Ezechiel, der Prophet der Umkehr, und die
Bestimmung des jüdischen Volkes
In: Neue
Wege 36, 1942
Ein
Vortrag.
Unsere prophetenlose Zeit hat
durch den furchtbar aufrüttelnden Geschichtsunterricht, den wir heutigen Menschen
erfahren, doch wieder einen ganz anderen Zugang zu den verschütteten Wahrheiten
der Prophetie, als die dumpferen, schlafenden Zeiten früherer Geschlechter. Die
Geschichte Israels, die immer Wirklichkeit und Symbol zugleich ist, immer in
Zeitlichen zugleich Ewiges aussagt, ist uns durch den Einbruch übermächtig
aufrüttelnder Katastrophen, für die keine rein zeitliche Erklärung ausreicht,
wieder näher gerückt. Und gerade die Zeit des Propheten Ezechiel hat trotz des
unermeßlichen Abstandes in einer Hinsicht eine Verwandtschaft mit der unseren.
Wie die unsere ist sie für die Völkerwelt eine Zeit des Umbruchs, der Grenze
zwischen zwei Zeitaltern, ist sie zugleich eine Zeit der Krise, in der es um
Leben oder Tod des jüdischen Volkes geht.
Der Prophet Ezechiel steht an
einer Weltwende. Er ist selbst ein ungeheurer Mensch der Wende. Mit ihm hebt
ein Neues an. Durch den Zeitpunkt seines Wirkens selbst ist ihm zum erstenmal
seit der Wüstenwanderung ganz konkret das Problem der Existenz des jüdischen
Volkes überhaupt gestellt. Er zuerst steht so Auge in Auge mit dem dunklen
Rätsel, der Anomalie und Paradoxie eines Volksschicksals, das zu allen Zeiten
so schwer in seinem wahren Sinn zu begreifen, schwerer noch zu leben und unter
ständig sich wandelnden, immer aber unausdenkbar schweren Daseinsbedingungen
von einem Volke festzuhalten war: dem Schicksal, auf das das Prophetenwort
hinweist, daß Israel nicht ein Volk ist wie andere Völker.
Ezechiel ist der eigentliche
Prophet des Exils. Ist die Haltung Jeremias, ausgedrückt in den rückwärts
gewandten, der verlorenen Heimat schmerzlich zugewandten Klageliedern, die
seinen Namen tragen, so klagt Ezechiel nicht mehr. Sein Blick ist rein vorwärts
gewandt. Er stellt sich in das Exil als in eine fruchtbare Lage ein. Was Jeremia
verkündet hatte, das ist ihm Gegenwart und Aufgabe geworden. Die harte
Wirklichkeit des Exils selbst wird ihm zu dem Stein, aus dem er, ein gewaltiger
Menschenbildner, eine neue Gestalt des jüdischen Lebens hervorschlägt.
Der Tempel ist zerstört, das
Land innerlich zerfallen, äußerlich verwüstet, das Volk hinweggetrieben, es hat
weder Kultstätte noch Staat noch Heimat mehr. Was tut nun der Prophet mit dem
verstörten Volke? Er klagt nicht mit ihm um das Verlorene. Aber er versucht
zunächst auch keineswegs, es aufzurichten. Er führt es im Gegenteil, indem er
ihm seine eigene Schuld an dem Geschehenen einhämmert, erst in die ganze Tiefe
seines Unglücks hinein. Tiefer, immer tiefer stößt er es hinab in die Nacht
seiner Verlorenheit, um so hindurchzustoßen in den Sinn seines Schicksals. Denn
ihm ist gewiß: durch das Schicksal des Exils selbst will Gott sein Volk an sich
reißen, zu sich emporreißen. Und doch erscheint dies im höchsten Grad
widersinnig. Denn schon in der Heimat hatte das Volk, den leidenschaftlichen
Warnungen und Drohungen der Propheten zum Trotz, fremden Göttern gedient. Im
Exil, in der Zerstreuung unter die anderen Völker mit ihren leichteren,
bunteren, lockenderen Diensten wächst die Gefahr, von ihnen hingenommen zu
werden, unermeßlich an. An diesem Punkt äußerster Gefährdung setzt der Prophet
ein. Der Baum des Volkes ist aus dem heimatlichen Erdreich ausgegriffen, er
wächst und wurzelt nicht mehr. Da wird Ezechiel gewiß: die Wurzelung war
verfehlt. Und nun geschieht das Ungeheure: der Prophet ergreift mit gewaltiger
Hand den im Leeren hängenden Baum, reißt ihn vollends heraus aus dem alten
Erdreich, reißt auch noch die letzten Wurzelfasern, die sehnsüchtig im
Heimatboden hängen, aus, reißt ihn herum in die entgegengesetzte Richtung und
pflanzt ihn in einer ungeheuren Umkehrung gegen alles natürliche Wachstum, die
Wurzeln nach oben, wieder ein.
Diese Umwurzelung, die
Einwurzelung in Gott ist von je der innerste Sinn Israels, und all Forderung
und Verheißung der Prophetie geht in Zeiten, da die Wurzelung sich zu lockern
droht, darauf aus, sie wiederherzustellen. Die geschichtliche Lage zu ihrer Verwirklichung aber fand erst Ezechiel
vor; darum ist sie durch ihn aus der unablässigen Forderung und Verheißung zu
einer geschichtlichen Wirklichkeit geworden.
Aber dafür muß vom Propheten
selbst ein ungeheurer Preis gezahlt werden. Denn was die Propheten Israels von
den Sehern und Kündern der übrigen Antike scheidet und zu völlig einzigen
Gestalten macht, ist, daß sie, so hoch sie in Schau und Überschau über das Volk
sich erheben und seine Schicksale aus ewigen Verhältnissen deuten, doch immer
zugleich dies Volk selbst sind, es in
einer so abgründigen Tiefe und Wirklichkeit sind, daß das Volk sich in ihnen
nicht mehr erkennt und sie von sich stößt. Denn sie allein müssen Schicksal,
Not und Fluch des Volkes zu Ende leben, es in zusammengepreßter Wucht, der Eine
für alle, verwirklichen. Es ist der Gedanke der Stellvertretung, der stellvertretenden Sühnung – wie sollte nicht
der Stärkere die Lasten des Schwächeren tragen? – es ist dieser ganz schlichte,
ganz und gar menschliche, aber eben darum alles Leben in Gerechtigkeit
zurechtrückende Gedanke, den die persönlichen Schicksale aller Propheten
verkörpern.
