Die Brücke
In: Der
Jude, Sonderheft 1, 1925
Wenn für die Lösung eines jeden
Problems die Vorbedingung ist, daß es klar formuliert, in seiner Stellung
scharf und eindeutig umrissen sei, so erscheint jeder Losungsversuch des Judenproblems
in Deutschland von vornherein zum Scheitern verurteilt. Denn gerade die
Verwischtheit und Vielfältigkeit, das undeutliche Ineinanderübergehen aller
Bezirke und Sphären ist ja das, was es dem Deutschen wie dem Juden so sehr
erschwert, zu ihm rein und entschieden Stellung zu nehmen. Alle ernsthaften
Lösungsversuche von beiden Seiten – meist Teilversuche auf irgend einem
speziellen Gebiet – sind erschwert und verwirrt dadurch, daß wie ein
ungestalter Schatten hinter ihnen die anderen ungelösten Seiten des Problems
auftauchen.
Und doch birgt es in seiner
innersten Tiefe einen einfachen Kern, der, bis vor kurzem noch fast
unkenntlich, in der heutigen Lage klarer als je zuvor seit dem Bestehen eines
relativ freien Judentums in Deutschland sich ausprägt. Rein auf ihr
Wesentliches hin betrachtet scheint mir – der ganzen wilden Hochflut des
Antisemitismus zum Trotz, der diese tiefere Wirklichkeit überströmt und der
anzeigt, wie unmeßbar weit es noch bis zur tatsächlichen Lösung des Problems
sein mag – die Situation zwischen Deutschen und Juden heute weit einfacher und
klarer, als es noch vor zwei Jahrzehnten, ja vor einem Jahrzehnt denkbar
schien.
Dieses letzte Jahrzehnt vor
allem hat die entscheidende Veränderung geschaffen. Nirgends in Europa – von
dem wir Rußland ausnehmen – hat sich ja der Umschwung in den grundlegenden
Tendenzen des Völkerlebens, den dies Jahrzehnt gebracht hat, deutlicher und
erschütternder kundgegeben als im Leben der Deutschen und der Juden. Nirgends
hat er in solchem Maße zugleich mit der äußeren Lage die innere und durch sie
die geistige Grundhaltung entscheidend verändert. Denn dieser Umschwung, von
außen gesehen das Zerbrechen einer Weltordnung, das sich in den ungeheuren
realen Geschehnissen und Machtverschiebungen des letzten Jahrzehnts teils
ankündigt, teils bereits vollzogen hat, bedeutet von innen her, von der Seite
des Geistes gesehen, das Ende der Weltstunde, die mit dem Augenblick begann, in
dem sich vor dem Auge des größten Schauenden, für alle Nachwelt sichtbar und verpflichtend,
über dem Reich der Verwirrung und des Grauens ein Reich der gesetzhaften
Klarheit als sein alles Wirkliche überstrahlendes Urbild und Vorbild entband.
Diese Weltstunde, die die Wirklichkeit zerfällte und damit ihren Lebensnerv
zerschnitt, scheint erst jetzt nach fast zweieinhalb Jahrtausenden endgültig
abgelaufen.
Erst in unserer Zeit, in der
unter einer noch nie dagewesenen äußeren und inneren Bezwingung und Glättung
des Lebens seine untersten Tiefen gewaltsam aufbrachen, der die verhehlte Wirklichkeit
jäh ihr ganzes Entsetzen entgegenspie, ist die ungeheuere Entwirklichung, die
der Idealismus (und in umgekehrter Weise der ihm entsprechende Materialismus)
an der Ganzheit des Lebens und gerade an seinem Höchsten und Tiefsten vollzogen
hat, mit allen ihren Konsequenzen ins Bewußtseins getreten. Die Erkenntnis, die
schon im vergangenen Jahrhundert in einzelnen erschütterten Geistern aufbrach:
daß unter der Weltdeutung des Idealismus gerade das wirkliche Leben und der
wirkliche Tod des Individuums und sein Angeschlossensein an ein umfassendes
Ganzes: daß damit die religiösen Grundtatsachen selbst unberührt und
unbegriffen unter und über ihr hinwegglitten: diese Erkenntnis hat das Leben
und Erkennen unserer Zeit in seinen Tiefen verändert.
