem das leere Kreuz als bloßes Zeichen zurücksinkt und
der sich nun als der ewig Lebendige wirkend und fordernd in der Menschwelt zu
erkennen gibt: nicht als den, der gekommen ist, unser Leben umzugestalten –
sondern für unser irdisches Dasein rein als Gericht, als Frage und als völlig
unwägbare, unerreichbare Gnade.
Gewiß war dies Weltbild im
Entsetzen der vom kriege zerrütteten Welt von einer ungeheuren
Überzeugungskraft, der selbst die Passivität, zu der es den Menschen letzthin
verurteilte, mit diente. Gewiß hat es das in einem Meer von Greueln
untergehende Sündenbewußtsein der Menschen wieder erweckt und mächtig gestärkt.
Aber indem es nur dies Bewußtsein
stärkte und die Sünde, die Sündensituation der Menschheit derart als das
unausweichliche Teil der Menschheit zeigte, lähmte dieses Denken, weit mehr
noch als zu seiner Zeit das Luthers, auch wieder das Entsetzen vor der Sünde,
erstickte es jeden Versuch zum tätigen Sich-Entwinden aus dieser entsetzlichen
Lage, jeden Antrieb zur Tat. Denn was ist im Einzelnen noch Sünde, wenn alles
Leben Sündhaftigkeit und Sünde ist? Was ist Krieg, was Mord, wenn jeder Mensch
– wie es der deutsche Theologe Gogarten in zahllosen Wiederholungen
ausgesprochen hat – schlechthin ein Mörder ist, wenn er es so sehr ist, daß zwischen dem virtuellen Mörder, der jeder Mensch
ist, und dem wirklichen Mörder im Angesicht seiner Tat kein Unterschied
besteht?
Mit dem abgründigen Nihilismus,
den diese Theologie so für alles Menschliche heraufgeführt hat, mit ihrer
Entwertung der Entscheidung, mit ihrer Hinnahme und Anerkennung des bloß
Tatsächlichen schuf sie dem Faschismus und jeder Art von Gewaltherrschaft neben
sich Raum. Ja, sie mußte ihm und seiner Vernichtigung des Einzeldaseins
grundsätzlich zustimmen; denn aus dem Gedanken heraus, daß der Mensch als
solcher völlig verloren ist, bejaht sie, wie Luther, den Staat als eine Form
der göttlichen Schöpfungsordnung, geschaffen um der Bosheit der Menschen
willen, damit sie einander nicht völlig wie wilde Tiere in Stücke reißen. Die Wirklichkeit eines Staates: ob er
wenigstens dem Wollen, dem ihm innewohnenden Geiste nach gerecht oder ob er
prinzipiell gegen die Gerechtigkeit gerichtet ist und aller Menschlichkeit Hohn
spricht, entfällt dabei grundsätzlich völlig. Es ist das extreme Wiederaufleben
der Staatskonzeption Luthers, die über die Staatsvergottung Hegels hinweg das
ganze Deutschland politisch ruiniert und die deutschen Menschen von jeder
Verantwortung für ihre gemeinsame Wirklichkeit abgeschnitten hat.
Diese Theologie ist als ein
entscheidendes Element miteingeströmt in diejenige deutsche Philosophie, in der sich alle Haupt- und
Grundströmungen des deutschen Denkens: die Lebensphilosophie, die drei großen
Analysen und eben die negative Theologie selbst wie in einem weiten Becken
gesammelt haben: die Philosophie Martin
Heideggers. Diesem Denker gaben die verschiedenen Denkrichtungen, in die er
hineingestellt war, alle Möglichkeiten zu einer Ergründung des Menschendaseins
in die Hand, wie sie in der Geschichte das menschlichen Geistes so noch nicht
gegeben waren. Heidegger hat der im Schatten des Todes stehenden Generation
zwischen zwei Kriegen: dem eben vergangenen, dessen Folgen noch ihr Leben
verwüsten, und dem kommenden, der ihr durch seins ungeheuerlichen
Vorbereitungen jede Lebenshoffnung nimmt, eine reine Philosophie des Todes und
des Nichts geschenkt. Eines Nichts, das nun nicht mehr vom Kreuz aus gesehen
und so trotz allem vom Strahl einer fernen Gnade gestreift wird, eine Nichts
noch weniger im Sinn des erlösenden indischen Nirwana, sondern eines Nichts,
das – als Überrest und zugleich als Gegensatz einer christlichen Weltanschauung
– das reine, ziel- und richtungslose Nichts schlechthin ist: „die schlechthinige Verneinung der Allheit
des Seienden“, wie Heidegger selbst es bezeichnet hat. Und doch ist in
dieser Welt des Nichts die Spur des
Kreuzes noch sichtbar: es ist die christliche Welt, wie sie nach dem Fortziehen
des Kreuzes über ihr zurückbleibt. Das Kreuz erlischt, die Vernichtigung durch
das Kreuz bleibt. Jeder Blickpunkt außer und über der Welt ist dem Menschen verloren.
Dort, wo als ewiges Zeichen noch eben das Kreuz stand, ist nichts mehr zu
finden. Und doch erkennen wir in den letzten Tiefen dieses Weltbildes deutlich
noch seine vom Christentum bestimmte Struktur.