Indessen: Wie alle Gedanken der
Prophetie ist er schlicht nur als Gedanke; in der Wirklichkeit ist er
übermäßig, furchtbar. Die Last des Ganzen auf dem Einzelnen ist als menschliche
Wirklichkeit untragbar. Darum greift Gott seinen Beauftragten ganz anders an,
als je sonst Menschen angegriffen werden, darum weicht jeder der Propheten am
Anfang vor dem Übermaß des göttlichen Anspruchs zurück; darum führt von Abraham
über Mose, Hiob, Jeremia bis zum Gottesknecht des Jesaja eine einzige Kette
übermäßiger Qualen als Zeichen der Erwählung. Dies totale Hineingerissenwerden
der Person in die Tiefe des göttlichen Auftrags erscheint in seiner vollen
messianischen Weite und Wucht im Kapitel Jesaja 53, wo der von Gott Auserwählte
nicht mehr nur das Schicksal seines Volkes, sondern Leid, Krankheit, Schmach
und Sünde der ganzen Menschheit auf sich nimmt.
Wenn in der Berufung Ezechiels
diese Stellvertretung nicht in gleichem Maß weltweiten, menschheitvertretenden
Charakter hat, so wird doch gerade an ihrer konkreten Besonderheit in wahrhaft
bestürzender Weise klar, was mit dem Einsatz der ganzen Person in seine Sendung
vom Propheten gefordert ist. Zweifach entsetzlich ist das über ihn Verhängte.
Ihm ist bei seiner Berufung die gewaltigste, umfänglichste Gottesvision zuteil
geworden, eine Vision von so übermäßiger, alle Schranken irdischer Sichtbarkeit
sprengenden Gewalt und Deutlichkeit, daß sie als Eindringen in das dem Menschen
verborgene Heiligtum Gottes selbst vor der Öffentlichkeit als Geheimnis bewahrt
werden mußte. Und gerade ihm, dem im Schauen über alles Erhöhten, wird dann in
der Wirklichkeit die demütigendste, schmachvollste Knebelung auferlegt. Nicht
nur darin, daß Gott ihm befiehlt, sich unbeweglich, in Stricke gebunden, erst
390 Tage lang auf die linke, dann 40 Tage lang auf die rechte Seite zu legen,
um so (die Zahl der Tage entspricht der der Jahre der Verfehlung) die
Missetaten des Hauses Israel und Juda sühnend zu erleiden; – diese dem großen Schauenden auferlegte Demütigung und
Qual ist nichts, gar nichts gemessen an der, die ihm als Priester auferlegt wird. Denn Ezechiel ist der Priester unter den
Propheten. Aus altem, vornehmem Priestergeschlecht stammend, bleibt er auch als
Prophet stets Priester. In ihm ist der Gegensatz zwischen dem bewahrend
priesterlichen und dem vorwärtsdrängend prophetischen Geist versöhnt. Derselbe,
der im Exil nach dem Verlust des Tempels wie kein anderer den Dienst Gottes von
allem Kultischen zu lösen und ihn rein in die Unmittelbarkeit des Herzens zu
verlegen wußte, hat spät für die Zeit der Rückkehr in die Heimat ein
symbolisches, bis in alle Einzelheiten gehendes Bild des neuen Tempels und
seines Kults entworfen, das uns beklagen ließe, daß so bei diesem gewaltig
visionären Geist zuletzt anstelle der Menschheitsschau der anderen großen
Propheten ein rein räumliches Bild, anstelle der Menschheitsberufung eine
kultische Wirklichkeit tritt, wenn nicht am Ende dieser räumlich-kultische
Entwurf sich wieder zutiefst mit der prophetischen Tat verbände. Denn nun wird
ihm von Gott das Wasser gezeigt, das unter der Schwelle des vollendeten Tempels
hervorfließt, und Gott selbst spricht zu ihm: „Dies Wasser ... wird durch das Blachfeld fließen ins Meer, und wenn es
dahinkommt ..., so sollen dieselben Wasser gesund werden – ja, alles, was darin
lebt und webt, dahin dieser Strom kommt, das soll leben ... denn sein Wasser
fließt aus dem Heiligtum.“ Diese Speisung alles lebendigen Tuns aus dem
Heiligsten und Reinsten, diese Heiligung der Tat aus dem Bereich des Heiligtums
selbst ist die Grundwahrheit des priesterlichen Propheten.
Und nun geschieht das Unfaßliche:
Gerade diesem priesterlichen Manne wird als stellvertretende Sühnung für sein
Volk etwas auferlegt, was in schroffstem Gegensatz zu allem sonst den Propheten
Aufgetragenen steht. Zu ihm steigt nicht wie zu Jesaja der Engel herab, der ihm
mit glühender Kohle die unreinen Menschenlippen zur Verkündung seiner Botschaft
rein brennt; nein – ihm, dem priesterlichen Propheten, der nie Unreines über
die Lippen gebracht hat, wird auferlegt, während der Zeit seiner Sühnung nur
Speisen zu sich zu nehmen, die mit dem Unreinsten, ja Entsetzlichsten, jeder
Menschenlippe Widerstrebenden: mit Kot zubereitet sind. In solcher Schmach und
Verworfenheit soll der Auserwählte des Herrn die Unreinheit seines Volkes
stellvertretend erleiden.
Ungeheures leuchtet in dieser
grausamen Stellvertretung auf. Wir stoßen in den Kern des Dienstes am Einen
Gott hinab. Er, der Eine, ist der Ganze, der unabdingbar das Ganze fordert. Es
gibt nichts, gar nichts, das davon ausgenommen wäre. Noch in sein eigenes
Heiligtum bricht Gott mit der Übergewallt seiner Forderung ein. Mit einem
gewaltigen Federzug seiner Hand streicht er seine eigene Schrift für diesen
Augenblick wieder aus, hebt er sein allgemeines Gesetz, das seinem Priester
teuerste Heimat, eine zweite heiligere Natur geworden ist, wieder auf, um ihn
hinauszustoßen in das Fremdeste, Entsetzlichste, um ihn unter ein ihm ganz und
gar widerstrebendes, fremdes, und doch nur für ihn allein geltendes Gesetz zu
zwingen. Nicht in Licht und Erleuchtung und Gnade, wie sie ihm im Schauen widerfuhr;
in Grauen, Unreinheit und Verwerfung, in der Verstoßung von Seinem Antlitz, in
der Verstoßung aus Seinem Gesetz selbst muß der Mann Gottes die Aufgabe seines
Volkes verwirklichen. Ein reiner, abgesonderter Priester, hätte er nie die
ganze Wirklichkeit seines Volkes erfahren. So nur, indem er ihnen ihr
Schicksal, ihre Schuld und Buße vorlebt, wird er ganz zu dem, wozu Gott ihn
immer wieder aufruft, zum Wunder, zum
Wunderzeichen seines Volkes. Wunder
aber nicht nur als Zeichen, als
Beweis und Hinweis, sondern auch als das radikal Herumgewendete, das
Übermäßige, Unfaßliche, als Umkehrung gegen alles Gewohnte, Feststehende, als
Einbruch einer völlig anderen Ordnung in alle menschlichen Ordnungen. – Immer
geht Gott so, im Gegensatz zu seinem klaren, allgemein bindenden Weg mit dem
Priester, mit dem Propheten ungebahnte, weglose Wege. Und ganz und gar hat er
in diesem Augenblick den Priester um des Propheten willen preisgegeben. Hätte
der Priester Ezechiel nicht lieber sein Leben gegeben, als derart das Heiligste
zu verletzen, verworfenen Unrat über die Lippen zu bringen? Eben darum hätte
sein Leben nicht genügt. Mehr als sein Leben wird von ihm gefordert. Indem er
das Schicksal seines Volkes verwirklicht, verwirklicht er so zugleich in voller
Wucht die Umkehrung gegen das natürliche Dasein, die sein Auftrag ist.
