Die Botschaft der chassidischen Mystik an unsere
Zeit
In: Der
Jude, Sonderheft 5, 1928
„Wisse, immer ist Einer, der
die Zeit befragt und Einer, der für die Zeit antwortet. Einer, der geben will und
Einer, der nicht annehmen kann“, heißt es in Bubers „Legende des Baalschem“.
Wer ist es, der unsere Zeit
befragt und der nicht annehmen kann, was gegeben wird, und wer ist es, der für
sie antwortet? Der die Zeit befragt, der nicht annehmen kann, ist immer
derselbe, der den Weg der Wahrheit und der Erlösung hemmt: „der Herr der Nacht,
der dazu eingesetzt ist, den Fehl der Zeit zu künden und zu vollziehen“. – So
wäre die Frage nach ihm die Frage nach dem Fehl unserer Zeit. Und diese Frage
nach dem, was ihr fehlt und was sie verfehlt, muß wiederum eins sein mit der
Frage nach ihrem Sein und ihrem Ziel – nach dem Lebenszentrum, das all ihren
Einzeläußerungen Sinn und Wahrheit und lebendigen inneren Zusammenhang gibt.
Und dies ist nun das wahrhaft Furchtbare und doch zugleich das einzig
Fruchtbare unserer Zeit: im Suchen nach ihrem lebendigen beseelenden
Mittelpunkt greifen wir unmittelbar in ihren Fehl selbst; denn wir greifen ins
Leere – wir erkennen: da ist nichts, schlechterdings nichts.
Aber diesem dunklen Nichts
gegenüber bleibt uns noch eine letzte Frage: Was für ein Nichts ist dieses? In
welchem Etwas ist es gegründet? Was ist das Etwas unseres heutigen Lebens, dem
es entspricht? Was ist sie, diese Welt mit all ihren inneren und äußeren
Erscheinungen, die ja voneinander völlig unabtrennbar sind? Was ist diese Welt
der Vorherrschaft des Ökonomischen, der Industrie, der Maschine, der Autos und
Flugzeuge, diese ungeheuren Lärms und Gerases, dieser ganzen phantastischen
Beherrschung von Zeit und Raum – was ist sie, gesehen auch in ihrer geistigen
Selbsterfassung: als politische, ökonomische, soziale und selbst als
wissenschaftliche und religiöse Welt? Was ist sie mit allem Zerfall ihrer
Formen und all ihrem unsteten Suchen nach einem Neuen? Was ist sie in ihrem
Kern?
Schon an der Beschreibung
dieser Welt, die die unsere ist, wird das Nichts ihres Kernes deutlich. Denn
wir erkennen: diese Welt ist gar nicht von ihrem Zentrum, sondern nur von ihrer
Peripherie her zu erschließen. Kein Eines lebendig gesehenes Inneres strahlt in
jede ihrer Lebensäußerungen Sinn und Wahrheit aus. Sondern in der Peripherie
spielt sich das für unser heutiges Leben Bedeutsame ab; sie ist es, die es
bestimmt. Die Peripherie rein äußerer Werte ist das Maß- und Richtunggebende;
hier gehen die wesentlichen Geschehnisse unserer Welt vor sich; von hier aus
bestimmt sich alles andere. Und je mehr sich unser mit Leidenschaft und
Verbissenheit betriebenes äußeres Leben von der Peripherie her dem Inneren
nähert, je angstvoller es um sein Sein, um seinen Sinn ringt, um so leerer und
dunkler wird es. Das Außen hat noch den Schein der Fülle, weil es Betrieb ist;
es hat noch eine gewisse Helligkeit und Ordnung. Nach innen zu weicht diese Art
der Fülle zurück, hält die Scheinordnung und Festigkeit des Außen nicht stand.
Es wächst die Unordnung, das Dunkel; es meldet sich der Zweifel, dieser erste
verhüllte Bote des Sinnes. Und im Mittelpunkt, da wo sich aller Sinn, alle
lebendige Entscheidung und redlichste Problematik unseres Daseins sammelt,
steht die Verzweiflung.
