Die Friedensbotschaft des Alten Testamentes

 

In: Neue Wege 31, 1937

 

Die Frage des Friedens steht heute im Mittelpunkt des Weltgeschehens. Sie ist die Entscheidungsfrage nicht nur für Europa, sondern für den gesamten Erdkreis, für das ganze Menschengeschlecht. Auch da, wo sie nicht gestellt, oder nur heuchlerisch gestellt wird, ja, auch da, wo der Friede mit Füßen getreten, wo ihm aufs gräßlichste entgegengearbeitet wird, wo Blut, Bruderblut in Strömen fließt, auch da, und gerade da, ist sie der Kern, die Entscheidungsfrage des heutigen Daseins.

          Darum aber, weil diese Frage heute nicht nur von einem Meer von Blut und Tränen, sondern auch wie vielleicht niemals noch in geschichtlicher Zeit von ungeheuren Wolken des Truges und der Lüge umgeben ist, weil die heutige Menschheit verstrickt ist in ein Netz von ganz auf Krieg abgezielten Institutionen und Organisationen, weil nicht das Leben, sondern der Tod der Beherrscher unserer Welt ist, dem alle Mächte und Gestaltungen in ihr letzthin dienen, darum gilt es nicht nur, immer wieder die Stimme für den Frieden zu erheben und alle Stimmen für ihn zu sammeln: es gilt auch, sich Rechenschaft abzulegen über das überaus schwierige Problem, das der Friede nicht nur in unserer Welt, sondern in aller Menschenwelt überhaupt bedeutet.           

          Denn der Friede ist keine selbstverständliche Lebensform, kein mit unserer Natur gegebener Zustand. Die Geschichte des Friedens unter den Menschen ist dunkel genug. Es ist die Geschichte seltenerer Lichtblicke und kleiner Inseln in einem Meer verwüstender Kriege, die zu immer furchtbareren, unmenschlicheren Formen angeschwollen sind. Und weniger noch als in der Geschichte ist der Friede in der Natur zu finden. Die Geschichte zeigt wenigstens Ansätze zu ihm; der Natur als solcher ist er völlig fremd. Die Natur weiß nichts von Frieden; sie ist bis in die scheinbar so sanfte, so stille Pflanzenwelt hinein voller Kampf und Streit. Alles naturhafte Dasein kennt nur das eine Gesetz der Selbsterhaltung und Selbstentfaltung jeder lebendigen Form, des Sich-Ausbreitens nach dem Wachstumsgesetz, das jedem lebendigen Wesen, vom bescheidensten Pflänzchen bis zum höchsten uns bekannten Organismus: dem menschlichen, innewohnt. Das Zusammenbestehen dieser zahllosen verschiedenen Gesetze bedeutet darum immer zugleich einen Kampf um Lebensraum, ein Verdrängen anderer Lebewesen, und damit Unruhe und Streit.                

          Aus dieser Erkenntnis heraus haben alle Philosophen aller Völker und Zeiten immer wieder von einer Urschuld alles individuellen Daseins gesprochen, die getilgt werden müsse durch den Tod. „Die Dinge zahlen einander Strafe und Buße nach der Zeit Ordnung“ – so hat in der griechischen Frühzeit Anaximander das große kosmische Urgesetz des Werdens und Vergehens alles Einzelnen in seiner unerbittlichen Gerechtigkeit ausgesprochen. Und ein wenig späterer großer Grieche hat die Wirkung dieses Gesetzes zusammengefaßt in dem Wort: „Der Krieg ist der Vater aller Dinge.“

          So lange man sich innerhalb der natürlichen Ordnung hält, ist diese Wahrheit unumstößlich. Was mußte der Menschheit widerfahren, damit der aller Natur gegenüber völlig paradoxe, d.h. ihr radikal entgegengesetzte Gedanke des Friedens in ihr Wurzel schlagen konnte?

          In der Tat etwas völlig Unausdenkbares. Un-ausdenkbar im genauen Sinne des Wortes. Kein Denken irgendeiner Art reicht diese Erfahrung des Menschengeschlechts heran. Was in ihr geschah, das ist eine lebendige Revolution in den gesamten Fundamenten des Menschendaseins. Es ist die Revolution aller Revolutionen: eine Revolutionierung des irdischen Lebens von einem Punkt außerhalb seiner. Diese gewaltigste Revolution der Weltgeschichte, die Revolutionierung der Menschennatur selbst um eines außerhalb ihrer gelegenen Zieles willen verdanken wir dem Alten Testament.

          „Den Heiden eine Torheit“, hat der Apostel Paulus den Christenglauben genannt. Aber dasselbe Wort wäre auch schon auf die Grundwahrheit des Judentums anzuwenden. Denn was kann und konnte den Heiden, dem bis in die höchste Spitze der Geistigkeit hinauf naturgebundenen, von Naturgottheiten ohne Zahl durchwalteten Heidentum die Botschaft und Forderung des Einen, unsichtbaren, übersinnlichen Gottes bedeuten?                    

Nicht die Erkenntnis des Einen Gottes ist ja im Alten Testament das Entscheidende; auch die Weisen der anderen, gereifteren Völker der antiken Welt hatten erkannt, daß es nur Einen Gott geben kann. Aber ihr Erkennen blieb Erkennen. Hier, im Alten Testament zum ersten Male ist der Eine der lebendige Gott. Er ist der, der nicht vom menschlichen Erkennen oder Denken gefunden ist, der von ihm gar nicht erreicht wird, sondern der als die Wirklichkeit des Lebens und Todes selbst, das ganze Menschenleben einfordernd über die Menschen hereinbricht. Denn was das Judentum von allen übrigen Erkenntnis – und Erlösungswegen der Menschheit, von aller heidnischen Weisheit scheidet, ist, daß hier zum ersten Male in der Menschengeschichte die Unendlichkeit des Lebens und Todes, in der das Staubkörnlein Mensch sich vorfindet, nicht mehr das Unendliche ist, sondern der Unendliche; daß aus der Vielheit waltender Mächte, aus dem Chaos hin- und herreißender Stimmen, in die das Menschenleben verstrickt ist, plötzlich der Eine hervorgetreten ist, der das Wort spricht: „Höre, Israel, ich bin der Einzige, dein Gott.“         