Und nun bricht es aus ihm
hervor; aus der untersten Tiefe seiner Erfahrung verkündet er dem Volke seine
Erwählung durch den Einen Gott unter allen Völkern der Erde: „Und sollst eine Schmach, Hohn, Exempel und
Wunder sein allen Völkern ..., wenn ich über dich das Recht gehen lasse mit
Zorn, Grimm und zornigem Schelten – das sage ich, der Herr ... Mein Auge soll
deiner nicht schonen, daß ihr erfahret, ich sei der Herr ... Ja, also sollen
sie erfahren, daß ich der Herr bin, wenn ich sie unter die Völker verstoße und
in die Länder zerstreue.“
So sieht die Erwählung des
Volkes inmitten der Völkerwelt aus. Uber das Volk, dem allein unter allen
Völkern der Erde verheißen ist, daß es durch Gerechtigkeit bereitet werden soll, daß es ferne sein soll von Gewalt
und Unrecht, bricht diese gnadenvolle Verheißung in ihrer ganzen irdischen
Furchtbarkeit herein.
Denn die Gerechtigkeit Gottes
offenbart sich als Gericht: als
Gericht über das Volk, dem dies irdische Maße übersteigende Geschenk, das
Jesaja wie Ezechiel ihm als den kostbaren Brautschmuck Gottes umlegen,
angeboten wurde und das es, als ein allzu schwere abgewiesen hat. Nun sollen
sie und die anderen Völker an der Furchtbarkeit seiner Gerichte erkennen, daß er
der allein Gerechte, daß Er, der Eine, der Herr, Herr über Götter und Menschen
ist.
Durch Gericht und Strafe zieht
so der Prophet das Volk gewaltsam aus den Kulten fremder Götter heraus. Und
wenn dies: die Herausreißung des Menschen aus der mythisch-magischen
Existenzform, aus dem Verstricktsein in die Vielheit blinder Mächte der
Grundsinn aller Prophetie ist, so ist wieder dem Propheten Ezechiel ganz anders
als den früheren Propheten die Möglichkeit in die Hand gelegt, diesen Sinn in
die Wirklichkeit überzuführen. Denn nun ist ja die Voraussage Gottes: „Und will euch bringen in die Wüste der
Völker und daselbst mit euch rechten von Angesicht zu Angesicht“ nicht mehr
nur Verkündung einer Zukunft, sondern greifbare gegenwärtige Wirklichkeit
geworden. Angesicht gegen Angesicht, wie nie seit den Zeiten des Sinai, stehen
Gott und Volk einander gegenüber: das Eine Volk von dem Einen Gott. Angesicht,
reines Angesicht, sind sie beide für einander geworden. So, losgerissen von der
irdischen Heimat, verstoßen in die Wüste der Völker, ist das Volk, jeder
Einzelne des Volkes, auch von außen her ganz zurückgeworfen auf sich selbst,
auf die eigene nackte Existenz. Diese Lage hat Ezechiel in großartiger
Wirklichkeit fruchtbar gemacht.
Auch bei Jeremia schon finden
wir das berühmte Wort von den Herlingen,
den unreifen Trauben, die die Väter
gegessen haben und von denen den Söhnen die Zähne stumpf wurden, mit dem
die Vererbung der Sünden der Väter auf die Söhne zurückgewiesen, der Mensch im
sittlichen Bereich rein auf sich selbst gestellt wird. Auch Jeremia schon hat
dies gerechtigkeitsfremde, rein mythische, weil die Seelen in fremde Gewalten
verstrickende Band zwischen den Generationen gelöst und jeder Seele die
Verantwortung ausschließlich für ihr eigenes
Tun auferlegt. „Welche Seele sündigt, die
soll sterben.“ Aber Ezechiel geht weiter. Er erst führt die Verkündigung,
die Gott durch Jeremia dem Volk gibt: „Ich
will mein Gesetz in ihr Herz geben“, wahrhaft zu Ende, führt sie über in
eine neue Lebensgestalt. Denn er macht nicht nur jede Seele von dem Blutserbe
vergangener, nicht selbst begangener Sünden frei, er verkündet nicht nur jeder
Seele den Tod um der eigenen Sünde willen; er löst sie auch noch aus dem
unbedingten Verhängnis um der eigenen
Sünden willen los. Auch die eigene Sünde ist nicht unbedingt todeswürdig. Mit
der Frage Gottes: „Meinst du, daß ich
Gefallen habe am Tode des Gottlosen und nicht vielmehr, daß er sich bekehre von
seinem Wesen und lebe?“, bricht etwas Neues, Gewaltiges in die
Menschengeschichte ein. Mit ihr ist dem Menschen ist jeder einzelnen Seele eine
ungeheure, nie mehr zurückzunehmende Möglichkeit gegeben. Der Mensch ist auch
in sein eigenes Selbst nicht unwiderruflich gebannt, er ist nicht nur dies
starre gegenwärtige Selbst, das sich aus den Taten seiner Vergangenheit
unwiderruflich geformt hat. Zeit ist von Gott dem Menschen übergeben. Das Tor
der Vergangenheit ist nicht endgültig zugefallen; es kann von der Zukunft her
aufgeschlossen werden. Gott gibt dem Menschen den Schlüssel in die Hand; er muß
ihm empfangen und ergreifen. Denn Gott will nicht den Tod des Sünders, sondern
sein Leben. Das Leben aber ist nicht Stillstand, sondern Wandlung. Der Mensch kann sich wandeln, er kann ein
neuer Mensch werden.
Vernimmt man nicht das Brausen
eines Auferstehungssturmes, der lösend durch die Welt geht? Ezechiel hat nicht
nur die Einzelseele entdeckt, sondern ihr lebendiges Heil. „Es soll aller seiner Übertretung nicht
gedacht werden.“ Wir fühlen, wie sich ein ungeheurer Druck von der durch
ein blindes Fatum gefesselten Seele löst, wie ihr Flügel einer neuen Hoffnung
wachsen. Jene einzige Frage, die nach einem Wort des Talmud von dem himmlischen
Richter an jede Seele, die vor ihm erscheint, gestellt wird: „Hast du gehofft
auf das Heil?“, diese Ur- und Kernfrage jüdischen Glaubens hat durch den
Propheten Ezechiel die Möglichkeit zu einem neuen inbrünstigen Ja empfangen.