Was Heidegger zu ergründen
strebt, worauf allein es ihm ankommt, ist das menschliche Dasein. Er nennt es auch mit Kierkegaards Wort die Existenz. Es geht ihm also nicht um ein
abstraktes, losgelöstes Wissen, sondern er sucht wirklich zu verstehen, wie und
woraus der Mensch lebt und wie er leben soll. Auch er begreift – wie schon
Kierkegaard – die menschliche Existenz grundsätzlich als eine geschichtliche,
d. h. als eine solche, die nur als ganz konkrete, in die gegenwärtige Lage mit
allen ihren Bedingungen verwobene und von ihr geprägte zu verstehen ist. Und
von dieser Voraussetzung aus ist es tief bedeutsam, daß dem erkennenden
Menschen dieser Zeit das Menschdasein (das Heidegger selbst freilich doch
wieder als das Dasein überhaupt zu fassen meint) sich enthüllt als gebunden und
bestimmt vom reinen Nichts.
Heidegger hat die Metaphysik,
diese Wissenschaft des Menschen von dem, was über ihn hinausliegt, dies Suchen
des Geistes nach sich selbst und seinen Quellen, bezeichnet als ein „Sich-los-lassen in das Nichts“. Das
Nichts, die Todverfallenheit des Lebens, wird damit zu dem, was allein es
letzthin zu ergründen gilt. Das Nichts ist als das erkannt, was allem
Menschleben vorausliegt und ihm darum die Richtung geben soll. Und das nimmt
nun bei ihm eine seltsame und tiefe Form an. Der Unheimlichkeit und Leere, der
Todverfallenheit und Nichtigkeit des Menschendaseins entsprechend ist sein
Grundgefühl die Angst. Und diese
Angst (die gleichfalls in dem großen Angstbegriff Kierkegaards wurzelt) ist
wiederum ein in seinem Ursprung durchaus christlicher
Begriff. Denn es ist nicht allein die Angst vor dem Nichts, vor dem Leben in steter Gegenwärtigkeit einwohnenden Tod, der es vernichtigt; sondern es ist
die Angst vor dem Nichts in einem sehr viel tieferen Sinne: es ist die Angst
der Existenz um ihren Sinn. Es ist die Angst um den Weg, den
wir zu gehen haben, die furchtbare Angst um das Verfehlthabenkönnen des eigenen
Lebens, ja um die Wahrscheinlichkeit
dieses Verfehlens in der Weglosigkeit und Maßstablosigkeit des Nichts, dem wir
preisgeben sind.
Wie kommt es aber vom Nichts
aus überhaupt zu einem möglichen menschlichen Weg? Etwas zutiefst Christliche
ist in dieser gottverlassenen Welt übriggeblieben: Das Nichts ruft uns. Denn es ist kein bloßes,
abstraktes Nichts, kein bloßer Begriff; es ist ein wirkliches, wirkendes
Nichts, das sich uns offenbart. Das Nichts wirkt; Heidegger scheut nicht zurück
vor dem seltsamen selbstgeprägten Wort: „Das Nicht nichtet.“ Dieses Nichten,
diese Selbstoffenbarung des Nichts äußert sich in unserem Dasein als Anruf aus
der letzten Tiefe des Seins: als Anruf des Todes an das menschliche Gewissen.
Nicht mehr gibt es Gott, nicht
mehr Christus, nicht mehr das Kreuz; alles noch so ferne Heil ist versunken;
nicht mehr gibt es einen bestimmten Gehalt des Lebens, nicht mehr ein klares
Gut und Böse. Alle Maßstäbe sind zerbrochen und verloren. Gott hat in seinem
Sturz die sittliche Weltordnung mitgerissen in das Nichts.
Und doch lebt noch die Sehnsucht nach dem Heil und etwas wie
eine dunkle Verantwortung für das Heil. Denn nicht anders können wir das
Seltsame und geheimnisvolle verstehen, daß aus dem Nichts uns ein Ruf, ein
Anruf kommt, und daß er uns gerade dann
kommt, wenn wir uns ganz „in da Nichts loslassen“. Denn das bedeutet doch: wenn
wir alles, nur täuschend Unsere, alles Vorläufige, alles nur Halbwahre, alles,
was auf bloßer Übereinkunft der Menschen beruht, alles, dem wir im bloßen
Dahinleben verhaftet sind, aufgeben, um den Ruf, der uns ganz allein in unserem
Letzten, Geheimsten, Eigentlichsten: im Gewissen
angeht, zu vernehmen.
Es ist nicht zu leugnen: es
steckt etwas Unerhörtes in diesem Anruf aus dem Schwiegen und der Leere des
Nichts – aber auch etwas ungeheuer Verwirrendes. Es ruft uns, aber niemand
weiß, wer ruft. Niemand kann mir sagen, wozu ich gerufen werde, und doch
vernehme ich den Ruf. Da es aber der Anruf des Nichts aus dem Nichts ist, ist
eines gewiß: was dieser Anruf an unser Gewissen unweigerlich fordert, ist, daß wir vom Nichts – und das bedeutet: vom Tode,
von unserem Tode als dem uns einzig
Gewissen aus – leben sollen. Auch dies ein tief christlicher, ein
säkularisierter christlicher Gedanke. Aber er bedeutet hier eben als
säkularisierter, vom Nichts ganz überfluteter Gedanke doch auch noch etwas
anderes, als daß wir aus dem allein Wesentlichen leben sollen, so wie es einst
von der christlichen Sterbestunde aus mit schwerem, drohendem Ernst gefordert
wurde; er bedeutet auch zugleich das ganz andere, daß wir vom Tode als von der Grenze des menschlichen Daseins aus, d.
h. vom Äußersten des Lebens, von
seinen letzten, verwegensten Möglichkeiten aus unser Dasein gestalten sollen.