Man muß einmal alle Gewohnheit abstreifen und versuchen, sich einen Augenblick lang unmittelbare vor das zu stellen, was in diesem Aufruf geschehen ist: Inmitten einer heidnischen Welt voller Bild und Beschwörung, Zauber und Magie, in einer Welt, die zu einer Vielheit sinnlich wahrnehmbarer Götter betet, in der nicht nur jede Landschaft, jeder Ort, in der auch jede Leidenschaft ihren eigenen Gott hat, in der damit ein ganzes Netz einander widerstreitender Gewalten, Antlitze, Geister, Verzauberungen über die Welt, durch die Natur, durch die Herzen gespannt ist – erhebt sich plötzlich der unsichtbare Eine, der allein alle Göttlichkeit des Lebens in sich faßt und aus unerreichbarer Höhe und Ferne allein durch seine Stimme, sein Wort, ein nie gehörtes, ein sinnlich unhörbares Wort sich den Menschen offenbart und sie bedingungslos einfordert. 

Denn in dem „Höre Israel!“ ist im Grunde schon die ganze Forderung enthalten, in Wahrheit Jude, d.h. Mensch unter dem Einen Gott zu sein. „Höre Israel!“ das bedeutet: Nimm die Stellung zu Deinem Gott ein, die allein Ihm und dir gebührt. Denn dies Hören ist kein bloßes lässiges Hinhören; es bedeutet nicht, daß ich hören soll, wie ich auf das höre, was Menschen sprechen oder was sonst um mich her ist, was mir selbstverständlich ins Ohr dringt. Es heißt im Gegenteil, daß ich nur hören kann, wenn ich all dies nicht höre – wenn ich es von mir tue, um ganz Ohr zu werden für das Eine, das – von Millionen Stimmen der Menschen und Dinge übertäubt und verwirrt unendlich schwer vernehmbar über den Abgrund aller Abgründe herüberdringt. So still und lautlos herüberdringt, daß es im Grunde überhaupt nicht zu vernehmen ist, sondern daß ich es erst mit der Sammlung meiner ganzen Kraft herausreißen muß aus dem Stimmengewirr um mich her – herausreißen muß durch eine Bereitschaft, ein Geöffnetsein mit Leib und Seele für die ferne und verhüllte Stimme des Einen.

          Denn was dem „Höre Israel!“ folgt, was der Mensch vernehmen soll: „Ich bin der Einzige, dein Gott!“ das ist der gewaltigste Aufruf zur Sammlung aller menschlichen Kräfte aus dem Vielen zum Einen, aus der Verworrenheit des Vielen, von dem der Mensch hin- und hergerissen ist, zur ruhigen Klarheit des einen Ganzen. Es ist derselbe wie der Aufruf: „Ganz sollst du sein mit dem Ewigen, deinem Gotte!“ Und beide Worte haben denselben Sinn: Gehorsam gegen die Urforderung des Alten Testaments, die am Anfang der Schöpfungsgeschichte ausgesprochen ist: „Gott schuf den Menschen Ihm zum Bilde; zum Bilde Gottes schuf Er ihn.“

          Zum Bilde Gottes. Was bedeutet dies überschwengliche Wort? Was bedeutet es, daß das winzige, schwache, vielfältige, sterbliche Wesen Mensch zum Ebenbild des allmächtigen Einen, ewigen Gottes geschaffen ist? Ist diese Forderung nicht eine unmögliche? Und wird sie nicht unmöglicher noch, wird sie nicht zum vollendeten Paradox dadurch, daß es kein sichtbarer Gott, kein wahrnehmbares Bildnis wie das der Götter aller anderen Völker ist – daß es das unsichtbare Antlitz des Einen ist, dem der Mensch sich entgegenbilden soll? Ein sichtbares Antlitz wäre wieder nur ein Antlitz neben anderen; es könnte nicht das Eine, das All und Eine Antlitz sein. Darum liegt darin, daß wir das Antlitz nicht sehen können, dem wir uns entgegenbilden sollen, die unbedingte Strenge und Unerreichbarkeit, die irdische Unmöglichkeit der göttlichen Forderung. Auf dem Anblick des göttlichen Angesichtes steht der Tod. Lebend kann kein Mensch das Angesicht erreichen, dem er sich entgegenbilden soll.

          Kein Gedanke, keine Idee, kein Traum, keine Gestalt – ein Antlitz steht über Israel. Ein Antlitz, das wir nicht sehen können, aber das uns unablässig ansieht. Die Religion Israels ist die Religion des Angesichtes. „Der Herr lasse dir leuchten sein Antlitz!“ ist ihr eigenster Segen. – Antlitz – das ist das Leben, das alles Tote, alles, das nur Sache ist, hinter sich gelassen hat: lebendigstes, aus lebendigem Mittelpunkt emporwachsendes Leben. Leben, das erwachen will aus dem bloßen Sein zum Geist, zum Sinn, zu Gott: zum Sinn eingeschmolzenes, umgeschmolzenes Chaos. Leben, das wir nicht nur anblicken, sondern das uns anblickt, das uns ruft, uns fordert, jedes einzelne ein Anspruch an unser gesamtes Dasein.

          Das unsichtbare Antlitz des Einen ist die Vollendung des Angesichtes: alles dessen, was im Menschenantlitz erst angelegt ist. Nur noch Selbstsein, nur noch Wachheit, nur noch Sin und Übersinn, nur noch Ruf, lebendig an sich reißendes Leben. Antlitz von so übermächtiger Gewalt, daß sein Abglanz schon uns tödlich ist, dennoch uns zugewendet, wie uns das Leben nur im Antlitz zugewendet ist! Auf uns blickend, uns anblickend, Aug' in Auge, uns rufend, aufrufend, indem es uns aller Angesichter Anspruch an unser Dasein in seinem übermächtigen Glanz entgegenhält! Rufend, fordernd als der Inbegriff alles dessen, was Antlitz hat uns ist: Urbild, Vorbild alles Angesichtes, Aufruf zur Menschwerdung ohnegleichen!–

          Kaum etwas Absurderes ist darum denkbar, als in der Religion Israels eine bloße Ethik, eine rein menschliche Sittenlehre zu sehen. Die Ethik stürzt erst als der klare Strom aus der unermeßlichen Tiefe ihres göttlichen Quells hervor. Die Gebote des Einen Gottes zeigen in ihrem Ursprung klar genug, daß sie nicht Gebote einer menschlichen Vernunft, eines irdischen Gesetzgebers sind, daß es ihnen letzthin nicht um den Menschen geht, sondern um Gott – und um den Menschen nur, soweit er zum Ebenbild Gottes umgeschmolzen werden soll.