Denn nun heißt es nicht mehr
nur wie bei Jeremia: „Ich will mein
Gesetz in ihr Herz geben“, und auch nicht mehr nur wie bei Ezechiel selbst:
„Ich will das steinerne Herz aus ihrer
Brust nehmen und ihnen ein fleischernes Herz geben“, sondern nun erwächst
aus beiden Verheißungen zusammen der Aufruf an den Menschen selbst: „Macht euch ein neues Herz und einen neuen
Geist!“ Ihr, Ihr selbst sollt es tun, nicht Gott ohne euch, sondern Ihr
durch Gott! Ihr selbst sollt das Gesetz, das Gott in euer Herz gegeben hat, mit
eurem lebendig gewordenen Herzen erfüllen. Ihr sollt euch ein neues Herz und
einen neuen Geist schaffen, indem ihr umkehrt.
Umkehr: das ist das
Heilswort, das Auferweckungswort, mit dem Ezechiel die im Irdischen entwurzelte
Seele zu sich selbst: zu ihrer echten Heimat aufruft. Wie alle Prophetenworte,
ist auch dieses Forderung und Begnadung zugleich, ist es als Forderung so
nüchtern wie als Begnadung überschwenglich. Umkehr – das ist die unnachsichtige
Forderung, uns gegen alles, was wir sind und waren, herumzuwenden; Umkehr – das
ist die überschwengliche Gnade, die wir nie und nirgends verdient haben. Denn
Umkehr ist nicht freie Tat, nicht Selbstmächtigkeit der Person; sie ist
Ergriffensein des ganzen Menschen von Gott. Nur der ganze und nur der von Grund
aus aufgerüttelte Mensch geht in die Umkehr ein. Die Forderung des Propheten:
„Macht euch ein neues Herz und einen neuen Geist!“ ist eins mit der Verheißung
Gottes: „Und ich will euch ein neues Herz und einen neuen Geist geben.“ In der
Verschlingung beider liegt das Urgeheimnis der von Gott angetretenen Seele, ihr
letztes nächtliches Ringen mit ihm um seinen Segen. Denn Forderung wie Verheißung
sagen dem Menschen: Wenn Gottes Gericht über das Volk ergeht so kannst du mit
der Sühnung einzig bei dir selbst beginnen.
So hat der Prophet, indem er
den im Leeren hängenden Baum des Volkes endgültig ausgerissen und umgekehrt: in
Gott eingepflanzt hat, auch jede einzelne Seele aus ihrem alten Erdreich
ausgerissen und im Erdreich ihres echten Lebens eingepflanzt. In der Umkehrung
des Baumes geschah die Umkehr jeder seiner Blüten. Aus der umgekehrten
Wurzelung des Baumes erwuchs die Umkehr der einzelnen Seele, erwuchs die Seele
in einer neuen Gestalt.
Aber damit erwuchs aus der
Umkehr der Seelen auch eine neue Wirklichkeit des Volkes. Aus der untersten Tiefe der Menschenherzen steigt hier die Erneuerung
des Volkes selbst auf. Wenn die einzelne Seele aus der Sünde zu Umkehr und Buße
sich zusammenrafft, so ist der Kern des Volkes gerettet; es wird Volk in einem
neuen, von allen bisherigen Formen und Daseinsbedingungen gelösten Sinne. Es
ist nicht mehr wie in der Frühzeit Theokratie, Gottesherrschaft im Sinne des
antiken Kultverbandes, indem der Einzelne vor Gott im gemeinsamen Dienst
versinkt, es ist Gottesherrschaft im genau umgekehrten Sinne: als
Aufgerufensein jedes Einzelnen zu sich selbst, zu seiner eigensten
Verantwortung. Es ist Theokratie im Sinne der Demokratie –, einer so radikalen Demokratie, daß ihr einziger
Garant der jede Seele zu sich aufrufende Gott ist – Volk! Welcher Glanz ist um dies Wort, wo es derart aus aller
Verklammerung in äußere Daseinsbedingungen und Formen, in Land, Staat und Macht
gelöst, einzig eine große Gestalt des Menschentums ist! Geeint allein durch
eine Solidarität der Verantwortung, wie sie kein anderes Volk kennt. Denn wo
jeder ganz verantwortlich ist für sich selbst, wo damit das gesamte Leben des
Volkes auf die Verantwortung gestellt ist, da ist jeder verantwortlich für
jeden.
Von dem heutigen roh
naturalistischen Volksbegriff ist dieser durch den weitesten Abgrund getrennt.
Nirgends so klar wie bei Ezechiel wird der radikale Gegensatz der Erwählung des
Volkes durch Gott gegen alle Volksvergottung, Selbstvergottung der Völker
offenbar. Leidenschaftlich eifert er gegen allen nationalen Hochmut, der sich
auf irdische Abstammung, auf naturhafte Herkunft und äußere Daseinsbedingungen
stützt. Tief, so tief, wie er es in seiner eigenen Schmach erfahren hat,
demütigt er in dieser Hinsicht das Volk. Seinem natürlichen Ursprung nach
erscheint es als das niedrigste der Völker. Der Prophet kann nicht genug Worte
für diese Demütigung und Herabsetzung finden. So spricht Gott durch ihn zu dem
Volke: „Deine Geburt ist also gewesen:
Dein Nabel, da du geboren wurdest, ist nicht verschnitten; so hat man dich auch
mit Wasser nicht gebadet, daß du sauber würdest, noch mit Salz gerieben, noch
in Windeln gewickelt. Denn niemand jammerte deiner, daß er sich über dich hätte
erbarmet ..., sondern du wurdest auf das Feld geworfen. Also verachtet war
deine Seele, da du geboren wurdest.“ Furchtbarer kann die Verachtung, das
Weggeworfensein durch die Menschen, nicht ausgedrückt werden. Aber dann fährt
Gott fort: „Ich aber ging vor dir über,
und sah dich in deinem Blute liegen, und sprach zu dir, da du in deinem Blute
lagest: Du sollst leben!“
Du
sollst leben!
Dies Wort göttlicher Erweckung entreißt blitzartig das verachtete Volk der
Schmach seiner irdischen Geburt, reißt es heraus aus Schmach und Tod und erhebt
es über alle Völker der Erde. Nicht unteren Mächten verdankt es sein Leben,
sein Leben hat es allein von Gott.
Aber damit ist es über alle Völker erhöht, nicht in dem, was es ist, sondern in dem, was von ihm gefordert ist, nicht in seiner
Wirklichkeit, sondern in seiner Bestimmung.