Und damit kommt unausgesprochen
– vielleicht unbewußt – ein auflösendes, tief rauschhaftes Element in diese
Konzeption. Das Nichts – so erkennen wir – als letzter Sinn des Lebens birgt
ein Element des Rausches, der Ekstase, des Außer-sich-seins. Auf dem Grund und
Abgrund des Nichts wird alles
möglich. Auf dem Boden des Nihilismus ist von je der wildeste Lebenstaumel
erwachsen. Wo nichts Festes, Bindendes mehr besteht, wo Nichts und Tod allein
leiten, wo jeder feste Standort verlassen ist, da haben Rausch und Taumel ihren
Ort. So erkennen wir hier auch im Denken jene Trunkenheit, Rauschhaftigkeit
wieder, wie sie der in die Unwirklichkeit gesunkenen Nachkriegsgeneration gemäß
ist, wie sie aber auch, bei der eigentümlichen Unwirklichkeit des deutschen
Denkens, in fast jeder großen deutschen Philosophie durchbricht, so daß selbst
ein so rein logischer Denker wie Hegel einmal die vollendete Wahrheit
bezeichnet als den „Taumel der Wahrheit, an dem kein Glied nicht trunken ist“.
So erst, indem in einer ohnehin
dem Nichts verfallenen Welt der geistige Rausch und Taumel mit dem ganz realen
sich mischte, konnte jene wilde, zügellose Wirklichkeitsgestaltung aus dem
Rausch des Nichts entstehen, die in keiner geschichtlichen Zeit ihresgleichen
hat. Derselbe Rausch des Nichts, der die aus dem Kriege Zurückkehrenden in Tanz
und Ausgelassenheit, in Maske und Verkleidung bis hart an die Grenze des
Wahnsinns und oft genug über sie hinausführte, dieser Todesrausch hat in Deutschland
eine ganze Generation in ihrem Leben und Denken, auf der niedrigsten wie auf
der höchsten Ebene geprägt. Gerade unter den Geistigsten, den Suchendsten, die
sich darum am radikalsten von allen Werten der Vergangenheit losgerissen
fühlen, begreifen viele nur ihr radikales Ausgeliefertsein. „Ungeborgene, im
Rasen des Weltwindes Ausharrende“ nennen sie sich selbst, die das Schicksal
ihrer Weltstunde, die Vernichtung und Vernichtigung alles Seienden als ihr
Lebensschicksal auf sich genommen haben, denen die Schrecklichkeit und Leere
des Lebens selbst zu seinem Gehalt geworden ist.
Und doch wird dort gesucht, ja
es wird brennend gesucht. Es wird in der Angst des Herzens, in Furcht und
Zittern philosophiert, wo nicht vorgegeben ist als das Nichts und der Tod.
Diese Generation, die an nichts mehr glaubt, nimmt zugleich nichts hin, sie
läßt sich nichts vormachen, sie will alles sehen, selber sehen; das ist zum
eigentlichen Sinn der Phänomenologie
geworden, die die Methode Heideggers und dieser ganzen Generation ist und die
man vielleicht kurz zusammenfassend Sach-Ergründung
nennen könnte. Da, wo keine Gesetzmäßigkeit, wo keine Idee, kein Wert mehr die
Dinge zusammenhält und erleuchtet, muß jedes Ding in sich selbst erforscht,
durchdrungen, bis auf den Kern ergründet er hellt sein, bis es aus sich selbst
einsichtig wird. Jede Aussage über eine Erscheinung ist immer noch vorläufig;
an jeder haftet noch etwas von der Übereinkunft der Menschen über ihre
Bedeutung; jede will darum in dem, was ihr allein eigen ist, von dem
Forschenden mit dem Einsatz seines Selbst in immer tieferer Prüfung errungen
werden. Denn – und hier leuchtet abermals etwas Großes auf – alles, was in
dieser geistigen Durchdringung erhellt wird, erhellt zugleicht, da wir selbst
es erhellen, unsere eigene menschliche Existenz. Und darum: um
„Existenzerhellung“, das bedeutet: um Erforschung dessen, was das menschliche
Dasein ist, was es als geschichtliches und was es rein in sich selbst ist, geht
es hier letzthin in der Erforschung aller noch so menschenfernen Dinge. So
geben diese Menschen sich jeder Erscheinung des Lebens als einer Erschließung
des eigenen Daseins mit ganzer Seele hin. „Auch nur mit einem Stein ganz zu
leben“, schrieb ein junger Deutscher, „dünkt mich der Mühe und Arbeit eines ganzen
Daseins wert.“
Aber ist das nicht Wahnsinn? –
Es ist unbezweifelbar: Hinter dieser Ergriffenheit, dieser wahren Besessenheit
vom Phänomen, dieser Dämonie des Phänomens, steht letzthin wiederum die tiefe
Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung einer Generation. Denn dieses Denken hat
aller Entscheidung entsagt, ja es schließt sie von sich aus. „Das Leben ist
viel zu schrecklich, als daß man in ihm irgendeinen Wert festhalten oder
feststellen könnte.“ Mit diesem Wort desselben jungen Mannes, das für die Überzeugung
vieler anderer steht, ist eine Situation bezeichnet, in der Entscheidung unmöglich ist. Alles
vorurteilslos, rein in sich selbst, als bloßes Phänomen zu betrachten und zu
ergründen, das ist die greisenhafte Losung dieser jungen Generation, deren
Verzweiflung zum Rausch geworden ist, die jedes Unterscheidungsvermögen und
Entscheidungsvermögen nicht so sehr verloren, wie ausdrücklich aufgegeben hat.
Das ist der geistige
Untergrund, auf dem die heutige Ordnung ungestört ihre Triumphe feiern kann.