          Darum kommen die Gebote Gottes zu den Menschen nicht als faßliche, menschlich erwägbare Gesetze und Vorschriften; sie schlagen mit der furchtbaren, rauchenden Gewalt des Sinaiwunders auf die betäubten Menschen ein. In die heidnische Welt des Vielen, die die des Erreichbaren ist, flammt die jüdische Welt des Einen, die die des Unerreichbaren ist, fremd und übermächtig herein. Und weil es der Eine ist, darum ist die Forderung der Gestaltung nach dem Ebenbilde Gottes eins mit der, sich kein Bild oder Gleichnis von Ihm zu machen. Schüfe der Mensch sich Gleichnisse seiner, so wäre er wieder an Einzelnes, an Vieles hingegeben; er schüfe anderes als das Eine Leben im Dienst des Einen Gottes, das ihm aufgegeben ist. Darum wendet sich die Forderung zur Gestaltung nach dem Ebenbilde Gottes nicht an eine schöpferische Kraft des Menschen; sie will nicht Werk, sondern Wirklichkeit, nicht Bilden, sondern Tun. Jeder Gestalt Gottes entsagen, sich Gott ganz hingeben und ganz Mensch werden ist eins. Die unerreichbare Forderung des Einen Gottes enthüllt sich so als der gewaltigste Aufruf zur menschlichen Wirklichkeit.

          Nie und nirgends ist im Alten Testament etwas anderes gefordert als Wirklichkeit. Kein Traum, keine Neigung, kein Werk, ja, kein Glaube – das alles bleibt vor den Toren. Allein das Wirkliche zählt. Nur das Reich des Wirklichen liegt auf dem Weg zum Reiche Gottes, dem das ganze Alte Testament dient.     

          Dieser Weg ist der Weg zum Frieden. Das Antlitz, das alles Leben in sich versöhnt und eint, ist Friede. „Der Herr lasse dir leuchten sein Antlitz und gebe dir seinen Frieden!“

Der Aufruf des Einen Gottes zur Einigung aller menschlichen Kräfte ist der Aufruf aus dem natürlichen Kampf und Streit zum Frieden. Der Friede, die reine Verwirklichung menschlicher Gemeinschaft bis hin zum Endziel der Einen im Frieden geeinten Menschheit ist das Ziel, das allein dem Willen dessen entspricht, der dem Menschen das Äußerste auferlegte, das je von ihm gefordert wurde: die Gestaltung nach dem Ebenbilde Gottes.

          Friede – niemals vorher in der Menschengeschichte hatte dies Wort diesen Klang – diesen Posaunenklang überweltlichen Jubels und göttlichen Gerichts. Denn Friede bedeutet dem Alten Testament nicht jenes heitere Gleichgewicht der Kräfte, das die Griechen Harmonia oder Sophrosyne nannten. Er bedeutet etwas Überschwengliches. Sein Gegensatz ist nicht wie dort Unordnung oder Verwirrung, sondern er ist Unruhe und Streit, Sünde und Verzweiflung. Die jüdische Idee des Friedens ist nicht Ordnung, Ausgleich und Gleichgewicht, sondern sie ist Gnade, göttliche Versöhnung und Erlösung. Friede bedeutet Vollkommenheit, ist der Heilsbegriff des Alten Testamentes, überwächst das Irdische, ist Ziel einer unendlichen Zukunft, ist als messianische Idee der Vollendung zur Einen gottebenbildlichen Menschheit das von Gott gesetzte Ziel aller Menschengeschichte.

          Dieser Friede ist nirgends in der Welt gegeben. Fremd der Natur wie der Geschichte, ragt er als ein Stück Göttlichkeit in die von Kämpfen und Kriegen zerrissene Menschenwelt herein. Er steht am Ende der Zeit, in der reinen Zukunft. „Das Volk, das im Finsteren wandelt, sieht ein großes Licht“, lautet das Prophetenwort. Es selbst lebt im Dunkel, in irdischer Finsternis; nicht in ihm, vor ihm ist das große Licht. Aber es ist keine bloße Erscheinung; es steht in Beziehung zu ihm; es weist und leitet; es ist ein Ziel. Es ist nicht starre Ewigkeit, es ist an sich reißende Zukunft; es ist nicht das kühle Gestirn der Idee im überhimmlischen Raum, es ist lebendige Hoffnung: Hoffnung, die allen Zeiten, aller irdischen Zeit überhaupt voranleuchtet. Das Volk Israel ist erwählt zum stellvertretenden Träger der höchsten menschlichen Hoffnung.

          Zu dieser übergroßen, zu dieser grausam schweren Aufgabe hat Gott sein Volk ersehen. Israel ist der Weg Gottes in die Welt; seine Hoffnung ist der Teppich, en es Ihm auf Seinem Weg immer neu unter die Füße breiten muß. Darum muß es ihn unversehrt bewahren. Ein Wort des Talmud sagt, daß die einzige Frage, die von dem himmlischen Richter an jede Seele, die vor ihm erscheint, gestellt wird, lautet: „Hast du gehofft auf das Heil?“ Nach der Antwort auf diese Frage wird unsere Seele gerichtet. Damit kehrt sich die Bedeutung der Hoffnung für das menschliche Leben um: nicht mehr wir fragen nach der Hoffnung, sondern die Hoffnung fragt nach uns. Es ist uns nicht freigestellt, die Hoffnung preiszugeben; sie preiszugeben wird zur Sünde; zu der Einen großen Sünde, die alle anderen Sünden in sich schließt; in unserer Hoffnung liegt unsere Bewährung. Das Festhaltenkönnen an der Hoffnung wird zum Prüfstein für unsere Erlösbarkeit.

