Das Buch über die Propheten*

 

In: Neue Wege 42, 1948

 

*Leonhard Ragaz: Die Bibel. Eine Deutung, Band IV: Die Propheten. Diana Verlag, Zürich 1948.

 

Der vierte Band des Bibelwerkes von Leonhard Ragaz führt uns in das Zentrum des ganzen Werkes hinein, weil in ihm dessen Grundwahrheit in ihrer ganzen Mächtigkeit und Gegenwärtigkeit hervortritt. Es ist die geschichtsschöpferische Kraft der Prophetie, auf die schon im ersten Band, der „Urgeschichte“, in der Deutung der göttlichen Schöpfung hingewiesen ist, auf die dann alle folgenden Bände hinzielen, die im Neuen Testament auf ihren Gipfel steigen wird und auf der die gesamte Geschichtserfassung von Ragaz ruht.

Diese neu in die Welt der Menschen eintretende Kraft sehen wir in diesem Buch entspringen. Die Zeit, in der die Propheten Israels lebten, war, wie stets das Geschehen unter den Völkern und in einer Steigerung, die fast der heutigen gleichkommt, ein Chaos von Katastrophen, blutigen Kriegen, Zusammenbrüchen gewaltiger Weltreiche, des Abfalls von Gott und der Schändung des Heiligen. Es wäre auch in Israel und für immer ein sinnloses Chaos von Blut und Tränen geblieben, wenn nicht von allen Völkern der Erde allein zu diesem das Wort gesprochen worden wäre: „Du sollst durch Gerechtigkeit bereitet werden, du sollst ferne sein von Gewalt und Unrecht.“ Diese neue und unerhörte Verheißung Gottes durch den Mund der Propheten, die auch die ganze Forderung der Prophetie in sich schließt, ist es, die aus dem blinden sinnverlassenen Treiben der Völkerwelt Geschichte, von Gott aus erblickte und im Gewissen einiger weniger Menschen verantwortete Menschheitsgeschichte, gemacht hat.

Das Neue und Unerhörte dieser göttlichen Verheißung und der Verwirklichung diese Auftrags durch die von Gott dazu bestimmten Menschen ist es, was Ragaz uns in diesem Buche vorlegt. Er gibt und deutet in ihm die Geschichte der Prophetie Israels im ganzen in dem wunderbar klar erblickten Bild der einzelnen großen Propheten. Aber als die Krönung und Zusammenfassung des ganzen Buches erscheint mir das Kapitel, das „Der Prophet als Mann Gottes“ überschrieben ist und in dem das Wesen und Schicksal des Propheten, das in seinem Übermaß unendlich schwer erfaßbare Geheimnis, das die Prophetie ist, in ebenso schlichten wie gewaltigen Worten herausgearbeitet ist. Nur ein Geist, in dem selbst ursprünglich Prophetisches lebte, konnte so das Wesen der Prophetie in ihrem Eigensten erfassen.

Der Prophet ist – das zeigt sich in jeder seiner Verkörperungen – vor allem der Mensch, der durch eine andere Art von Wahrheit, durch ein anderes Erkennen, ein anderes Gottesverständnis aus der Menge der Menschen herausgehoben ist. Es ist „die Wahrheit als Verständnis des lebendigen Gottes, die sich nur in seinen Wegen mit den Menschen und damit allein in der Geschichte kund tut“. Es geht für den prophetischen Menschen damals wie dann zu allen Zeiten allein darum, „den Wegen Gottes in der Geschichte nachzugehen, seine Gedanken mit und über den Weltbegebenheiten zu verstehen und sich danach zu verhalten. Vor allem gilt es Gott in den großen Wendungen der Geschichte, und besonders in ihren Katastrophen, zu verstehen. An solchen Wendungen ... tritt der Prophet auf ... Er sieht Gott, wo andere ihn nicht sehen. Er versteht Gott, wo andere ihn nicht verstehen. Er sieht Gott an den unerwartetsten Stellen: er versteht Gott in seinen paradoxesten Gedanken.“