Von hier aus wird das Unbegreifliche: wie geistige Menschen, Menschen einer
subtilen Geistigkeit, eine solche Wirklichkeit stützen können, wenigstens
stützen konnten, begreiflich. Aber
noch sind wir nicht am Ende. Der Rest von Christentum, von christlicher Struktur
in der Heideggerschen Weltauffassung mußte vom Nichts aus getilgt werden. Aber
auch kein Heidentum kann eine echte Begründung des Nationalsozialismus sein.
Das haben die Machthaber in ihrer Gegnerschaft gegen den Verkünder des
deutschen Heidenglaubens: Hauer, sehr gut begriffen. Auch das Heidentum ist ja
gläubig, kennt Götter und Göttliches.
All das ist radikal ausgelöscht
in einem deutschen Weltbild, das nicht rein gedanklich formal ist, sondern das
offenbart, wie das Nichts, in der
konkreten Wirklichkeit, als konkrete Wirklichkeit sich darstellt, wie eine Welt
aussieht, in der das Nichts vollzogen und selbst zum Formungsprinzip geworden
ist. Es ist das einige Jahre nach dem Hauptbuch Heideggers, 1932, erschienene
Buch von Ernst Jünger: „Der Arbeiter“. Auch dies Buch ist das
Werk eines wahrhaft bedeutenden Geistes. Es ist ein grandioser Spiegel und eine
grandiose Deutung unserer Zeit als einer Übergangszeit aus einer alten in eine
neue Lebensform bis in jede ihrer Erscheinungen hinein: des Übergangs aus der
Form bis in jede ihrer Erscheinungen hinein: der Übergangs aus der bürgerlichen Welt in die Welt des Arbeiters. Der Arbeiter aber nun nicht
mehr verstanden in irgendeinem bisherigen Sinn, nicht im Sinne einer Klasse,
geschweige denn der Klasse der Unterdrückten, des proletarischen Arbeiters –
das sind alles nur der bürgerlichen Welt entstammende Teilgestalten der alle
Stände und Klassen übergreifenden totalen
Gestalt des Arbeiters, die hier als eine die ganze Welt umformende gemeint und
gewollt ist. Hier handelt es sich um alles andere als um eine Gerechtigkeit
irgendeiner Art; es handelt sich allein um eine totale Welt der Arbeit, um der
Arbeitscharakter, der einer ganzen
Weltepoche seinen Stempel aufprägt und in all unseren Daseinsformen aufzuprägen
schon begonnen hat. „Arbeit“, so heißt es hier in ekstatischen, rauschhaften
Worten, „ist das Tempo der Faust, der Gedanken, des Herzens, das Leben bei Tag
und Nacht, die Wissenschaft, die Liebe, die Kunst, der Glaube, der Kultus, der
Krieg; Arbeit ist die Schwingung des Atoms und die Kraft, die Sterne und
Sonnensysteme bewegt.“
Es bleibt also nichts, gar
nichts außerhalb der Arbeit übrig. Arbeit ist alles. Die ganze Welt, von der
Arbeit der Faust bis zu der der heutigen Wissenschaft, die noch im letzten Kern
des Atoms Arbeit, Aktivität entdeckt hat, und also bis in dies Atom selbst, ist
als ein einziger rasender, hämmernder und zugleich rauschhafter Arbeitsrhythmus
erfaßt. Arbeit ist hier begriffen als uferlose Aktivität, als Kampf, als
Revolution, als Schöpfertum in einem vollkommen außerpersönlichen,
außermenschlichen wie außergöttlichen Sinne. Selbst die Liebe ist nichts
Persönliches mehr: sie ist das „Tempo“ des Herzens, Arbeit, Aktivität. Jünger
geht es allein und einzig um dies: eine neue durchgehende Weltgestaltung aus
reiner rasender Aktivität, die einem neuen Verhältnis zur Sache entstammt und
es ausdrückt. Der Arbeiter, so könnte man sagen, ist der Mensch, der im
Zeitalter der Technik und des Krieges den Erdkreis durch ein neues Verhältnis
zur Sache umschafft.
Dem neuen Verhältnis zur Sache
also begegnen wir auch hier; aber nun gewinnt es ein anderes, ein höchst
konkretes und furchtbares Gesicht. Die restlose Hingebung an die Sache, die
hier herrscht, ist die an eine Sache, die sich selbst gegen den Menschen
herumkehrt und seine bedingungslose Unterwerfung fordert: den Golem der
menschgeschaffenen Technik, dem man den Zettel, auf dem das belebende
Menschenwort steht, aus dem Munde genommen hat und der nun blind und
gleichgültig über die Menschen hinwegstampft. Es ist die Hingebung an eine
Sache, die das Menschenleben unter sich begräbt: an die Sache, die maßlose, die
entsetzliche Sache des Apparates, der Maschine, der Technik in jedem Sinne, die
unser Leben mehr und mehr beherrscht und herrschen soll. Die Sache, die der Tod des Menschen ist, soll den Menschen
überflügeln. Die neue Welt der Arbeit bedeutet die reine Revolution der Sache. Erst sie
ist wirkliche, vollendete Revolution. Eine andere gibt es für Jünger nicht.
Alle bloß menschliche Revolution
gehört einer versinkenden Welt an.