          Die Hoffnung ist Hoffnung auf das Heil: auf den Frieden. Darum geht sie von keiner irdischen Erfahrung aus, ist sie ein reines Dennoch, eine reine Kraft der Seele. Der göttliche Aufruf ergeht zunächst an ein Volk. Das Volk soll der Träger der Botschaft sein. Dadurch ist es Volk in einem ganz besonderen und einzigen Sinne, in einem unendlich vertieften Sinn: Volk durch Gott, Volk von Gott aus, Volk zu Ihm hin – es ist es mit dem Prophetenwort „nicht ein Volk wie andere Völker“.

          Im Buch Jesaja ist das, was es von den anderen Völkern scheidet, von Gott selbst ausgesprochen: „Wer hat Solches je gehört? Wer hat Solches je gesehen? Kann auch, ehe denn ein Land die Wehen kriegt, ein Volk geboren werden? Nun hat ja doch Zion ihre Kinder ohne die Wehen geboren.“ – Und noch ungeheurer geht die Frage Gottes weiter: „Sollte ich andere lassen die Mutter brechen und selbst nicht auch gebären? Spricht der Herr. Sollte ich andere lassen gebären und selbst verschlossen sein? Spricht dein Gott.“

          Dies Letztere freilich ist schon Verheißung der Wiedergeburt Israels. Aber diese ist nur die letzte Entfaltung und Vollendung der mit der Geburt des Volkes selbst angelegten Lebensform. Nicht ein Land hat in kriegerischen Kämpfen und Wehen das Volk Israel hervorgebracht: Gott selbst hat sein Volk geboren: er ist es, der an seinem Ursprung steht. Darum kann nie ein Land seine Heimat sein. Wie die Volkwerdung Israels inmitten der Wüstenwanderung ohne irdische Heimat, ohne Land und Macht rein aus der Offenbarung des Gesetzes geschah, so ist Israels wahre Wirklichkeit nie und nirgends ein Land, sondern seine Sendung. Nur von ihr aus läßt sich die ganze Geschichte des jüdischen Volkes begreifen. Es ist das Einzige an dieser Geschichte, daß sie als die ganze Wirklichkeit des menschlichen Daseins, von ihrem Ursprung bis zum heutigen Tage, in der Erfüllung wie im Abfall, ausschließlich in der Forderung des Einen Gottes wurzelt, daß sie, mag sie sich noch so unermeßlich weit von Ihm entfernen, mag sie ihn verlieren, mag sie selbst Seinen Namen leugnen, ihrem Sinn, ihrer Wahrheit nach, nie und nirgends um etwas anderes als um deren Verwirklichung kreist. Nichts in dieser Geschichte, kein Ereignis und kein Schwertstreich, keine Tugend und keine Sünde, kein Heil und kein Unheil, ja kein Glaube und kein Unglaube, kann verstanden werden ohne dies: daß es der Eine Gott ist, der sich in ihr sein Volk schafft, durch das sein Reich verwirklicht werden soll.

          Auch kein Schwertstreich. Es wird von den um den Frieden bemühten Menschen immer wieder die Frage gestellt, wieso das Alte Testament, das doch eine einzige Botschaft des Friedens, des Weltfriedens ist, so voller blutiger Kriege sei. Aber in dieser Frage liegt ein Mußverständnis. Denn das Alte Testament gibt ja nicht die Darstellung einer erlösten Welt (das tut es nur in einigen wenigen Verheißungen der Propheten, und ganz nur in den Büchern Jesaja), sondern es gibt Geschichte, menschliche, von Gott erleuchtete Geschichte. Es ist die Erzählung von Wirklichkeiten, Begebnissen zwischen Völkern und Menschen, in die die Wirklichkeit Gottes hereinbricht, um ihr Richtung und Ziel zu geben. Noch ist die Welt eine durchaus unerlöste, durchdringend der Erlösung bedürftige und ihrer harrende, in ihrem innersten Kern zwar ganz und gar auf sie ausgerichtete, doch voller Leidenschaften und Stürme eines sich eben erst der Nacht entringenden wilden, heißblütigen Volkes. Noch zieht Gott in der Wüstenfäule voran; noch ist das Ziel des Friedens nicht recht begriffen, geschweige denn verwirklicht.

          Wäre die Geschichte nicht voller Abfall, voller Unruhe und Streit, voller falschen Dienstes, würde die Sendung, zu der Gott sein Volk aufgerufen hat, nicht immer wieder vergessen, so bedürfte es der Propheten nicht, die immer erneut das Volk aus seinen Verirrungen aufrufen. Aus dem messianischen Friedensziel selbst und dem immer erneuten Abfall von ihm entspringt das Gericht Gottes über sein Volk, das sie immer neu verkünden. Jedesmal markiert darum die Erscheinung eines Propheten, geschichtlich gesehen, dasselbe: die auf einen Gipfel gestiegene Verzweiflung, den radikalen Abfall und die radikale Strafe des Volkes. Gerade aus den Zeiten schwerster Verfehlung, dumpfster Finsternis stieg immer die Flamme der prophetischen Friedensverkündung am mächtigsten empor. Und in den Kriegen selbst vollzieht sich das Gericht.