Denn es hat den Aufruf zum
Leben nicht von einem Gott unter Göttern, nicht von einem
mythisch-gestalthaften, irdisch vollendeten Gott empfangen, sondern von dem
Einzigen und Einen, der das Ganze ist und das Ganze fordert, der darum nicht
mehr in Bild und Gleichnis dargestellt werden, von dem überhaupt nicht mehr
„Er“ gesagt werden, dessen Name nicht mehr ausgesprochen werden kann, der nur
sich selbst von Ewigkeit zu Ewigkeit ausspricht als Ich: „Ich bin der ich bin.“ Abfall von diesem Gott ist nicht Abfall von
einem Anderen; er ist Abfall des Menschen vom Ich, von seinem Selbst; Umkehr zu
diesem Gott ist – das hat Ezechiel in wunderbarer Kraft deutlich gemacht –
Heimkehr des Menschen zu sich selbst. So erweist sich dieser Gott nicht nur als
ein mächtigerer Gott, nicht als eine Macht unter Mächten, und auch nicht nur
als eine Macht über allen Mächten, sondern als eine Macht völlig anderer Art;
nicht nur als ein mächtiger, sondern
als ein heiligen, heilender Gott, ein
Gott des Heils. Er erweist sich als
der, der von sich gesagt hat: „Ich kann töten und lebendig machen, ich kann
verwunden und heilen – der, wenn je seine Macht über die ganze Erden
ausgebreitet wäre, wahrlich die Tränen hinwegwischen würde von jeglichem
Angesicht.“
Umkehr,
Heilung, Heil, Auferstehung
– es ist eine einzige ineinanderhängende Kette des Lebens, es ist die
Entfaltung aus dem einen lebendig vorgegebenen Keim. Überall verkündet der
Prophet der Umkehr Sterben und Neugeburt, Tod und Auferstehung. Nicht die
Unsterblichkeit, die die übrige Antike kannte; Unsterblichkeit ist in Ewigkeit
fortlaufendes Leben; Auferstehung faßt den Tod in sich, setzt das Gestorbensein
voraus. Bevor wir auferstehen können, müssen wir gestorben sein, ganz
untergegangen sein im Tod. So enthüllt sich als der letzte Sinn des
schrankenlosen Einsatzes des Lebens in die Umkehr die Auferstehung. Damit ist Ezechiel, der Prophet der Umkehr, auch der
Prophet der Auferstehung geworden. Und greifbar, sichtbar wird ihm, der als die
Kraft des Volkes zu Auferstehung in der Einzelseele die Kraft der lebendigen
Umkehr entbunden hat, die wirkliche Auferstehung seines in den Tod versunkenen
Volkes offenbart. Er wird vom Geist des Herrn hinausgeführt auf ein Feld voller
verdorrter Totengebeine. „und er sprach zu mir: ‚Du Menschkind, meinst du auch,
daß diese Gebeine wieder lebendig werden? Und ich sprach: Herr, Du weißt es. /
Und er sprach zu mir: Du Menschenkind, weissage von diesen Gebeinen uns sprich
zu ihnen: Ihr verdorrten Gebeine, höret des Herrn Wort! ... Und ich weissagte,
wie mir befohlen war; und siehe, da rauschte es, als ich weissagte, und siehe,
es regte sich, und die Gebeine kamen wieder zusammen, ein jegliches zu seinem
Gebein. / Und ich sah, uns siehe, es wuchsen Andern und Fleisch darauf, und er
überzog sie mit Haut; es war aber noch kein Odem in ihnen ... / Und er sprach
zu mir: Weissage zum Winde; weissage, du Menschenkind, und sprich zum Winde: So
spricht her Herr, Herr: Wind, Komm herzu aus den vier Winden, und blase diese
Getöteten an, daß sie wieder lebendig werden! ... / Und ich weissagte, wie er
mir befohlen hatte. Da kam Odem in sie und sie wurden lebendig, und richteten
sich auf ihre Füße. Und es war ihrer ein sehr großes Heer ... / Und er sprach
zu mir: Du Menschenkind, diese Gebeine sind das ganze Haus Israel. Siehe, jetzt
sprechen sie: unsere Gebeine sind verdorret, und unsere Hoffnung ist verloren,
und ist aus mit uns ... / Darum weissage und sprich zu ihnen: So spricht der
Herr, Herr: Siehe, ich will eure Gräber auftun, und will euch, mein Volk, aus
denselben herausholen ... / Und sollt erfahren, daß ich der Herr bin, wenn ich
eure Gräber geöffnet und euch, mein Volk, aus demselben herausgebracht habe ...
/ Und ich will meinen Geist in euch geben, daß ihr wieder leben sollt ... uns
sollt erfahren, daß ich der Herr bin. Ich rede
es und ich tue es auch’, spricht der
Herr.“
Er hat es durch den Propheten
Ezechiel getan. Durch ihn ist es ein einziges Mal in der Geschichte der
Menschheit geschehen, daß aus einer gewaltigen nationalen Katastrophe, die
sonst ein Volk in Splitter seelloser Massen zerschlägt, eine tiefere,
lebendigere Menschlichkeit seiner Glieder und damit eine neue Volkswirklichkeit
geboren wurde. Aber damit ist eine geschichtliche Entscheidung höchsten Ranges
gefällt: das Exil, die Loslösung des Volkes von jeder es außerhalb seiner
tragenden Macht und Wirklichkeit ist zum Sinn des Volkes selbst geworden. Und taucht
nicht auch darin eine menschliche Wahrheit überhaupt herauf? Ist nicht das Exil
letzthin Ausdruck des Menschenschicksals überhaupt?
Ist es nicht aller Menschen Los,
heimatlos und flüchtig zu sein auf Erden? – Alle Mächte und Wirklichkeiten, mit
denen die Völker sich verbünden, die sie als gründendes Land unter sich
festlegen, als Mauern des Staates um sich her aufrichten, als schützende
Schilde der Macht über sich halten, verdecken nur diese Grundtatsache des
menschlichen Daseins: die Flüchtigkeit und Vergänglichkeit, die Heimatlosigkeit
des Menschen auf Erden.
Das jüdische Volk allein hat
das allgemeine Menschenschicksal, die Vergänglichkeit, den Tod, den irdischen
Untergang vorbehaltlos in sein Volksschicksal aufgenommen und zum Exil im Exil
vertieft. Aus diesem Annehmen des Todes ist ihm seine Auferstehung erwachsen.
Daß es allein von allen Völkern der Erde seine Verbindung mit den fremden
irdischen Gewalten gelöst, als das einzige Volk ohne Land, Staat und Macht
unter die anderen Völker verstreut als Volk sich erhalten und diese im tiefsten
Sinne widernatürliche Lage mit all ihren tödlich schweren Folgen durch die
Jahrtausende getragen und ertragen hat, das war nur möglich, weil einmal das
Volk sein rein naturhaftes Sein nicht angenommen, weil es den Ruf: „Du sollst leben“, nicht aus der Natur empfangen hat, sondern von Gott. So erwuchs ihm aus dem Annehmen
des irdischen Todes immer neu die Kraft zur Auferstehung. Nicht unsterblich ist
das Volk, es ist durch zahllose Tode gegangen, aber immer wieder ist es
auferstanden.
So liegt auf dem Grunde des
dunklen Erdenschicksals des jüdischen Volkes als der nie bis zum Ende gehobene
strahlende Schatz der immer erneute göttliche Ruf zur Umkehr, der eins ist mit
der Verheißung der Auferstehung.