In Deutschland, wo die
weltüberspannende Blickeinstellung des Idealismus in der modernen Welt den
reinsten und mächtigsten Ausdruck gefunden hatte, vollzog sich auch am
entscheidensten die Abwendung von ihm. Und sie vollzog sich in den mit dem
deutschen Geistesleben und gerade mit dem Idealismus so tief verbundenen
deutschen Juden mit nicht minderer Gewalt als in den Deutschen überhaupt. Die
Tiefe einer gemeinsamen Fragestellung sprang in beiden zugleich auf. Es
stellten sich die Fragen nach dem ganz realen Leben und Tod des Einzelnen und
seiner Beziehung auf das Ganze des Lebens neu – und die Gewalt dieser neuen
Frage sprengte den rostigen Riegel des Idealismus und öffnete den Zugang zu dem
uralten Lebensraum voll Dunkel und Licht wieder, vor den er für immer geschoben
schien.
Zweifach hat sich diese
Abwendung vom rein gedanklichen Lebensbild, diese Rückkehr zur vollen
Wirklichkeit im Leben der deutschen Juden geäußert: als Wiedererwachen einer im
Sterben liegenden nationalen Wirklichkeit in der mächtig anwachsenden zionistischen
Bewegung – als neuer Anschluß an das geschichtliche Dasein des Volkes in einem
erneuerten Bekenntnis zum Gesetz. Die tiefsten und reinsten Geister des
deutschen Judentums finden sich heute auf diesen beiden Wegen.
In umgekehrter Weise hat sich
die Umwendung im deutschen Wesen selbst vollzogen. Dieselben Vorgänge, dieselbe
Umkehr und Einkehr ins Herz der Wirklichkeit, die dem Judentum sein Gesicht und
seine Kraft zurückgegeben, es aufgerichtet und auf sich selbst gestellt haben,
haben das deutsche Volk in seiner äußeren und inneren Form gebrochen und es von
seinem nationalen und geistigen Machttraum zu einer tieferen Wirklichkeit
hingelenkt.
Und so steht heute nicht mehr
wie noch vor zwei Jahrzehnten dem fest auftretenden, frei ausschreitenden Deutschen
das Bild des geduckten, gebückten, verhehlten und unsicheren Juden gegenüber;
sondern in seinen geistigsten Gestalten schreitet der Jude heute frei und fest
aus als der Mensch, dem ein klares Bild seiner selbst ins Innere gezeichnet
ist, das es mit gesammeltem Willen in die Wirklichkeit zu gestalten gilt –
während der Deutsche in seinen wachsten Geistern erst wieder das Bild seines
Wesens unter den Trümmern seines zerstörenden Schicksals zusammensucht.
So ist in diesem einen
Augenblick, wo er endlich die nachschleifenden Ketten des Ghetto ganz
abgestreift hat, der Jude in aller Tragik und Problematik seines
Gesamtschicksals dennoch der glücklichere Mensch von beiden. Denn was er unter
den Trümmern und Scherben der alten Welt wiederfand, war das eine, ihm von
Ewigkeit vorgezeichnete und göttlich zubestimmte Bild jüdischen Lebens. Dagegen
war, was der Deutsche darunter hervorgrub, von verwirrender Vielgestaltigkeit,
die kaum mehr das deutsche Wesen als eines erkennen ließ; war heidnisches
Heroentum und Götterkult den einen, war die Inbrunst eines neuen Sozialismus
oder Kommunismus den anderen, war wieder andern ein neues strenges Christentum,
das wiederum in einen erneuerten Protestantismus und eine erneuerten
Katholizismus zerfiel.