          Darum gibt es im Alten Testament – und hier liegt das weit tiefere Problem – auch von Gott selbst befohlene Kriege. Um die volle Bedeutung dieser Kriege herauszuarbeiten, bedürfte es einer gründlichen Untersuchung, vor allem der beiden Bücher Samuelis – und an ihr würde sich zweifellos das Problem der Gewalt oder der Gewaltlosigkeit, wie es uns heute so mächtig bedrängt, überhaupt klären. Hier kann nur andeutend gesagt werden: die von Gott befohlenen Kriege dienen in einem bestimmten geschichtlichen Augenblick dem Herauskämpfen des Gottesreiches aus einer in Götzendienst, Magie, in Laster aller Art tief verstrickten Welt. Und zwar zunächst in einem ganz räumlichen Sinne. Israel, das wandernde, von Verwilderung bedrohte, muß für eine bestimmte Zeitspanne einen Flecken Erde haben, den es für die Verkündung und Verwirklichung seiner Botschaft reinigen und rein halten kann. Denn der Prophet Samuel erscheint in einer Zeit, wo die Botschaft des Einen Gottes zu erlöschen droht, wo sie nicht nur von den umliegenden Völkern nicht gekannt, wo ihr nicht mehr nachgelebt wird, sondern wo sie auch in Israel wieder fast vergessen ist. Darum ist hier alles ein Schlagen von Pfaden in den Urwald, eine mühselige Wiedereroberung von Verlorenem. Die Kriege sind wie die Könige selbst, die Gott dem Volk auf sein Drängen gibt, nur ein Zugeständnis Gottes an das unreife, vergeßliche, halsstarrige Volk. – Aber der Radikalismus der göttlichen Forderung verstummt auch in dieser Zeit der Zugeständnisse keineswegs. Er nimmt nur eine andere Form an. Gott macht die Zugeständnisse selbst: die Könige wie die Kriege, zu seinen mächtigsten Mitteln, durch die er sich überall unmittelbar offenbart. Darum ist es nicht das Gesetz in seiner Ganzheit und Allgemeinheit, das der Prophet Samuel, der erste der Propheten, dem Volke verkündet, sondern er verkündet klar und eindeutig in jedem einzelnen Augenblick, in jeder Situation den Königen selbst den besonderen Befehl und die besondere Strafe Gottes. Darum schlägt hier alles blitzartig ein. Die messianische Botschaft, die auf das Haupt des ersten Königs gelegt wird und durch sein Geschlecht weitergetragen werden soll bis ans Ende der Zeiten, wird von seinem Haupt genommen um der Übertretung eines einzigen göttlichen Befehles willen. Sie wird auf des zweiten Königs Haupt gelegt und bleibt auf ihm ruhen. Dennoch: das Haus Gottes, das David sich zu erbauen sehnt, darf er nicht bauen, weil er, der frömmste aller Könige, ein Kriegsmann, ein Mann blutiger Hände ist! Den Tempel darf erst Salomo, der Friedenskönig, bauen, der nicht an den Schlachten der ersten Könige teilnimmt. Und das, obwohl die Kriege Davids von Gott selbst befohlene waren. Diese göttliche Paradoxie beleuchtet in voller Schärfe das gewaltige Problem, das der Friede in einer unerlösten Welt bedeutet.

          Gott befiehlt in diesem Augenblick Kriege; aber er tut es um des Friedens willen. Alle diese furchtbaren Schlachten dienen der Errichtung Seines Friedensreiches. Nie und nirgends, in keiner der göttlichen Forderungen und Strafen ist das aus den Augen gelassen. Darum müssen selbst die, die seinem Krieg auf sich nehmen, dafür büßen, weil sie, indem sie sein Reich herbeiführen helfen, ihm doch zugleich entgegenhandeln. Und wiederum: die Buße ist groß; aber sie ist zeitliches Geschehen, das die ewige Sendung Davids nicht berührt.

          Das Ziel des Friedens hat sich in der Geschichte Israels – der geschichtlichen Gesamtentwicklung zum Trotz – immer klarer entfaltet. Nur als Mitlebende des Schicksals der fremden Völker fallen seine einzelnen Söhne. Für Israel selbst aber ist die Zeit der Kriege längst vorüber: Kriege konnte es für das gottgestiftete Volk nur in einer Zeit geben, in der die Verwirklichung seiner Botschaft an ein Stück Land gebunden wurde, von dem es dann mit Notwendigkeit wieder losgerissen wurde. Denn alles Einzelne, Sichtbare hat in dieser Geschichte nur seine bestimmte Zeit. Selbst der Tempel, dies heißersehnte und weithin ragende, heiß bejubelte und dann nach der Zerstörung wieder heiß beweinte, sichtbare Zeichen des Dienstes an Gott, dessen Stätte durch die ersten Könige erkämpft wurde, muß wieder vernichtet werden. Mit dem Augenblick, wo die strahlende, strenge Herrlichkeit des Tempelbaus wieder zerfällt, wird Israel wieder hinausgeworfen in die unsichtbare Wirklichkeit seiner Sendung. Denn es ist mit keinem Land – und sei es selbst das seinige – identisch. Weil auf Erden das Heil nicht ist, darum ist auf ihr für Israel auch keine Rast.

Rast ohne Heil wäre sein Untergang, der Untergang seiner Bestimmung. Denn ihm ist ein anderer Ort angewiesen als jeder irdische; anders als für alle anderen Völker lautet für Israel die Forderung, anders die trostvolle Verheißung, die der Schwere seines irdischen Schicksals entspricht: „Du Elende, über die alle Wetter gehen, und du Trostlose, --siehe, ich will deine Steine wie eine Schmuck legen und will deinen Grund mit Saphiren legen...Du sollst durch Gerechtigkeit bereitet werden, du wirst ferne sein von Gewalt und Unrecht.“

          Ferne von Gewalt und Unrecht – um dieser überschwenglichen Verheißung willen, um dieser ungeheuren Hoffnung willen ist Israel da. Es hat keine andere Wirklichkeit als diese, die noch nicht ist. Das Volk, das Recht und Gerechtigkeit in der Welt gründen soll, darf auf der Erde keine Heimat haben. Land und Macht sind das naturhafte Element des Volkes; sie bedeuten Kampf und Streit. Aus diesem Element muß das Volk Gottes herausgenommen werden; nackt und bloß, verachtet von den reichen, glücklicheren, im Irdischen wurzelnden Völkern, steht es in der Welt.