Darüber, daß außerhalb
Deutschlands schon eine Welt des Arbeiters, der Arbeit existiert, die in sehr
schroffem Gegensatz zur bürgerlichen Welt steht, fällt darum in dem ganzen Buch
kein Wort. Denn diese ist ja, so sehr sie in vielen Erscheinungen an die
Arbeitswelt Jüngers mahnt, keineswegs die
Welt des Arbeiters und der Arbeit, die Jünger meint. Denn diese Welt ist nicht
unmittelbar und einzig hervorgewachsen aus dem totalen Arbeitscharakter, der
technischen apparathaften Struktur und der totalen kriegerischen Aufrüstung
unseres Zeitalters, nicht aus jener radikalen, menschenfremden,
menschenmordenden Revolution der bloßen Sache, die ihm allein als die echte
Revolution gilt, sondern sie ist – was immer aus ihr geworden sein mag –
hervorgewachsen aus dem Willen zur sozialen Gerechtigkeit, den Jünger als
liberalistischen Schwindel des verblasenen Humanismus der 19. Jahrhunderts
abtut. Es ist mehr als erstaunlich und es ist ungeheuer bezeichnend, daß in
diesem wahrhaft geistesmächtigen Buch, genau so wenig wie in dem Gedankensystem
Mussolinis, irgendwo hinter das 19., allerbestenfalls mit knappen Andeutungen
hinter das 18., das Jahrhundert der Aufklärung, zurückgegangen wird; daß
nirgends der Ursprung der großen und ewigen Begriffe des Humanismus, das
Freiheitsgedankens und des Idealismus untersucht und dann ihr Herabsinken in
der bürgerlichen Welt gezeigt und motiviert wird. Dadurch hat das Buch, das
trotz seiner Entsetzlichkeit eine geniale Geschichtskonstruktion ist, von vorneherein
doch auch den Charakter einer Geschichtsfälschung.
Das neue Weltbild aber, das es
im Kampf gegen alle Lebens- und Geistesformen der bürgerlichen Welt entwirft:
das Einbrechen des Unheimlichen, Elementaren und Gefährlichen in allen
gesicherten Zonen des bürgerlichen Lebens, das Verdrängtwerden von immer mehr
lebendigem Boden durch unsere menschenmordenden Städte, der großartig drohende
Anblick dieser Städte selbst, das Rasen der Maschinen, die Wandlung und Wendung
zur Sache und zur Sachlichkeit in allem Heutigen, von dem Wandel der Baukunst
an bis in den der bürgerlichen Kleidung hinein (die heute bereits überall von
der Arbeitskleidung verdrängt wird) – dies Bild ist grandios. Es ist wirklich
das Gesicht unserer Welt in ihrer ganzen atemraubenden Furchtbarkeit, ihrer
Prägung durch lauter Totes, durch Sache, Maschine, Organisation, kalten,
fühllosen Befehl, dieser Welt, in der kein Menschenantlitz mehr das andere
ansieht, in der die Menschen in Reih und Glied stehen, in der es nichts mehr
gibt als Herrschaft und Dienst, Befehl und Unterordnung, keine Beziehung von
Mensch zu Mensch, nur noch marschbereite Kolonnen.
Denn da diese neue
Arbeitsgestaltung nicht teilhaft, auch nicht mehr national gemeint ist, sonder
„planetarisch“, da sie mit anderen
Worten den Erdkreis umfassen soll, so
bedarf sie zu ihrer Ausbreitung des Imperiums,
der Macht, des Befehls. Darum taucht in ihr eine neue Herrenschicht auf: eine
gepanzerte, eherne Menschenschicht, eigentlich ein Mittelding zwischen Sache
und Mensch, eine metallene sprechende Sache. Und darum wird auch die Gesellschaft, abermals als ein Begriff
des bürgerlichen 19. Jahrhunderts, zugunsten des Staates völlig abgedankt. Denn nur der Staat hat die Macht, das
Weltreich der Arbeit zu erobern, von dem unsere heutige Welt erst der Beginn,
der Keim ist. Und dieser Welt der Arbeit, dieser neuen Ordnung hat alles zu
dienen; denn was in ihr entstehen soll, ist ein
neuer Stil der Erde.
Um diesen allein geht es in
diesem damit letzthin doch rein ästhetischen, mörderisch-ästhetischen Weltbild:
um eine neue Gestalt der Erde, der der Mensch als Einzelner bedingungslos
geopfert werden muß. Ausdrücklich ist hier (wahrscheinlich im bewußten
Gegenschlag gegen das große, allen Menschwürde begründende Wort Kants: daß der
Mensch nie zum Mittel gemacht werden dürfte) gefordert, daß der Mensch nicht Ziel, sondern Mittel sein soll.
So wird in dem neuen
Arbeitsstaat das höchste menschliche Daseinsform – als höchste! – die
Selbsthinopferung des Menschen für die leblose Sache gefordert. „In diesem
Sinn“, so heißt es hier, „ist der Motor nicht der Herrscher, sondern das Symbol
unserer Zeit, das Sinnbild einer Macht, der Explosion und Präzision keine
Gegensätze sind. Er ist das kühne Spielzeug eines Menschenschlages, der sich
mit Luft in die Luft zu sprengen vermag und der in diesem Akte noch eine
Bestätigung der Ordnung erblickt. Aus dieser Haltung, die weder dem Idealismus
noch dem Materialismus vollziehbar ist, sondern die als ein heroischer
Realismus angesprochen werden muß, ergibt sich jenes äußerste Maß an
Angriffskraft, dessen wir bedürftig sind. Ihre Träger sind vom Schlage jener
Freiwilligen, die den großen Krieg mit Jubel begrüßten, und die alles begrüßen,
was ihm folgte und folgen wird.“
Dieser heroische Realismus, der
alles andere ist als heroisch, wenn man das Wort in seinem Ursinn, im Sinn der
griechischen Antike: des alles Menschliche auf sich nehmenden „göttlichen
Dulders“ Herakles nimmt – und alles andere als real, weil er nicht einen Funken
echter Wirklichkeit enthält, der ein leerer Rausch des Nichts im Nichts ist,
dieser Wille zum totalen Krieg, zur Ausrottung des Menschen aus der Welt
beschreibt das letzte Ziel des Faschismus. Aller Faschismus ist ein
Ordnungsversuch das Chaos und, da er ohne jede Bindung an ein Übergeordnetes,
Ordnendes unternommen wird, selbst ständig vom Chaos bedroht und in es
hineingerissen. Denn das Chaos ist mächtiger als der Mensch; rein vom Menschen
aus kann seine Bezwingung und Ordnung nie gelingen; es dringt in jeden
menschlichen Ordnungsversuch ein und wendet sich gegen der Menschen zurück. Das
ist nirgends deutlicher sichtbar als hier.