Und wenn wir uns nun die Frage
stellen, was diese Ungleichheit der inneren Schicksale für die Deutschen und
für die Juden bedeutet – eine Frage, die inhaltlich eins ist mit der, wie in
ein Land so vielgestaltiger religiöser Bekenntnisse die Einheit eines weiteren:
des jüdischen, sich einzufügen vermag – so will uns scheinen, daß in der durch
diese Schicksale geschaffenen Lage selbst eine Lösung des Problems schon
vorgezeichnet ist. Auf dem religiösen Boden, auf den sich beide Völker in ihren
verschiedenen Aufgaben neu gestellt finden, auf einem Boden also, auf dem die
Einheit weder in der Nation noch in der Bekenntnisform, sondern in etwas noch
Tieferem, gestaltlos Wirklichem ruht, von dem alle Einzelgestaltung erst der
Ausdruck ist, ist im Ernst kein Antisemitismus möglich. Hier ist das jüdische
Bekenntnis in eine gemeinsame letzte Lebenswirklichkeit einbezogen; hier ist
das Verständnis des einen Volkes für das andere vor aller nationalen
Besonderung unmittelbar gegeben.
Aber gerade darum scheint
hiermit für beide nur der eine Kern des Doppelproblems berührt: der religiöse –
nicht der andere, scheinbar weit dringlichere und mehr Konfliktstoff
schaffende: der nationale. Und doch: dämmert uns an diesem Punkte nicht aus dem
Wesen des Judentums selbst der Umriß einer Lösung auf? Ist denn nicht gerade
dies sein wahres Wesen: daß in ihm Nation und Religion eins sind? Ist nicht so
bei näherem Hinsehen der Doppelkern des jüdischen Problems nur ein einziger?
Sobald aber dies feststeht, muß nicht nur das ganze hundertfältig gewendete und
durchforschte Problem der Doppelnationalität des deutschen Juden, das ihn immer
wieder zu tragischen Entscheidungen für oder wieder die eine oder die andere
Nation zu zwingen scheint, sondern auch das des Antisemitismus aus dem
religiösen Kern das entscheidende Licht empfangen.
Doch nicht einfach und
ungebrochen vermag dies Licht ins Völkerleben auszustrahlen. Denn diese Einheit
des religiös-nationalen Kernes ist gerade das, was den anderen, in einer
ursprünglichen und immer wachsenden Trennung zwischen Nation und Religion
lebenden Völkern am Judentum immer das Unbegreiflichste und eben darum der
stete Stein des Anstoßes ist. Denn weil sie es nicht begreifen, vermögen sie
nicht daraus die Konsequenz zu ziehen: daß der Jude dadurch zur Nation und zur
Nationalität überhaupt eine ursprünglich andere Stellung hat als sie alle. Aber
nicht nur von den anderen Völkern, auch von der Mehrzahl der westlichen Juden
selbst ist diese Grundtatsache unbegriffen, von der aus, wenn sie klar gesehen
und wirklich gelebt würde, die ganze Judenfrage sich entwirren müßte. Um so
schwerwiegender ist es, daß die westlichen Juden selbst zur Festsetzung von
Mißverständnissen über diesen Punkt kaum weniger getan haben als die anderen
Völker und daß sie, indem sie den zentralen Tatbestand verschleiert haben, dem
Antisemitismus mächtig in die Hände gearbeitet haben.
Dieser zentrale Tatbestand: die
Kern- und Keimzelle des jüdischen Problems in der Diaspora, aus dem darum auch
allein seine Lösung entspringen könnte, ist und bleibt die Tatsache, daß der
Jude als der Mensch, dessen Nation und Religion, dessen Geschichte und Ewigkeit
eins sind, bei dem also Nation und Geschichte selbst übernational und
übergeschichtlich sind, daß dieser Mensch eben darum in keiner zeitlichen
Konstellation, in keiner Gestalt des geschichtlichen Lebens sein letztes Ziel
haben und darum in keinem realen Staat und Land seine endgültige Heimat finden
kann.