          Denn dies Schicksal ist kein natürliches Geschehen, sondern es liegt in ihm eine so zermalmende Furchtbarkeit für das irdische Dasein, daß ihre Problematik so lange bestehen wird und daß so lange das jüdische Volk selbst immer wieder sich ihr zu entziehen suchen wird, wie die jüdische Gemeinschaft überhaupt besteht. Denn was mit der Zerstörung des Tempels geschah, war ja weit mehr als der Verlust der heiligen Stätte – es war das grausame Wunder, die entsetzliche Begnadung eines Geschehens, das sich niemals vorher und niemals nachher in der Völkergeschichte begeben hat. So kommt über ein tief und fraglos wurzelndes Leben ein Sturm, stärker als jeder irdische Gewittersturm, reißt es heraus aus dem Erdboden, in dem es stand, den Ordnungen, in denen es wurzelte: es war ein Baum, die Welt um es her seine weite, göttlich geordnete Landschaft, in der es stand, und in alle Landschaft starrt, weil es hinfort mit ihr nicht mehr in der ruhenden Einheit des Geschaffenen verbunden ist. – Und gerade wenn der Sinn dieses Ausgerissenseins aus der Schöpfungsordnung der des unmittelbaren Eingepflanztwerdens in die Offenbarungsordnung: in den reinen Dienst an Gott, am Gesetz, an der Gerechtigkeit ist, so ist es damit in eine Ordnung gestellt, die ihm hinfort nicht mehr naturhaft unterbreitet ist, sondern in die es sich selbst erst durch Erfüllung und Vollziehen einbetten muß.

          So hat das jüdische Volk immer neu erfahren müssen, daß es ursprünglich nicht in einer Wirklichkeit, sondern in einer Aufgabe steht. Und dieses Stehen in einer Aufgabe, in einer unirdischen Welt ohne Land und Macht, hat inmitten des Lebens der anderen, wurzelnden Völker eine immer erneute Problematik aufgerissen, der gewachsen zu sein unermeßlich schwer war. Immer wieder wurden die Juden in die Lebensform der anderen Völker hineingerissen, von ihr hingerissen; und je gewaltiger deren Formen aufblühten, dann anschwollen und sich aufblähten, um so schwerer war die ursprüngliche Aufgabe festzuhalten. Wieviele von den heutigen Juden, die an allen Ordnungen und an allen Zerstörungen, an allen Entdeckungen und Wandlungen, an allem Wahn und Wahnsinn der heutigen Völker teilhaben, vermögen in ihrem verzweifelten Doppelschicksal den Sinn des ewigen Israel noch zu vernehmen?

          Und doch: gerade an dem heutigen Geschehen flammt ja die prophetische Verheißung Israels in ihrer ganzen Kraft und Hoheit wieder auf. Niemals ist dem Volke Israel deutlicher als heute gezeigt worden, daß ihm keine Gegenwart beschieden ist, sondern daß es allein in der Zukunft lebt: daß sein wahres Leben allein die Hoffnung ist. Niemals sind die ungeheuren Visionen der Prophetie: Visionen von der Endzeit der Vollendung, des Friedens, der Versöhnung, einer Welt ferner gewesen als heute; niemals aber auch haben sie ihre Bedeutung für die Menschen in solcher Gewalt enthüllt wie in unserer heutigen, von Kriegen zerrissenen, in ihrem innersten menschlichen Bestande bedrohten Welt. Wohl klingen sie uns kaum mehr verständlich: diese Bilder von den Schwertern, die zu Pflugscharen, von den Speeren, die zu Sicheln umgeschmiedet werden – von dem Löwen, der Stroh frißt wie ein Rind, von dem Wolf, der friedlich neben dem Lamme weidet, und von dem kleinen Knaben, der sie beide führt. Überschwenglich, unermeßlich fern ist uns diese Verheißung: Friede in der kriegerischen, bluttriefenden Menschenwelt, Friede in der grausam entzweiten Natur selbst: Friede, Liebe, Erlösung überall!

          Aber liegt das nicht überhaupt unermeßlich weit über alle menschlichen Vorstellungen hinaus? Ist es nicht bloßes Bild, bloßer Wunsch, weltferner Traum der menschlichen Seele? Was können die armen kleinen Menschen tun, um diese übernatürliche Friedenswelt herbeizuführen? Müssen sie nicht angesichts des Abgrundes, der die Menschenwelt von ihm trennt, die Hände sinken lassen?

          Aber das ist erst das ganz Wunderbare der alttestamentarischen Botschaft: sie sollen, sie müssen nicht nur hoffen, sie dürfen, sie können auch hoffen. Denn den ungeheuren prophetischen Visionen von der messianischen Endzeit entsprechen als Taten, die zu ihrer Verwirklichung von den Menschen verlangt werden, nicht heroische Kämpfe, gewaltsame Eingriffe, machtvolle schöpferische Umgestaltungen der Welt. Sondern den überschwenglichen Visionen vom Weltfrieden entspricht als Forderung an den einzelnen Menschen das Allerschlichteste: die Forderung der Gerechtigkeit, der einfachen menschlichen Güte. „So spricht der Herr: ‚Haltet Recht und Gerechtigkeit und errettet den Beraubten von des Frevlers Hand, und schindet nicht die Waisen, Witwen und Fremdlinge, und tut niemandem Gewalt, und vergießt nicht unschuldiges Blut!‘“ Diese einfachen, unscheinbaren, fast selbstverständlichen Forderungen: Forderungen an die reine Menschlichkeit des Einzelnen sind es, die im Zusammenhang mit den prophetischen Visionen von der Endzeit immer wiederkehren. Nichts anderes wird zu ihrer Verwirklichung von den Menschen verlangt und immer wieder verlangt als Gerechtigkeit, Liebe, einfache menschliche Güte. Wie nach dem Psalmwort Gerechtigkeit und Friede sich küssen, so fügt sich die geringste Tat der Gerechtigkeit wunderbar in den mächtigen Zusammenhang des Weltfriedens, der Menschheitserlösung ein. Und alle Drohungen göttlicher Strafgerichte, grausamster Zerstörungen und Verwüstungen gelten allein dem Unterlassen der Erfüllung jener allerschlichtesten Forderungen an den Einzelnen gegenüber dem Einzelnen. Denn der Weg zum Leben oder zum Tode, den Gott Seinem Volke durch den Propheten vorlegt, ist kein anderer als der: Entscheidung für oder gegen den Frieden, zu dem der einzige Weg die schlichte menschliche Gerechtigkeit ist.

          Wie ist die stille Sanftmut der göttlichen Forderungen an den Einzelnen zu vereinigen mit dieser ungeheuren Strenge der göttlichen Weltgerichte?