Die Verzweiflung ist das Leben
der wahrhaft lebendigen, für ihre Zeit verantwortlichen heutigen Seele. Eine
Verzweiflung, die letzten Endes daraus stammt, daß die ganze übermächtige,
einer seelenlosen Materie aufgepfropfte Welt der Sachen und Sachbezüge, die uns
umgibt und uns unablässig fordert, nicht die lebendige Schöpfung Gottes –
sondern der scheinlebendige rasende Golem: die blind über ihm selbst
hinwegstampfende Schöpfung des Menschen ist.
Wie kommen wir Heutigen aber
dazu, aus diesem Grunde zu verzweifeln? Haben nicht Jahrhunderte vor uns diese
wachsende Schöpfung des Menschengeistes hingenommen, sich in sie eingesetzt,
sie bejaht und verherrlicht? Haben nicht Generationen, von dem Rausch an der
Schöpfung des Menschengeistes überwältigt, darüber die Schöpfung Gottes, die
Frage nach dem lebendigen Gott und nach dem Heil des ganzen Menschen vergessen?
Jene Zeiten, die noch nicht das
wütenden Hinwegstampfen des menschgeschaffenen Golems über alles Menschliche
erlebt hatten, das uns gewaltsam aufgerüttelt hat, hatten noch die
unumschränkte Ehrfurcht vor dem Menschengeist. Wir aber wissen, was jene in
ihrem ungeheuren Übermut nicht mehr wußten: daß der menschliche Geist die
Wirklichkeit nicht von sich aus schaffen, noch ihr gebieten kann, daß sie
selbst allem Geist vorausliegt und ihn mitbestimmt. Und weil die Wirklichkeiten
in jeder Gestalt in unserem Leben übermächtig geworden sind, weil uns die
Wirklichkeit wieder zu dem geworden ist, von dem wir uns auf Schritt und Tritt
bedingt und gefordert fühlen, weil wir im Unwirklichen gar nicht leben können,
darum können wir auch in der bloßen Verneinung und im bloßen Zweifel nicht mehr
leben – darum ist der Zweifel da, wo er in letztem, finsterem Ernst sich
zusammenballt, zur Verzweiflung geworden.
Verzweiflung aber ist nichts
anderes als in Wirklichkeit umgeschlagener, durch sich selbst ad absurdum
geführter Zweifel. Sie ist der Ausdruck eines Zweifels, der an sich selber zu
zweifeln gezwungen ist, weil die brennende Qual, in der er erlebt wird, ihn von
der Wirklichkeit ihres Seins überführt. Denn Verzweiflung ist das Erlebnis der
Qual als unbedingter Wirklichkeit. Dies ist der dunkle, bodenlose Grund, dies
ist die schwarze Wirklichkeit unserer Welt. Hier rauscht ihre Frage durch die
Zeit hindurch aus der Tiefe der Ewigkeit empor.
Und weil auf eine solche Frage
aus der Tiefe des Wirklichen selbst, die nicht mehr eine Frage des reinen
Geistes, geschweige denn des bloßen Denkens ist, keine rein geistige
Erschließung, kein bloßes Gedankensystem die Antwort sein kann – weil nur das
Wirkliche auf die Frage der Wirklichkeit antwortet, darum ist die gesamte
Fragestellung unserer Zeit gegen die einer jahrhundertlange Vergangenheit
entscheidend verändert. Wonach der heutige Mensch fragt, was er zu erkennen strebt,
das sind nicht mehr die in sich selbst ruhenden Zusammenhänge seines geistigen
Turmbaus; es sind wieder die schlichten Dinge der Wirklichkeit selbst; er
strebt nicht wie das Denken von Generationen vor uns in das Geheimnis der
Erkennens selbst einzudringen; er legt wieder sein Ohr an die lebendigen Dinge
der Welt, um dem Herzschlag ihres Seins zu lauschen. Er schafft nichts um,
glaubt nichts zu erzeugen; er versucht nur, das für uns so unendlich verdeckte,
tausendfach verschüttete Sein der Dinge wieder aufzugraben, es neu zu
entdecken. Die neue Wahrheitserkenntnis geht auf das Vernehmen dessen, was ist.