Als ein Mensch solcher Art und
Herkunft ist der Jude auch in Deutschland – so tief und innig er zugleich als
Deutscher ihm verbunden, mit so leidenschaftlichem Ernst er in seinen reifsten
Geistern in sein geistiges Leben eingekehrt ist –, nicht ganz und wahrhaft zu
Hause. Aber er ist in Deutschland nicht mehr und nicht weniger fremd, als er es
auf der Erde und in den irdischen Formen von Staat und Gesellschaft überhaupt
ist. Und genau so viel und so weit ist der Jude, als er sich diese letzte
Fremdheit gegen die endgültige Festlegung in den Gestaltungen des
geschichtlichen Lebens bewahrt hat.
Darum bedeutet diese Fremdheit
keineswegs, daß der in Deutschland geborenen und erwachsene Jude, der in der
deutschen Sprache zuerst alle Werte seines Lebens empfangen hat, der mit
deutschem Geist bis in die Wurzeln seines Lebens hinab durchtränkt ist und
selbst diesen deutschen Geist in neuen Gebilden zur Blüte gebracht hat, nicht
in einer bis zur Identität gesteigerten Nähe die Bedürfnisse und Aufgaben
seiner zweiten Heimat in sich erfahren und für sie leben und sterben könnte.
Wir haben von solchem realen Einsatz im letzten Jahrzehnt mehr als ein Beispiel
gesehen.
Nur daß der Fremdling auf Erden
auf die Aufgaben und Ziele seines Vaterlandes immer zugleich aus einem anderen,
ferneren Geschichtspunkt blicken wird, daß er versuchen wird, sie in der
ursprünglichen Ewigkeit zu verankern, in die durch die zeitliche Heimat
hindurch seine noch tieferen, noch zarteren Wurzeln hinabreichen. Diese
Ewigkeit ist es, die dem wahren Juden zuletzt immer das Bild des Staates und
der Gesellschaft liefern wird, nach dem er das reale zu gestalten sucht. Auch
als Politiker wird er nicht anders können, als an alles Geschichtliche
unmittelbar einen übergeschichtlichen Maßstab anzulegen: darum werden wir ihn
nur in seltenen Fällen und besonderen Konstellationen als Politiker auf der
Seite der herrschenden Mächte, sondern fast immer um der tieferen Aufgaben und
Ziele seines Landes willen gegen sie gerichtet finden.
Ein Wesentliches im
Antisemitismus scheint aus dieser Tatsache erklärlich zu werden: daß der
politische Jude fast immer Revolutionär ist. Aber bei näherem Hinsehen ist
nicht dies die Quelle des tieferen Antisemitismus, der uns hier allein angeht.
Der Einsatz des Lebens zeugt und überzeugt den edleren Menschen zu tief von
einer ursprünglichen, wenn auch unbegriffenen Lebenswahrheit die diesem
Verhalten zugrunde liegt, und fordert seine Ehrfurcht. Zum mindesten muß es
nachdenklich stimmen, daß man so oft in Schriften, die in diesem tieferen Sinne
antisemitischen Charakter haben, der Gestalt Gustav Landauers als einer
Ausnahme begegnet. Selbst Blüher sieht ja in seiner Ermordung eine nicht wieder
gut zu machende Schuld Deutschlands, und für Wilhelm Michel ist Landauer sogar
– wogegen er sich sicher durchaus gesträubt hätte – „entjudet“.