Ganz gewiß liegt auch dieser düster leeren Weltkonzeption, die man als
einen wahnsinnig gewordenen Spenglerianismus bezeichnen könnte, das
Nicht-mehr-leben-wollen, Nicht-mehr-leben-können nun mit außerordentlicher
Geisteskraft als Gehalt eines neuen Lebens entwickelt ist. Dies ist der Gipfel
des menschlichen Nichts. Dieser Menschenschlag, der sich dem Motor unterordnet,
der sich selbst mit Luft einer toten Sache gleich um einer toten Sache willen
in die Luft sprengt – dieser ist der echteste Träger des geist-, wert- und
sinnfremden Faschismus. Diese Welt ist die Welt ohne den Menschen. Uber ihr
steht mit flammenden Lettern das Wort, das über dem Eingang zu Dantes Hölle
steht: „ihr, die Ihr eintretet, laßt jede Hoffnung fahren.“ Ernst Jünger selbst
hat gleichsam im Vorübergehen, als rein formale stilistische Unterscheidung,
seine neue Welt, von der Zelle eines mittelalterlichen Mönches aus gesehen, als
die Welt des Antichrist bezeichnet.
Es würde trotz ihrer geistigen
Bedeutung bei der maßlosen Schwächung und Zerstörung alles Menschlichen, die
diese Weltbilder mit sich führen, nicht lohnen, sie zu betrachten, wenn nicht
in ihnen ein so tiefes Stück unserer heutigen Wirklichkeit steckte. Denn das
Furchtbarste an ihnen ist: wir haben in diesen Weltbildern wirklich unsere Welt gesehen, die Welt, in der
wir leben und in die wir alle mit unserem ganz realen Leben einbezogen sind,
die Welt des Nichts.
Eines Nichts, das sich uns
nunmehr deutlich enthüllt hat als das, was es ist: die vollendete Beziehungslosigkeit
– und eben damit als das reine Gegenbild der Welt Gottes. Denn das, zu dem ich überhaupt keine Beziehung habe,
ist für mich reines Nichts. Das, zu dem ich eine Teilbeziehung habe, ist mir
ein Etwas; das, auf das mein ganzes Dasein bezogen ist, ist das Geliebte oder
das Du. Und das höchste Du, den Inbegriff aller Beziehung, den Mittelpunkt, in
dem alle Beziehungen aller Leben zusammenlaufen, nennen wir mit dem Namen, der
in unserer Welt des stetig anwachsenden trennenden Zwischen, in dessen totem
Leerlauf Beziehung um Beziehung zerrieben wird, immer mehr verstummt: Gott.
So zeigt es sich, daß es in
keiner Weise zufällig ist, daß der Sammlungspunkt aller Beziehung in den die
Persönlichkeit auflösenden kollektiven Weltgestaltungen jeder Art radikal
preisgegeben wird. Aber – darüber dürfen wir uns nicht täuschen – diese
Preisgabe bedeutet nichts anderes als den Weltuntergang, den Untergang der
Menschenwelt selbst. Gott, Mensch und Welt können nur zugleich preisgegeben
werden. Wo kein Gott ist, da ist auch kein Mensch, und wo kein Mensch ist, da
ist auch keine Welt. Denn der Mensch ohne Gott sinkt in die Tierheit, ja, da er
nicht zum Tier geschaffen ist, unter das Tier hinab. Und das Tier hat keine
Welt, es sieht nur das Nächste; es sieht (wie Bergson es einmal ausgedrückt
hat) „nur Beute“. Gibt nicht dieser Nahblick, der nicht imstande ist, etwas
anderes als den nächsten persönlichen Vorteil zu erfassen, eine furchtbar
deutliche Beschreibung des heutigen Daseins in seiner Gesamtheit?
Aus dem Nichts des modernen
Kollektivismus scheiden somit Gott, Mensch und Welt gleichermaßen aus. Als der
Bolschewismus die Gottlosenbewegung proklamierte, da meinte er in einem
wahnsinnigen Mißverständnis damit gerade den Menschen zu retten. Der Faschismus
hat nie etwas dergleichen auch nur beabsichtigt. Er begann umgekehrt mit der
Ausrottung des Menschen, und von da aus betrieb er mit strenger Folgerichtigkeit
immer entscheidender die Ausrottung Gottes.
Es geht also in dem heutigen
Geschehen um weit mehr als um politische Wirklichkeiten; es geht um das Leben
oder Sterben der Menschheit. Nirgends so deutlich wie an der Todeserfassung
einer Welt können wir ihr wahres Bild ablesen. Die Art, wie eine Zeit, ein
Land, eine Gemeinschaft den Tod und das Nichts meistert, ihnen die Grenze
anweist, zeigt die Höhe ihrer religiösen, geistigen und moralischen
Weltgestaltung an. In dem Maße, in dem die dunklen, zerstörenden Gewalten, die
zu jeder Zeit den Rand des Menschdaseins umlauern, in eine Welt eindringen und
sie überwältigen, verliert sie ihren Sinn, ihren Wert und ihre Form, wird sie
selbst zum Chaos, zum Nichts. Der Tod, bestimmt, Rand und Grenze des gefügten
Menschendaseins zu sein, von der aus es sich erfaßt und erkennt, ist heute von
allen Seiten und in unzähligen Formen: als physischer, geistiger und seelischer
Tod in unser Leben eingedrungen und bedroht das Ganze unserer Welt mit
Vernichtung. –
Und damit erhebt sich aus
tiefster Not die Frage: Was können wir tun, um diese furchtbar drohende
Entwicklung aufzuhalten, ihr entgegenzuarbeiten? Sie hat sich in so kurzer Zeit
mit solcher Vehemenz und Hemmungslosigkeit ausgebreitet und eine so ungeheure
moralische Lähmung in der Welt erzeugt, daß die Rettung fast unmöglich scheint.