Uns so schwach, von so
unzähligen Stimmen übertönt der Ruf heute klingt, so verwischt und zertreten
die Spuren in uns sind – die Botschaft der Prophetie geht uns gerade in der
heutigen Welt wieder ganz und gar an. Jener Ursinn der Prophetie: das
Herausreißen des Menschen aus der mythisch-magischen Existenzform, aus dem
Ringen zahlloser blinder Mächte um die menschliche Seele; der ungeheure Kampf
gegen Mythos und Magie, den alle Prophetie kämpft, um die Seele zu sich selbst:
zur Einheit und Ganzheit, zur Verantwortung vor dem Einen zu zwingen, erhält in
unserer Zeit einen neuen vertieften Sinn. Unerhört, über jedes Maß ist ja heute
die Herrschaft der Mächte über den Menschen angeschwollen und reißt ihn, Leib und
Seele, in Fetzen. Wenn heute ein Prophet aufstände, um die Umkehr zu vollziehen
– er fände sich ganz anderen, weit furchtbareren Mächten gegenüber. Nicht
Mächten der Natur, des Lebens, nicht mächtigen blinden, aber doch lebendigen
Gottheiten, sondern spukhaften wesenlosen Dämonen, einer dämonischen Welt
reiner Todesmächte, einer Welt des Todes selbst. Und auch wieder nicht nur
selbstgeschaffenen Götzen aus Hold und Stein, sondern der Herrschaft
selbstgeschaffener antlitzloser Sachen und Maschinen, die der Macht des
Menschen entglitten, in blinder Dämonie über ihn selbst fortrasen und seine
Welt in den Untergang reißen.
Sich gegen die ungeheure Magie
dieser Todesmächte zu wenden, die uns alle mitergreifen, sich damit auch nur
zum Teil aus dem entsetzlichen Alptraum dieser Welt zu lösen, wäre ganz und gar
unmöglich, wenn nicht die Forderung der Umkehr einmal an das Volk ergangen,
wenn nicht diese von allen Todesmächten gewaltsam übertäubte Lebensbotschaft
der Auferstehung von ihm in alle Welt ausgegangen und Ereignis geworden wäre in
der Gestalt dessen, der – höchster, gewaltigster Gipfel des Volkes uns zugleich
sein Umschlag und Ende – durch seine Göttlichkeit die Weltzeit in eine leere
und in eine erfüllte Zeit gespalten hat.
Aber wenn alle Völker diese Botschaft
heute in den blutigen Grund stampfen und doch durch die ewige Vertretung
aufgenommen sind und bleiben – das Volk, von dem sie ausgegangen ist und das,
indem es einmal diese Vertretung ausgeschlagen hat, immer noch vor ihrer Verwirklichung in der leeren Zeit steht: das Volk, in dem die
Botschaft als unerfüllte, als reine Kraft der Sehnsucht und des Wollens
weiterbrennt, kann dies nicht tun, ohne sich selbst aufzugeben. Denn der Ruf
Gottes: „Du sollst leben!“ wäre mit dem Augenblick verklungen und damit seine einzige Lebensquelle versiegt, wo es
haltlos dieser Wirklichkeit verfiele, wo es nicht mit jedem Atemzug sich gegen
sie wendete, mit seinem ganzen Sein lebendig aus ihr umkehrte.
Es gibt in der Tat keinen
großen modernen Juden, der das nicht getan, der nicht in seiner besonderen
Weise seinen Geist lebendig wider die heutige Wirklichkeit gestemmt hätte. Ich
möchte das nur an einem einzigen, besonders klaren und schönen Beispiel
andeuten. Ein Wort des Talmud sagt: „Alle
Termine sind abgelaufen, und es gibt allein noch die Kraft der Umkehr.“
Dies ist reinste konzentrierte prophetische Wahrheit. Die Zeit als bloßer
Ablauf, wie wir sie zu sehen gewohnt sind, gilt in der Prophetie nicht mehr.
Der Ablauf ist umgewendet, umgekehrt in die reine Gegenwartskraft des Menschen.
Wo begegnen wir dieser Wahrheit heute wieder? Die Zeit als unsere eigenste,
innerste Kraft, als das von uns gegen sich selbst Herumzuwendende, als
lebendige Kraft unserer Seele, unseres Geistes, die es dem Ablauf selbst
entgegenzustemmen gilt: so hat sie ein großer moderner jüdischer Denker aus
heutigem Wissen wieder aufgeschlossen: Henri
Bergson. Diese Zeit, die unser ist, die aller ist und durch uns erfüllt
werden will, diese Zeit, die wir selbst sind, ist in der alten wie in der neuen
Wahrheit reine Kraft der Umkehr. Wie
durch ein verworrenes Palimpsest ist in dieser großen Konzeption des heutigen
Denkers die Urschrift der Prophetie durch alle späteren Schriften, alle
geschichtlichen Wahrheiten und Wandlungen des Geistes hindurchgedrungen. Und
wenn es seither im abendländlichen Denken keine Konzeption von Zeit gibt, die
nicht an diese große Neuentdeckung anknüpfte, so findet das Judentum durch sie
sich einem durch Jahrtausende von ihm Getrennten wunderbar bestätigend wieder
nah. Hinter der bloßen Menschenzeit taucht damit eine andere Zeit, taucht die
Zeit des Psalmwortes heraus: „Denn
tausend Jahre sind vor dir wie der Tag, der gestern vergangen ist, und wie eine
Nachtwache.“ Was sind alle Wandlungen der Geschichte gegenüber dieser
unwandelbaren Zeit einer wahrhaftigen inneren Wirklichkeit? –
Damit aber, daß so seiner
inneren Wirklichkeit nach das jüdische Volk in eine besondere, nur ihm eigene
Zeit gestellt ist, daß für sein eigentliches Dasein die Zeit als allgemeine
nicht zählt, daß es damit an den zeitlichen wie an den räumlichen Ordnungen der
Völker, so sehr es in sie hineingestellt ist und in ihnen mitlebt, ja, daß es
an ihrer gesamten Zeitrechnung selbst im strengen Sinne keinen Anteil hat,
steht es in jedem Augenblick inmitten der Zeit außerhalb der Zeit. Daß es durch
sein Schicksal aus jedem festen Raum, durch seine Bestimmung aus jeder festen
Zeit herausgehoben ist, daß so der jüdische Mensch in doppeltem Sinne der
festen Prägung entbehrt, hat seinen Geist und seine Seele tief bestimmt. Immer
wieder erscheinen uns, wenn wir auf die repräsentativen jüdischen Menschen und
von ihnen auf unsere Welt blicken, die Juden als die warmen, lebendigen Tränen,
die durch die erstarrten Ordnungen der Welt hindurchrinnen, um sie erlösend
aufzutauen. Immer wieder erscheint dies – wie so tief und klar auch bei
Bergson, der alles „raidissement“, alle Versteifung des Lebendigen überhaupt
leidenschaftlich verwirft – als der innerste Sinn des jüdischen Geistes, dem
einmal für immer das Gute als das Leben, das Böse als der Tod vorgelegt wurde.