Nein, der im Sinne des ewigen
Fremdlings auf Erden revolutionäre deutsche Jude ist – wie oft er auch aus
demagogischen Motiven vorgeschoben wird – nicht der wahre Gegenstand eines
Antisemitismus, mit dem sich auseinanderzusetzen überhaupt möglich und
notwendig ist. Der wahre Gegenstand dieses Antisemitismus ist sein Gegenbild:
der vermischte, auf Erden heimisch gewordene, im Irdischen aufgegangene und mit
den anderen Völkern auf ihm nicht zugeteilten Plan sich messende Jude. Dieser
ist es, der hinter allen Bildern und Formulierungen des Antisemitismus steht
und immer wieder sichtbar wird. Politische und wirtschaftliche Machtstellungen,
die man dem Angehörigen jeder anderen Nation ohne Bedenken zubilligt, versagt
und verdenkt man instinktiv dem Juden. Hier ist bloßer Neid gewiß keine
ausreichende Erklärung, hier ist der Instinkt des Antisemitismus weit tiefer,
als er selbst ahnt, und als seine meist so niedrigen, vorgeschobenen
Einzelmotive und törichten Begründungen vermuten lassen; hier wehrt er sich –
wiewohl sicher fast immer unbewußt – gegen die Verzerrung: gegen einen Menschen,
der seine ewige Königswürde um zeitlichen Gutes willen wegwirft, der seine
Erstgeburt um ein Linsengericht verkauft.
Und weil aller wirkliche und
berechtigte Antisemitismus im Grund nur diesem vermißten und verzerrten Bild
des Juden gilt, darum ist der heutige Augenblick des äußerten Hochstandes des
Antisemitismus dennoch der Lösung des Problems weit günstiger und, wie ich
glauben möchte, auch näher als die gesamte Vergangenheit europäischen
Judentums, weil eben in diesem Augenblick ein klares Bild des Juden sich aus
der Verzerrung machtvoll wieder emporrichtet.
Nur das tut not, daß der Blick
durch den Strudel und Wirrwarr der Meinungen hindurch von beiden Seiten fest
auf den entscheidenden Punkt gerichtet sei. Ein so ernster, eigene wie fremde
Vorurteile bekämpfender Betrachter wie Wolfgang Schumann sagt in seiner
Auseinandersetzung mit dem jüdischen Problem, daß die Grundforderung der
Deutschen an die Juden nicht die Zumutung enthalte, die Religion preiszugeben.
„Keinesfalls deren ethisch-metaphysische Gesinnungseinstellung; diese verträgt
sich vollkommen mit deutschem Wesen. Die Befolgung der Ritualregeln und
Sittengebote trennt Juden erheblich von Deutschen; ich für mein Teil hoffe und
glaube, daß dieses anachronistische Gebräuchewesen bald von selber schwinden
wird; seine Abbau wünsche ich, wage aber nicht ihn zu „fordern“ – im Notfall
glaube ich, daß sich das deutsche Volk damit abfinden wird“. Diese Bemerkung
sieht am Kern des Problems ebenso wie an den Tatsachen der heutigen Weltstunde
vorüber. Gerade darum handelt es sich nicht und darf es sich nicht handeln, daß
das deutsche Volk sich mit einem äußeren Bestandteil des Judentums „abfinden“
soll. Denn die Frage lautet ja heute gerade nicht, ob Deutschland ein im
Erlöschen begriffenes und sich nach Möglichkeit anpassendes, sondern ob es ein
in der Renaissance begriffenes, groß und stark zu sich selbst sich entfaltendes
Judentum in sich aufzunehmen vermag. Gewiß wird die Befolgung des Gesetzes im
äußeren Leben eine Fremdheit mehr zwischen Deutschen und Juden schaffen – wenn
auch ein nur dem Grad, nicht der Art nach verschiedene von der, die
Protestanten und Katholiken trennt. Und so lange man das Gesetz als ein
„anachronistisches Gebräuchewesen“ versteht, müßte man darum freilich seine
Ablegung vom Standpunkt der Annäherung unbedingt fordern. Aber da das Judentum
kein Protestantismus, keine bloße Gesinnungsreligion sondern die straffste
Einheit von Innen und Außen, von Erkennen und Leben, von Idee und Wirklichkeit,