          Wenn wir beiden auf den Grund gehen, so enthüllen sie sich als eines und dasselbe: das ewige „Höre Israel!“ Denn wohl sind jene Forderungen an den Einzelnen sanft, still und heilig; keineswegs aber sind sie anspruchslos und bescheiden; keineswegs sind sie leicht erfüllbar. So können sie nur dem scheinen, der sie nicht in ihrer Wahrheit begreift und damit nicht ihre unermeßliche Entfernung von allem Wirklichen ermißt. Wir Menschen sprechen von Liebe und Güte – aber wissen wir auch, was Liebe und Güte in Wirklichkeit sind? Wer könnte es besser verstehen als gerade wir heutigen Menschen, daß diese Forderungen, in ihrem vollen Ernst erfaßt, die schwersten des menschlichen Daseins überhaupt sind? Ihnen gegenüber ist alles andere – und sei es noch so groß und mächtig – ein Ausweichen vor dem letzten Ernst. Uns Menschen einer Zeit, die von der Erfüllung dieser Forderungen durch ein düsteres, verworrenes Leben, durch Schicksale, Nöte, Krisen aller Art, durch ein grausames Massengeschehen ohnegleichen immer weiter abgetrieben werden, uns, die vom Dienst am Tod und an toten Sachen, lebloser, angesichtsloser als die Bilder aus Holz und Stein, vor denen einst das abtrünnige Israel kniete, menschlich mehr und mehr entkernt werden, – uns muß die Wahrheit klar werden: zur vollkommenen Güte und Liebe zwischen Mensch und Mensch ist der Weg genau so weit wie zur messianischen Erlösung. –Und das ist der unendlich tiefe Sinn der messianischen Botschaft: Mit dem Augenblick, wo der vollkommene Mensch erscheint, ist die Menschheit erlöst.

          Der vollkommene Mensch, der Mensch nach dem Ebenbilde Gottes, wie sieht er aus? Es ist nicht der große, starke, nicht der heldische oder schöpferische, sondern es ist der gute Mensch.

          Der gute Mensch – nie ist ein utopischeres Menschenbild über der Menschheit aufgerichtet worden. Alle Idealbilder der heidnischen Religionen: der Held, der Weise, selbst der, der die Welt der Erscheinung mit dem läuternden Geist durchdringt, sie alle sind natürliche, auf der Basis der Natur erbaute Menschen, sie sind im geschichtlichen Leben möglich und dagewesen. Der gute Mensch in seiner vollen Wirklichkeit: der gottebenbildliche Mensch der vollendeten Gemeinschaft liegt außerhalb der Natur wie außerhalb der Geschichte.

          Nachdem die Wasser der Sündflut sich verlaufen haben, spricht Gott: „Das Dichten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf.“ Der gute Mensch steht also gegen alles natürliche Trachten des Menschen, gegen die Urträume seines Herzens. Der gute Mensch muß erst erschaffen werden, er muß sich selbst erschaffen im Widerstreit gegen alle natürlichen Mächte. Er darf nichts mehr kennen und vernehmen als das Eine. Das sehen wir schon im Beginn der Schrift, vor der Offenbarung: in der stummen, fraglosen Bereitschaft Abrahams für die ungeheuerliche Forderung, den Gottes Geboten selbst widerstreitenden Befehl, seinen eigenen Sohn zu opfern, der nicht nur der einzige Sohn seines Alters, sondern auch die von Gott selbst gegebene Verheißung für sein ganzes Volk ist. Aber als Abraham die Stimme vernimmt, da erlischt alles andere in seinem Geist, da schweigt nicht nur seine Liebe, seine Hoffnung, jede Regung seiner Natur und seines Geistes – da verstummt in ihm auch die allertiefste menschliche Stimme: das Gewissen. Denn was er tun soll, das ist ja die grauenvollste Sünde, ein über alles Denkbare hinaus furchtbarer Mord. Nirgends bricht die Unmöglichkeit der göttlichen Forderung gewaltsamer auf: nirgends, selbst im Buch Hiob nicht, schreitet Er fragloser über die einzelne Seele und ihre Fragen, über ihre Schuld und Unschuld, hinweg. Und daß Abrahams Hand dann im letzten Augenblick angehalten wird, daß der Engel Gottes ihm den Widder zeigt, den er an Stelle des Sohnes opfern soll, das bestätigt nur, was Gott von Abraham gewollt hat: nicht seinen Sohn, sondern seine unbedingte Bereitschaft.

          Die Botschaft Gottes kann nur erfüllt, der Friede in der Menschenwelt kann nur verwirklicht werden durch die schrankenlose fraglose Bereitschaft zum Opfer. Aber Abraham ist noch nicht die äußerste Gestalt. Der gute Mensch in seiner Vollendung ist uns ein einziges Mal im Alten Testament in einer ungeheuren Vision im Kapitel 53 des Buches Jesaja gegeben. Hier ein einziges Mal, schauen wir das Antlitz in seiner sichtbar gewordenen Unsichtbarkeit. Hier ein einziges Mal bricht die Erlösung in die Menschenwelt herein. Wie sieht diese Erlösung, dieser Sieg Gottes, der Friedensfürst, der Friede selbst, – wie sieht das gottebenbildliche Antlitz inmitten der Menschenwelt aus?

          Das Kapitel beginnt mit den Worten: „Aber wer glaubt unserer Predigt?“ Ja, wer vermag ihr zu glauben? Sie ist so fremd, so fern von allem, was wir uns vorzustellen, was wir zu leben zu fassen vermögen. Kein strahlendes Siegerantlitz blickt uns in dem, der den Sieg aller Siege verfochten hat, an. Er ist „ohne Gestalt und Schöne“, sein Antlitz kaum kenntlich vor Schwären und Wunden. „Er war der Allerverachtetste und Unwerteste, voller Schmerzen und Krankheit, wir sahen ihn; aber da war keine Gestalt, die uns gefallen hätte. Er war so verachtet, daß man das Angesicht vor ihm verbarg“... „Aber er ist um unserer Missetat willen verwundet, und um unserer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf daß wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilet...“