Ganz und gar fremd ist diesem Geist das öde, tote, trennende Zwischen, das die
Völker immer höher um sich her auftürmen; ganz und gar fremd ist ihm eine
Volksgemeinschaft, die alle ihre lebendigen Kräfte in den Dienst des Todes
stellt. Nicht gegen ein bestimmtes Volk steht er, sondern gegen den heutigen
totalen Zerfall des Volksbegriffs durch das Übermaß der Mächte, die die Völker
zu ihrer Bewahrung in sich aufgenommen haben und durch die sie in ihren
Untergang und in den Untergang alles Menschlichen hineingerissen worden sind.
Wohl ist die gesamte heutige Jugend generationsmäßig, schicksalsmäßig durch
alles, was sie an Wirklichkeit in sich aufnimmt, in diesem Sinne angefochten;
aber ein Mensch, der sich der ungeheuren magischen Kräften, die von diesem
Weltwirrsal ausgehen, wahrhaft, nicht
nur mit seinem Verstande (der Verstand kann immer irren, und gewiß in einer
Zeit wie der unseren) – wer sich ihnen mit seinem Herzen verschriebe, würde im selben Augenblick aufhören, Jude zu
sein. Auch der leidenschaftlichste Zionist, und gerade der leidenschaftliche Zionist, darf und kann ja niemals vergessen, daß
über Zion das Wort gesprochen ist: „Mein
ist das Land, spricht der Herr“, daß Zion im eigentlichen Sinne unser ist nur als heiliges Land, daß auch über ihm, und gerade über ihm, das Gesetz
der Umkehr aus allen nur natürlichen Ordnungen steht. Und wie sehr der echte
Zionismus: die glühende Hingabe und Aufopferung einer ganzen Jugend in die
Wiederbelebung der gestorbenen Heimat im Aufbauwerk Palästinas – allem, was
sich dort fremd und störend einmischt, zum Trotz – letzthin in diesem
Zusammenhang steht, was die echte Hoffnung, das wahre Ziel des Zionismus ist,
das spricht klar das Wort des hebräischen Dichters Bialik aus: „So viel Schweiß, so viel Blut, so viel Liebe
wird in den Boden von Erez Israel eingesenkt, daß der Bauch der Erde früher
oder später schwanger werden und ein Prophet von ihr ausgehen wird.“ –
Mit dieser übernatürlichen
Hoffnung im Kern seines natürlichen, mit dieser menschheitlichen Hoffnung im
Kern seines nationalen Daseins ist freilich das jüdische Volk heute ganz, weit
tiefer noch als zu der Zeit Ezechiels in die Wüste der Völker verstoßen. Denn
gewiß: die widernatürliche Stellung des winzigen Volkes, das mit seiner
Wahrheit für alle und wider alle steht, muß teuer bezahlt
werden. Sie muß um so teurer bezahlt werden, je mehr sie in der wachsenden
Überwältigung durch die Umwelt die Klarheit ihres Sinnes einbüßt. Der im
Irdischen entwurzelte Baum wächst fremd, und je mehr auch seine Wurzeln im
oberen Reich sich lösen, um so unkenntlicher, haltloser und ungestalter in die
Völkerwelt herab. Wir selbst haben keine Freude an ihm; wir tragen Leid um
seine Ungestalt. Und dennoch, trotz allem: Dies fremdartige, im Irdischen
entwurzelte und nun auch aus der echten Heimat weithin ausgewurzelte Volk,
diese düstere Volkswirklichkeit ohne Glanz, ohne die irdische Lieblichkeit der
Völker, dies Bild ohne Gestalt und Schöne: Volk ohne die äußeren Bindungen und
Gewalten, ohne jeden äußeren Zusammenschluß, der ihm Schutz böte gegen die
Mächte der Zerstörung, die jede irdische Form umlauern, und tausendfältig
diese, die sich von allen gewohnten Formen abhebt, ist – und es ist dies auch
heute noch – der äußerste, radikalste Begriff von Volk, der je auf Erden
erschienen ist. In ihm spüren die trüben Gewalten, in die die Völker zu ihrer
Bewahrung sich verstricken, und je abgründiger diese Verstrickung ist, um so
mehr, ihren echten Feind. Denn in diesem Volksbegriff, dieser Volksform, die
einzig für sich selbst steht, ihrem Sinn, ihrer Bestimmung nach einzig
Menschliches verkörpert, – wächst unaufhaltsam der Keim, gegen dessen
Entfaltung die ganze land- und staat- und machtgebundene Völkerwelt, ihrer
wurzelhaften Zerrissenheit zum Trotz, wie ein
Mann steht und aufsteht: der Keim des Friedens.
Aber auch dieser Keim – und
gerade dieser – entfaltet sich ja in dieser Volksform keineswegs von selbst. Wir müssen ihn entfalten. Und mit der
Entfaltung dieses Keimes erst stoßen wir hinab in die allerletzte Tiefe dessen,
was Umkehr bedeutet, was die gewaltige Schlichtheit der Forderung meint, mit
uns selbst, mit dem vorbehaltlosen Einsatz unseres Selbst zu beginnen. Verwirklicht finden wir ja den Frieden
nie und nirgends, verwirklicht ist er nicht einmal im stellvertretenden Wunder
des Ezechiel, verwirklicht ist er einzig in der dunklen, unirdisch
aufstrahlenden Gestalt dessen, der die Umkehr bis zum letzten Ende vollzog, der
sich bis in den Tod hinein einsetzte, auf dem all unsere Krankheiten und Sünden
lagen, „auf daß wir Frieden hätten“.
Entsinkt uns nicht der Mut?
Aber nun geschieht wieder das Wunder. Was die Propheten zur Verwirklichung
ihrer überweltlich großen Friedensvisionen von den Menschen fordern, sind nicht
mächtige, weltumwälzende Taten, sondern es ist immer wieder das
Allerschlichteste, Nüchternste, Bescheidenste, jedem Erreichbare: das einfach
Menschliche. Umkehr ist ja beim Menschen nicht Erfüllung, nicht Vollendung; sie
ist Beginn, Neubeginn, ein erster noch zagender Schritt in umgekehrter
Richtung. Die schon am Sinai vernommene, von Ezechiel machtvoll wiederholte, so
bescheidene Forderung: „Du sollst den
Fremdling in deinen Toren halten wie dich selbst“ – diese
allerschlichteste, primitivste, im Grunde selbstverständliche Forderung der
Umkehr von dem natürlichen Herzen, das böse ist von Jugend auf, ist der
unscheinbare Same, aus dem der weltüberschattende Baum der Menschheitsfriedens
aufwächst. Aber wenn diese Forderung einfach, selbstverständlich ist, horchen
wir heute nicht auf? Beginnen wir nicht zu begreifen, welch unermeßlicher
Abstand auch noch die bescheidenste Forderung der Prophetie von ihrer Erfüllung
trennt? Hier gibt es ja keine Ausflucht, bei aller Bescheidenheit des Anspruchs
kein Mehr oder Weniger. Das „Ganz sollst
du sein mit dem Ewigen deinem Gott!“ hängt auch noch über der
unscheinbarsten prophetischen Forderung und rückt sie ins Unbedingte. Das aber
bedeutet, daß der Abgrund zwischen dem winzigen, verborgenen, ungreifbaren
Punkt unseres Ich, der uns als einziger Ansatzpunkt gegeben ist – und dem ganz
und gar Unerschwinglichen: dem neuen Himmel und der neuen Erde, dem
Gottesreich, dem Friedensreich der Propheten, nicht tiefer ist als der Abgrund,
der uns selbst von diesem winzigen, immer wieder sich uns entziehenden und doch
allein zu ergreifenden Punkt unseres Ich trennt. Damit erst stürzen wir ganz in
das dunkle Geheimnis und Wunder der Umkehr hinab. Wir erkennen: sie ist selbst
schon ein erster Schritt auf dem
Boden des Reiches, sie ist der erste dämmernde Anbruch des Reiches selbst. Und
das erweist sich wieder in großer Schlichtheit daran, daß sie, die begonnen
werden kann nur am letzten, einsamsten Punkt des Ich, offenbar werden kann nur
am Bruder.