Damit ist auch schon ausgesprochen, wie schwer und unmöglich die Menschen den Propheten und sein Wahrheit verstehen können, wie schwer es vollends für sie ist, seine Wege zu erkennen und zu beschreiten. Sie können die Wahrheit des Propheten nicht verstehen, weil sie niemals eine abstrakte, rein gedankliche, vom Ganzen der Wirklichkeit abgelöste und damit ein- für allemal feststehende, sondern immer eine lebendig wirkliche und damit sich wandelnde, nur in immer neuer Gestalt erfaßbare ist. Sie können die Wege des Propheten nicht verstehen und gehen, weil sie für das gewöhnliche, am Alten, Gewohnten haftende Auge noch gar nicht sichtbar sind, weil sie ihm so als bloßer Wahn erscheinen müssen. So unfaßlich, so unsinnig erschienen den Menschen diese übermäßigen Gestalten, „daß ihre Beurteilung der Erscheinung des Propheten zwischen den Kategorien der Verrücktheit und des Verbrechens schwankt“. Aber der Prophet wird für die Menge der Menschen nicht nur zu einem unfaßlichen und gestörten, sondern auch zu einem gefährlichen Menschen dadurch, daß er aus seinem tieferen Wissen um die Wahrheit Gottes und seiner Wege alles ihnen Gewohnte und Vertraute, alles Bestehende und Gestaltete, alle ihre Ordnungen und Werte sprengt. Dies ist vor allem das Kennzeichen des Propheten, daß es ihm in allem, was er spricht und fordert, allein um Wirkliches, um die Wirklichkeit der Menschen geht. Denn „ein wirkliches Wort Gottes bleibt nicht im ‚religiösen Raum’, sondern schlägt wie der Blitz in die Welt ein“. Wie sollten die Menschen vor der Gewalt eines solchen göttlichen Blitzes nicht erschrecken, die alles Ihre zum Auffliegen bringt? Daß die Berührung durch den Blitz eines Gottes den Sterblichen zerschmettert, wusste auch schon die heidnische Antike. Hier aber, in der Prophetie, wird nicht nur der einzelne Sterbliche vom Blitzstrahl Gottes getroffen, sondern die ganze Welt der Menschen, die Wirklichkeit, die Gemeinschaft selbst. Und der Mensch, durch den dieser furchtbare Blitz die Welt trifft, ist der Prophet.

So hat Ragaz mit der ganzen Größe der Prophetie auch die ganze Schwere des prophetischen Schicksals unter den Menschen gesehen. Er hat die grenzenlose Einsamkeit gesehen, zu der der Prophet durch seinen göttlichen Auftrag unter den Menschen ausgesondert ist. Das Wort Jeremias: „Nie saß ich im Kreise der Fröhlichen, daß ich mitgejubelt hätte. Wegen Deiner Hand saß ich einsam“, spricht ihm die ganze Verlassenheit des von Gott Erwählten unter den Menschen aus. Und doch hat er in dieser menschlichen Einsamkeit des Propheten noch nicht das Schwerste im prophetischen Schicksal gesehen ... Weit schwerer wog ihm das Leiden, das dem Propheten dadurch widerfährt, daß auch er, der Mensch der ungeheuersten Verantwortung für das Ganze der Gemeinschaft, als Mensch nicht vor Irrtum geschützt ist. Und am allerschwersten und endgültigsten sah er die irdische Existenz des Propheten dadurch gefährdet, daß er selbst vom Blitz jener unbedingten Wahrheit getroffen ist, in der Gott sich erweist als „ein Feuer, ein Hammer, der Felsen zerschmeißt“. Ragaz spricht diese Wirkung der Wahrheit Gottes auf den Propheten in dem Wort aus: „Das Absolute, das mit dem Propheten in das Endliche und Natürliche eindringt, muß auch die Natur des Propheten zersprengen.“

Und doch: nachdem er alle nur menschlichen, alle wissenschaftlichen, gedanklichen, und am schroffsten alle psychologischen Deutungen von dem unergründlichen Geheimnis des prophetischen Seins und Schicksals abgewehrt hat, findet er selbst zuletzt dessen einzige wirkliche und erschöpfende Deutung in dem wunderbar einfachen Wort: „Es ist die natürliche Gottesnähe des Propheten.“

Und damit springen plötzlich alle Quellen der ungemessenen Seligkeit auf, die in dem Leidensschicksal der Propheten verborgen sind und die sich nun als lebendige Wasserbäche über die ganze Prophetie ergießen: jene Ströme göttlicher Begnadung, deren kein anderer Mensch je teilhaft werden, die er nicht einmal mit seiner Ahnung erreichen kann. Und so hat es trotz aller bis an den Rand des Todes führenden Bedrängnis, trotz dem verlassenen Aufschrei des Elia: „Es ist genug, Herr, so nimm denn meine Seele!“ dennoch „nie einen Propheten gegeben, der gewünscht hätte, nicht ein Prophet zu sein.“ –

Ragaz hat dies machtvolle Bild der prophetischen Sendung, prophetischen Schicksals, prophetischer Begnadung an den Propheten Israels abgelesen; er hat es aber in immer neuen Andeutungen durch die Geschichte der christlichen Welt weitergeführt. Er hat damit – wie ausführlicher in seiner „Geschichte der Sache Christi“ – etwas wie eine Andeutung jener den sich wandelnden Zeitgeschehnissen entsprechenden neuen Bibel gegeben, die Christoph Blumhardt gefordert hat und die Ragaz selbst in einer geschichtsphilosophischen Darstellung noch zu verwirklichen hoffte. Die Botschaft vom Reich Gottes und seiner Gerechtigkeit, die durch die Propheten in die Welt gekommen ist, war auch hier wie immer die Wahrheit, vor der ihm alle andern Wahrheiten versanken. Das Gebet um das Kommen des Reiches, das das erste und letzte seiner Gebete war, gewinnt in diesem Buch in einziger Weise Gestalt. In diesem Sinne dürfen wir es als eines der kostbarsten Vermächtnisse von Ragaz an uns Überlebende begreifen.