Sie ruht auf der Ehrfurcht vor dem Seienden. Und indem der heutige Mensch
wieder sein Ohr an das Herz der Dinge legt, vernimmt er durch alles andere hindurch
zugleich wieder deutlich den Herzschlag des eigenen Lebens. Und weil er es in
allem Leben pochen hört, so ist es dies, was er vor allem anderen und in allem
anderen zu vernehmen und zu ergründen strebt: das eigene Sein, sich selbst, das
Menschendasein und den Sinn des Daseins.
So bewegt sich alles heutige
Erkennen letzthin um das Nichts des Daseins, das aus seinem bodenlosen Abgrund
empor zu dem Etwas einer neuen Wirklichkeit und Wahrheit strebt. Wo ist auf
diese Frage Antwort – irgendeine Antwort? wo neigt das Wirkliche sich dieser
Wirklichkeit lebendiger Verzweiflung entgegen? Soviel ist gewiß: gerade weil es
die Frage des Nichts ist, kann nur in der äußersten Entfernung von ihm die
Antwort liegen: in einer ganz erfüllten, ganz erfüllenden Wirklichkeit.
Martin Buber, der die
Verzweiflung unserer Welt tief erkannt und erlitten hat, hat ihr die Gestalt
einer göttlich erfüllten Wirklichkeit entgegengetragen. Und zweifellos hat er
einen Zusammenhang zwischen der Art unserer Verzweiflung – und zwar keineswegs
allein der jüdischen, sondern der Verzweiflung unserer Welt überhaupt – und dem
Heilsgedanken der chassidischen Mystik erblickt.
Wie kann aber Mystik gerade
Wirklichkeit geben? Ist denn nicht alle Mystik wirklichkeitsloses Geistwesen?
Hat nicht in der Mystik sich alles angesiedelt, was auf rein geistigem Wege zu
Gott strebt? Stürzt nicht in ihr der Geist wirklichkeitbefreit und
wirlichkeitvergessend sich in Gott? Erlischt nicht in ihr das dunkle schwere
Dasein vor dem Überglanz des reinen Seins? Wie kann dann Mystik, irgendeine
Mystik auf die verzweifelte Wirklichkeitsfrage unseres Lebens Antwort sein? –
Die chassidische Mystik kann es nur darum, weil sie nicht heidnische und nicht
christliche Mystik – nicht geistige Erkenntnis- und Erinnerungsmystik ist;
sondern weil sie jüdische Mystik ist: Mystik der Hoffnung, d. h. des ganzen
lebendigen Lebens. Mystik der Hoffnung, die nicht wie die der Erinnerung das
einmal geschehene Wunder in die Zeitlosigkeit ewiger Wiederholung im Geiste
verlegt, sondern aus der das Wunder der Erlösung, das nie und nirgends
geschehen ist, im lebendigen zeitlichen Leben als wirkliches erst gewirkt
werden muß. Und eben darum Mystik der Entscheidung, der unbedingten
Entscheidung des Einzelnen für das Mitwirken an der Erlösung, die einmündet in
die Mystik der Tat.
Eine Mystik der Tat – dies
eigentümliche Paradox ist in keiner anderen als in jüdischer Mystik möglich.
Denn nur sie hat als Voraussetzung die messianische Heilsidentität der
Menschheit – eine Gewißheit, deren Evidenz uns Buber in seinem Geleitwort zu
den eben erschienenen chassidischen Büchern in größter Schlichtheit für jede
Zeit begründet. „Jeder Mensch“, sagt er, „bestimmt mit seinem Sein und Tun das
Schicksal der Welt in einem ihm und allen unkenntlichen Maße; denn die Ursächlichkeit,
die wir wahrnehmen können, ist ja nur ein winziger Ausschnitt aus dem
unausdenklich vielfältigen unsichtbaren Wirken aller auf alle.“ Wenn wir nur
dies unzweifelhaft Wahre und Gewisse – nichts sonst vom menschlichen Leben
wüßten und festhielten, so wäre damit doch zugleich die Urgewißheit der
Verantwortung aller für alle im Weltgeschehen, in jeder Tat, in jedem Wort, ja
in jedem Blick und jeder Bewegung, die in die Welt wirkt. Ihren tiefsten, über
den Kreis des Menschlichen noch hinausführenden Ausdruck findet diese Gewißheit
in der chassidischen Erfahrung der gesamten Welt als dem Exil der Schechina,
der verbannten Gottesherrlichkeit, deren Funken verborgen in allen Dingen der
Welt schlummern und durch uns, durch unser Erkennen und Tun daraus erlöst
werden wollen.