Und damit ist zugleich das
messianische Friedensreich, letzthin Zeichen und Ausdruck für die menschliche
Unerfüllbarkeit der Aufgabe, dennoch ganz und gar nicht abstrakt, unwirklich
oder traumhaft; es beginnt in unserem Leben so bescheiden wie konkret und
wirklich: In einem freundlichen, segnenden Blick, in einer Tat schlichter
Liebe, brüderlicher Geduld, in einer gütigen Handbewegung; in einem so winzigen
Keim, daß wir ihn als Umkehr noch gar nicht erkennen und doch im innersten
Herzen als gegen das Weltleid und die Weltschuld gerichtet spüren, hebt an, was
durch das brennendste Ringen, die dunkelsten Abgründe menschlichen Bemühens
nicht verwirklicht, durch Blut und Tränen, durch Not und Tod ganzer
Geschlechter nicht erstrickt, emporwächst zu der überschwenglichen
Friedensbotschaft der Propheten. –
Ich rede nicht von fernen,
vergangenen Dingen. Unsere Aufgabe besteht. Sie ist noch nie und nirgends
erfüllt, darum durchaus zukünftig, und damit gegenwärtig: in der immerwährenden
Gegenwart des göttlichen Anspruchs und des immer noch bestehenden Volkes, an
das er zuerst ergangen ist. Ist aber das jüdische Volk als Volk in diesem Sinne
nicht längst gestorben? Aber gestorben war auch das Volk Ezechiels; wie bei ihm
geht es um die Auferstehung. Und es
gibt für sie einen geschichtlichen Fingerzeig. Der jüdische Mensch ist so tief
in die heutige Welt mitverstrickt, daß vielleicht nur sein Ausgestoßensein uns
ihr vor dem völligen Verschlungenwerden durch sie bewahrt. Darum ist es dies
ihn so tief entkräftende Schicksal selbst, aus dem er die Kraft gewinnen muß,
sich ihr mit allem, was er ist und tut, entgegenzuwenden. In einer Welt, in der
das Selbst mehr und mehr zerfällt, in der die Einzelseele, in genauer Umkehrung
gegen ihre strenge Bindung in die antike Kultgemeinschaft, sich auflöst in
leere Masse, muß das Volk, das anders, brennender, schmerzlicher zum reinen
Ichsein aufgerufen ist als die anderen Völker, sich immer neu herausreißen aus
einem Erdreich, das nicht das seine ist, muß es lebendig aus ihm umkehren.
Ich weiß: alle, aber auch alle
Mächte der Zeit stehen dieser Umkehr entgegen. Im Grunde haben wir heutigen
Menschen ja nicht einmal unser Selbst mehr, an dem wir ansetzen könnten; es ist
uns von dem Mächten der Wirklichkeit und des Geistes gleich sehr entrissen.
Aber auch wenn wir nicht bis zu ihm vordrängen, es nicht bis zum Ende ergreifen
könnten: es geht um die Haltung, um die Leidenschaft der inneren Haltung. Wenn
wir auch nur einen bescheidenen Zipfel von dem gewaltigen Erbe der Prophetie
festhalten wollen – und wozu sonst lohnte es sich, uns als Volk zu erhalten? –
liegt nicht in ihr unser einziges, unverlierbares Geschenk an die Menschheit?
liegt nicht in ihr immer, zu allen Zeiten, unsere einzige, wahrhafte Größe? das
einzige, aber auch das echte Daseinsrecht unserer tief problematischen Existenz
unter den Völkern? – dann müssen wir auch heute, und gerade heute wieder, wo
sie reinste Gegenkraft einer Welt ist, – die Aufgabe ergreifen, die mit unserer
Volksform gegeben ist und mit deren Verleugnung sie selbst zerfiele.
Daß es niemals, zu keiner Zeit,
in keinem Raum für uns eine höhere Aufgabe gibt als diese, dafür findet ein
Wort einer mittelalterlichen Frauenbibel einen wunderbar endgültigen,
eigentümlich modernen Ausdruck: „Wenn
selbst die Kinder Israel Sterndienst tun, und es ist Friede unter ihnen, dann
kann Gott sie nicht strafen.“
Diese schlichte gewaltige
Wahrheit: daß die Friedensgesinnung seiner Kinder, die beginnende
Verwirklichung des Friedens in jeder Gemeinschaft, Gott selbst ihnen gegenüber
die Hände bindet, sagt, daß mit dieser Verwirklichung sein Reich begonnen hat:
sein eigenstes Reich, in das Gott selbst sich dienend einfügt. Daß er dies nach
dem alten Wort auch noch in einer Zeit des radikalen Abfalls von Ihm selbst
tut: diese äußerste Erhebung der Verwirklichung seines Reiches noch über den
unmittelbaren, den kultischen Dienst an Ihm ruft uns seine Entscheidung im
Schicksal des Ezechiel gegen den Priester, den Mann des Dienstes, für den Propheten, den
Mann der Stellvertretung, den mit seiner ganzen Kraft das Menschliche
vertretenden Menschensohn zurück.
Menschensohn,
Menschenkind!
Es ist dieser Name, in dem Ezechiel immer wieder mit ungeheurer
Eindringlichkeit von Gott zu seinen Verkündungen und Taten aufgerufen wird. In
diesem Namen sich wir alle mitenthalten: wir, nicht nur das Volk, sondern alle Menschen, auch in der äußersten
Ferne und Entfremdung, heute und immer. Menschensohn – das ist das
Friedenswort, das Gnadenwort, in dem Gott die Menschheit stellvertretend eint.
In ihm ist die Verheißung beschlossen, mit der der Prophet der Umkehr durch
sein Volk hindurch die Menschheit zur Heimkehr in ihre echte Heimat aufruft: „O ihr Schafe, ihr Schafe meiner Weide, dann
werdet ihr Menschen sein, und ich euer Gott, kündet der Herr, mein
Gebieter.“