Von einer politischen Wendung scheint in dieser Welt dunkler Verstrickungen
nichts mehr zu hoffen. Wir können nur warten auf jenen „Stein aus der Höhe“,
von dem hier so oft die Rede war: auf das Wunder.
Aber auf das Wunder hoffen, kann ja für uns niemals bedeuten, daß wir die Hände
in den Schoß legen und nach oben starren dürfen. Es muß im Gegenteil bedeuten,
daß es unsere einzige und ganze Aufgabe ist, dem Wunder zum Durchbruch zu verhelfen,
indem wir uns selbst mit aller Kraft in seine Richtung drehen, das heißt: uns
dem Geschehen unserer Welt entgegenwenden und ihm mit Kräften völlig anderer
Art entgegenwirken.
Vielleicht kann ein
eigentümliches Naturgeschehen uns gleichnishaft einen Weg dazu weisen. Vor
nicht langer Zeit kamen aus Australien Berichte von einer fast an frühbiblische
Vorgänge gemahnenden Erscheinung: von einer Art Kakteenpest. Es hatte sich dort
ein Kaktus in wenigen Jahren mit so ungeheurer Wucht und Schnelligkeit ausgebreitet,
daß er auf weite Landstrecken hin schon ganze Kulturen zerstört hatte und die
gesamte Landwirtschaft des Landes, ja des Erdteils mit Vernichtung bedrohte.
Kein Gegenmittel half. Bis plötzlich in eine der Pflanzen ein winziges Würmlein
sich einnistete, das nun seinerseits mit noch größerer Gewalt und Schnelligkeit
als die Kakteen selbst sich ausbreitete und in kurzer Zeit die ganze üppig
aufgeschlossene Schädlingswelt zerstörte.
Ist es nicht, als hätte dies
kleine Würmchen uns ein Vorbild, ein Beispiel gegeben, wie allein solches wild
wachsende Unheil zu zerstören sei? Nicht von außen her ist es zu bekämpfen;
sondern wie dies winzige Lebewesen müßte ein unsichtbares Lebendiges aus
eigener Kraft sich an die wuchernde Vegetation des Nichts der kollektiven
Weltgestaltungen ansaugen und sie von innen her vernichten. Dies unsichtbar und
übergewaltig Lebendige kann allein die menschliche
Seele sein, die das ungeheure Maß der Verantwortung begreift, das jedem
Einzelnen gerade durch eine Entwicklung, die ihn von sich selbst und damit von
aller eigenen Verantwortung abzuschneiden droht, um so unerbittlicher auferlegt
ist.
Aber damit stellt sich eine
weitere bange Frage: Hat denn die heutige, von außermenschlichen Kräften so
gewaltsam bedrängte, überrannte, an den Rand des Lebenkönnens gedrängte Seele
überhaupt noch die Kraft, sich in diese unaufhaltsame Todesentwicklung
einzusetzen, sich ihre entgegenzustemmen und so den stetig anwachsenden Tod
zurückzudrängen? Bedürfte es nicht, um dies Äußerste zu vollbringen, die Welt
wieder zum Leben zu erwecken, zu dem gestorbenen Menschen dieser Zeit das
„Stehe auf und wandle!“ zu sprechen, der ganzen Kraft des lebendig
gegenwärtigen Christus?
Kann aber die bange,
verschüttete heutige Seele die gewaltige Kraft, deren sie bedarf, nicht
wiederfinden gerade im Blick auf dieses Wunder, das ja letzthin nur der
Ausdruck der steten Gegenwart Gottes im Leben bis hinein in den Tod ist? Denn
daraus muß ihr die unumstößliche Gewißheit kommen: Niemals kann ja der Weg und
Wille Gottes – wie tief er uns verhüllt sein mag – in der Geschichte aussetzen.
Irgendwie muß er auch noch in diesem ihm entgegengewandten Bemühen ergreifbar
sein. Daß diese Zeit eine Zeit des Gerichtes und damit der Offenbarung ist, daß
in ihr Gut und Böse mit einer Gewalt und Klarheit sich scheiden wie nur in
apokalyptischer Zeit, daß wir Begriffe ein unendlich vertieftes Wissen um Gut
und Böse gewonnen haben, so daß wir heute deutlich wie vielleicht nie eine Zeit
begreifen, warum uns in der Schrift von Gott das Gute als das Leben, das Böse
als der Tod vorgelegt worden ist, -- das allein ist eine Erweckung und Stärkung
unserer lebendigen Kraft, die uns im Grunde jener ganzen Todeswelt gewachsen
sein lassen müßte. Doch diese Einsicht, so stark und flammende sie zu uns spricht,
kann unserem Sein und Tun nur die innerste Richtung geben; in der Ausführung
wird sie immer wieder verwischt werden, weil in jedem einzelnen Fall wieder die
Welt der Organisation und Überorganisation, des toten Zwischen, die als reine
Gegenwelt dem Reiche Gottes entgegensteht, mit ihren Forderungen und
Bedrängnissen in unser Tun einbricht. Denn wir können und dürfen ja diese Welt
nicht einfach ignorieren. Selbst wenn wir es vermöchten – wir dürfen um unseres
Kampfes, um unserer Arbeit selbst willen nicht aus unserer Welt heraustreten.