von göttlicher Bestimmung und menschlichem Tun ist, die die Geschichte kennt,
so ist das Gesetz weit davon entfernt, ein totes äußeres Anhängsel zu sein. Es
hat sein Leben mit dem Judentum selbst als das, was dem jüdischen
Lebensverhältnis zum Absoluten seinen äußeren Ausdruck gibt, als das, wodurch
erst das Judentum seine volle Gestalt und Sichtbarkeit empfängt. Und so ist es
nur ein Prüfstein mehr auf die Frage, ob Deutschland ein kräftig gewachsenes,
aus seinem religiösen Kern sich selbst bejahendes und hochhaltendes Judentum in
sich aufnehmen und ertragen kann. Mit Toleranz im üblichen Sinne ist es dieser
Erscheinung gegenüber nicht getan; hier kann Toleranz nur ein Verstehen des
Fremden aus einer unterhalb aller Form gelegenen, gemeinsamen Wirklichkeit
sein. Nur dadurch daß das Judentum sich zu sich selbst bekennt und das Leben
der anderen aus der Tiefe der eigenen Voraussetzungen begreift, nur dadurch,
daß Deutschland sich aus seiner eigenen religiösen Tiefe mit der Tiefe des
jüdische Gedankens auseinandersetzt statt mit seinen äußeren Begleiterscheinungen,
deren Peinlichkeiten allesamt aus der unscharfen und falschen Formulierung des
Problems, aus seiner Verwischung und Verhehlung von beiden Seiten entstehen –
nur dadurch kann hier der Boden einer wahren und fruchtbaren Toleranz
geschaffen werden.
Deutscher Christ und deutscher
Jude einander Auge in Auge gegenüberstehend: der Mensch, dessen Wurzeln stark
und selbstverständlich in der natürlichen Heimat ruhen, und der erst durch ihre
Lockerung im ursprünglichen Erdreich sich seiner ewigen Heimat entgegenreckt –
und der Mensch, der von seiner natürlichen Heimat losgerissen im Ewigen selbst
wurzelt und nur von ihm her sich wieder einer irdischen Heimat zuwenden kann:
allein indem sie so auf einander zutreten, kann da Problem einer wirklichen Lösung
entgegen geführt werden.
Dies schließt für beide Teile
eine Forderung in sich: eben die, die aus der Weltstunde selbst für beide
entspringt. An den Juden ergeht aus ihr die Forderung der Wiedererarbeitung des
eigenen Bildes und Wesens, an den Deutschen die, aus dem ihm natürlich
gegebenen, rein nationalen Bild seines Wesens herauszutreten ins Eine und
Ewig-Menschliche.
Und nun wird auch die Brücke
sichtbar, die vom Juden zum Deutschen, vom Deutschen zum Juden führt. Diese
Brücke ist für den Juden das ihm ursprünglich Gewordene: das Judentum – für den
Deutschen das kraft einer Umkehr ins letzte Übernationale Erworbene: das
Christentum. Nur indem der Jude in seinem nationalen Wesen selbst den
übernationalen Kern und die übernationale Aufgabe ergreift, vermag er den Weg
zum anderen rein zu sehen und unabgelenkt zu gehen. Und umgekehrt: um diesen
Kern des jüdischen Wesens, den festen Punkt zu begreifen, aus dem allein alle
seine positiven und negativen Erscheinungen zu bewerten sind, jene in der
einheitlichen Doppelwurzel von Nation und Religion gegebene Fremdheit im
Irdisch-Geschichtlichen, deren letzter gesammelter Ausdruck seine Stellung zu
Christus selber ist – dazu ist der Deutsche nicht kraft seines ursprünglichen
Wesens befähigt, das so tief zeitlich und kriegerisch bestimmt ist, sondern nur
durch den ihm in seiner Geschichte selbst geschehenen Anschluß an ein Leben in
Ewigen: durch das Christentum. – Damit kehren wir zum Ausgang zurück: die
Verständigung und Versöhnung des Deutschen mit dem Juden ist möglich nur auf
dem Boden der Religion.
Und so weit ab auch die
zahllosen Tagesfragen politischer und sozialer Art von diesem glühenden Kern
des Problems liegen mögen – wie sich nur aus dem Mittelpunkt das Leben aller
Erscheinungen bildet, so ist es auch nur aus dem Mittelpunkt in seinem
wirklichen Leben zu begreifen.