Und dieses furchtbare Leid ist eins mit dem ungeheuren Jubelschrei: „Er ist aber aus der Angst und Gericht genommen; wer will seines Lebens Länge ausreden? Denn er ist aus dem Lande der Lebendigen weggerissen, da er um die Missetat meines Volkes geplagt war.“ Denn es ist der vollendete Sieg: „Darum, daß seine Seele gearbeitet hat, wird er seine Lust sehen, und die Fülle haben. Und durch seine Erkenntnis wird er, mein Knecht, der Gerechte, viele gerecht machen; denn er trägt ihre Sünden.“

          Ja, wer vermag dieser Predigt zu glauben? Wer hat ihr je ganz und gar bis zum Ende geglaubt? Vielleicht überhaupt niemand; denn in ihr ist ja das Unerreichbare, das Unmögliche, Ereignis geworden, das Antlitz Gottes in die Menschenwelt eingetreten, das Reich Gottes auf Erden in einer einzigen menschlichen Gestalt verwirklicht. In ihr schlägt es in einer alles Irdische verzehrenden Flamme herein. Die bis in den Abgrund des Leides und der Sünde, durch den Abgrund hindurch stellvertretende Liebe: der menschliche Erlösungswille bis zur letzten göttlich erstrahlenden Erniedrigung: die Arbeit der Seele, die nicht nur das Leid, die auch die Sünde in sich durchwirkt bis zum Grund und sie auf sich selbst nimmt: höchste Reinheit, in der alle Reinheit, sich selbst überwindend, untergeht – wer vermag das zu Ende zu denken, wer dieser Predigt zu glauben, ihre Wahrheit in sich nachzuleben?

          Alles, woran und wovon wir leben: alle Werte der natürlichen und der geschichtlichen Welt, alle Steigerungen und Erhöhungen menschlichen Daseins, alle Herrlichkeit der Erscheinung und des Geistes: Gestalt und Schöne, sind weit zurückgesunken hinter diesem gestaltlosen Bild. So sieht der gute Mensch, die vollendete Güte und Liebe, so sieht Gottes Ebenbild in der Menschenwelt aus. Und noch dieser Mensch spricht zu dem, der ihn als den guten anredet: „Was heißest du mich gut? Niemand ist gut als der alleinige Gott.“

          Das Alte Testament hat den Erlöser der Menschheit, den Messias, den Friedensfürsten dargestellt in der Vollendung der Leidenssendung des Volkes Israel. Die Gestalt des Messias ist dem Alten und dem Neuen Testament gemeinsam. Die Stelle, in der das absolute Opfer alles Menschlichen für Gott und die Menschen herauftaucht, ist die Wand, in der beide Testamente sich berühren. In dieser Gestalt sind sie eins. Und es ist der einzige Unterschied, daß vom Alten Testament aus in der Zukunft gesehen wird, was vom Neuen Testament aus Vergangenheit ist.

          Und damit sind beide wieder durch eine Unendlichkeit von einander geschieden: durch die Unendlichkeit der ganzen Menschenzeit. Dem Juden ist diese Gestalt Hoffnung allerfernster Zukunft: erst am Ende der Geschichte, jenseits ihrer, wartet der Messias. Dem Christen ist die Erinnerung an einmal Dagewesenes, erlebtes Wunder, aufgedrücktes Siegel, gewordene Gnade.

          Aber beide: die christliche Erinnerung wie die jüdische Hoffnung sind nicht starr, sondern lebendig. Die christliche Erinnerung bedeutet in einer unerlösten Welt immer zugleich und immer wieder Hoffnung: Hoffnung auf das Kommen des Reiches. Und die jüdische Hoffnung, die sich an keine Erinnerung, an nichts je Geschehenes anschließt, ist darum nicht leere Hoffnung. Was von außen, von den andern Völkern aus gesehen die leere Unendlichkeit einer unerfüllten Zeit ist, jene Unendlichkeit des bloßen Nicht-Sterbenkönnens, aus deren Vorstellung die spätmittelalterliche deutsche Legende vom ewigen Juden entstand, das ist von innen, vom echten Judentum aus gesehen, die lebendige Hoffnung, an der jede einzelne Seele, an der der Bestand Israels und der Menschheit hängt.

          Diese Hoffnung ist nicht leeres Harren. Sie ist Tat. Sie ist Tat, oder sie ist nichts. Nur das Wirkliche zählt. Daß die Zeit des Judentums die Zukunft, daß sein Inhalt die Hoffnung, daß sein Reich die Wirklichkeit und daß sein höchster Wert die Tat ist – das ist eines und dasselbe.

          Diese Tat kann zahllose Formen annehmen. Sie wird, um wirklich zu sein, sich der Welt einfügen müssen, in der der Mensch jeweils lebt. Sie wird darum in jeder Zeit ein verschiedenes Gesicht haben. Und nur eine ist unabänderlich, über alles gewiß: sie muß dem Frieden unter den Menschen dienen.

          Sobald Israel aufhört, sich im Zeichen dieser seiner Sendung: der Sendung des ewigen Israel zu sehen, ist sein Lebensrecht verwirkt. Dann mag und muß es untergehen. Der Weg zum Leben oder zum Tode, den Gott seinem Volke vorlegt: der Weg zum Frieden oder zum Untergang der Welt, flammt heute von einem blutigen Licht bestrahlt so machtvoll auf, wie nie in der Geschichte. Es steht mitten in der Entscheidung.

          In dieser Weltstunde muß es sich entscheiden, ob der Gott, der sein Volk durch Gerechtigkeit bereiten will, siegen wird. Niemals verhüllten die Wolken des Bösen schwärzer, hoffnungsloser sein Antlitz. Aber niemals auch zeichnete sich der Lichtbogen der Hoffnung Israels leuchtender ab als auf diesem finsteren Grunde. Schon einmal hat Gott sein Volk und durch es die Menschheit in diesem Zeichen wieder an sein Herz genommen.       

          Die einzige Gewähr für die Erfüllung seiner Hoffnung, die Israel besitzt, ist kein Leid: das lebendige Leid um das Angesicht, das es aussondert aus der Entwicklung einer der Sache verfallenden Welt. Einsam und flüchtig, ein Fremdling auf Erden, steht es unter den Völkern. Und in dieser Stellung im Irdischen liegt seine unsterbliche Hoffnung auf das Heil: den Frieden der Welt.

 

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