Wir müssen ihre ganze Gegenkraft an uns erfahren und ihre Wirkungen auf uns
nehmen. Nicht von außen, allein von innen her können wir sie ja bekämpfen. Wir
müssen sie tun als die, die wir sind, die wir geworden sind, unter den uns
auferlegten Bedingungen und an den Mitmenschen, wie wir sie vorfinden; denn nur
das Wirkliche zählt im Reiche Gottes. Wir können die Geschichtsentwicklung an
keinem anderen als genau an dem Punkt ergreifen, an dem sie uns übergeben ist,
an dem wir in sie hineingestellt sind.
Und das bedeutet, daß wir in
ihr nicht nur unsere Aufgabe, sondern daß wir in ihr doch auch etwas wie eine
Anweisung zu ihrer Erfüllung in ihr suchen und finden müssen; es bedeutet, daß
wir uns die Frage vorlegen müssen, ob wir nicht trotz all ihrer Furchtbarkeit
aus dieser Zeit doch auch etwas für unser Sein und Tun gelernt haben. Denn auch
vom Feind gilt es zu lernen. Nur der erkannte, durchschaute Feind ist
besiegbar, und nur mit seinen eigenen, heute so unermeßlich geschärften Waffen
können wir ihn zu schlagen hoffen. – Und es unterliegt keinem Zweifel: wir
haben, recht betrachtet, von der Sache und von dem Gesetz der Sache, das sich
uns auferlegt hat, von dem Verhältnis des Menschen zur Sache etwas gelernt, das
frühere Zeiten so nicht kannten: die Nüchternheit, die Anspannung, die Kraft
und die Exaktheit im Dienst am Wirklichen, das vollkommene Absehen vom eigenen
Selbst. Darin sind wir vergangenen vageren, sentimentaleren Zeiten weit voraus.
Das zeigt sich nicht nur an einer neuen Klarheit, Präzision, einer neuen
durchgehenden Strenge in allen Wissenschaften und Künsten, wie sie früher nur
die Größten intuitiv kannten und übten; es zeigt sich auch und muß sich zeigen
an unserem Verhalten im Leben. Und wenn nun hier das Verhältnis umgekehrt wird:
wenn aus dem Dienst an der Sache der Dienst am Lebendigen wird, und wenn dieser
Dienst mit genau derselben Strenge, Anspannung, Sachlichkeit,
Gewissenhaftigkeit, mit demselben Absehen vom Selbst abgetan wird, wie etwa ein
Lokomotivführer seine Maschine bedient, die bei der Unaufmerksamkeit auch nur
eines Augenblicks in Tod und Zerstörung hineinführen würde – dann wird aus der
bloßen Anpassung, Anspannung und Gewissenhaftigkeit des Daseins innerste
menschliche Verantwortung, der Kern der lebendigen Liebe. Denn nicht wie wohl
in ruhigeren, lyrischeren Zeiten in Weichheit, Überschwang und Schwärmerei, nur
in strenger, wissender Verantwortung gegenüber dem Wirklichen ist heute Liebe,
helfende, erweckende Liebe möglich. Ein Funke von dem übermächtigen: „Stehe auf
und wandle!“ muß dem Menschen unserer Zeit gegenüber in jeder lebendigen Liebe
am Werk sein. Um dem Tode gewachsen zu sein, muß die Liebe stark sein wie der
Tod.
Stark wie der Tod und
unerschütterlich wie der Tod. Denn nicht allein den Anderen, sondern auch uns
selbst in unserem Gewordensein gilt es ja den Todesmächten unserer Zeit zu
entreißen. Aber dies ist ja die tiefe, geheimnisvolle Wahrheit aller echten
Leibe, daß in ihr die Erweckung des Selbst mit der des Anderen eins ist. Nur im
vollkommenen Absehen vom eigenen Selbst kann das Selbst zurückgewonnen werden;
nur auf den Spuren des Menschenbruders können wir die eigene lebendige Seele
wiederfinden.
In einer so schlichten wie
tiefen Erklärung zum zweiten Buch Mose heißt es: „Wo immer du die Fußspur eines
Menschen findest, zieht Gott vor dir her.“ Dies Wort ist niedergeschrieben in
einer Zeit und an einem Ort, wo die Füße sich dem weichen Erdboden eindrückten.
Auf dem Pflaster der Großstädte und in den modernen Betreiben lassen die Füße
der Menschen keine Spuren zurück. Darum müssen wir den Menschen nicht weniger,
sondern unter den unendliche erschwerten Bedingungen unseres Daseins um so
intensiver, mit um so heißerer Mühe und Verantwortung, mit einer Liebe, die wie
oft schon der Verzweiflung gleich ist, suchen. In einer menschenfremden Zeit
die verlorene Fußspur des Menschen aufzufinden, ist unser einziger Weg aus Tod
und Nichts zum lebendigen Gott und seinem Reich.
[i] „Der Verrat der
Berufenen.“ Die Red.
[ii] „Die Lehre des Faschismus.“
Die Red.
[iii] Es ist in der langen
Zeit, die zwischen diesem Vortrag und seiner Veröffentlichung liegt, in den
„Neuen Wegen“ soviel und Wesentliches über diese Theologie gesagt worden, daß ich
mich mit einigen kurzen Hinweisen begnügen kann, die für mein Thema unbedingt
erforderlich sind.