Leuchtet nicht hier in einem
tiefsten Bild eine Beziehung auf das Ringen unserer Zeit bereits blitzartig
auf? Das Suchen nach den heiligen Funken in allem Seienden – ist es nicht ein
letztes Zu-Ende-Führen, Zu-Ende-Leben jenes drängenden Bestrebens, die Dinge in
sich selbst, in ihrem tief verschütteten Sein und Sinn zu erfassen, durch jedes
Ding und jedes Wesen hinabzusteigen in sein Sein und damit in das eigene Sein
und das Sein der Welt? Freilich, in den ganz großen Gestalten des Chassidimus
kehrt sich diese phänomenologische Erfassung des Seins um. Von den Schülern des
Baalschem erzählt Buber: „Denn sie wußten, daß alles, was er tat, seinen Sinn
nahm aus dem heimlichen Geschehen der Welt.“ Nicht also der Meister dringt
hinab in das Geheimnis der Welt – sondern ihr Geheimnis selbst steigt umgekehrt
in seinem Wirken herauf in die Offenbarkeit. Hier scheint unserer unverbundenen
Zeit jede Brücke zu fehlen; hier bleibt ihr nur die Ehrfurcht vor dem
Mysterium.
Dennoch: in dem Wunder dieser
Umwendung offenbart sich dasselbe mystische Grundverhältnis des Menschen zum
Leben, auf dem das Suchen nach den heiligen Funken in allem Seienden ruht. Das
mystische Leben der Zaddikim im Geist der Dinge selbst, dies Emporheben alles
Tuns aus dem Herzen der Welt, dies Ehren und Vollziehen des Wunders in allem
Dasein, ruht auf derselben Grundvoraussetzung eines uns vorausgegebenen, uns
überall umfangenden und begrenzenden Wirklichen, auf das wir zu lauschen, das
wir zu vernehmen haben, wie es in der chassidischen Mystik als die
Verantwortung aller für alle und alles im Weltgeschehen ins Bewußtsein tritt.
So ist hier Mystik nicht ein freies sich Emporschwingen des Geistes aus der
Natur zu einer Unio mystica mit einem weltlosen Gott, sondern ein mystisches Leben
des Menschen innerhalb der lebendigen Schöpfung des wirklichen Gottes. Bloße
Natur, seelenlose Materie gibt es für diese inmitten des 18. Jahrhunderts, auf
dem Höhepunkt der Aufklärung entsprungene Bewegung ebenso wenig wie bloßen
Geist. An Stelle der Welt der kalten abstrakten Naturgesetze steht hier die
Welt der lebendigen göttlichen Gebote und der menschlichen Vollstreckung, in
der der Mensch nicht unter der blinden Kausalität der Naturgesetze, sondern
unter den menschlich-göttlichen Gesetzen von Schuld und Sühne, von Verwerfung
und Gnade steht. So lehrt uns die große chassidische Bewegung, diese aus der
kalten Welt der Aufklärung ebenso wie aus der abgelösten
Talmud-Intellektualität, aus dem unerträglichen Druck der Verbannung, dem
Halbtod des Ghetto ausbrechende Inbrunst der mitten in die lebendige Schöpfung
hineinstürmenden Seele, das es letzthin von uns, von unserer Entscheidung
abhängt, ob wir in der Natur oder in der Schöpfung leben, das heißt, ob wir
blind und getrieben lebe, oder ob wir in Gottes Gesetz, unter seinem lebendigen
Gebot und damit in allerpersönlichster Verantwortung stehen.
Aber dies ist nun die Frage:
Gilt solche Entscheidung auch für uns? Ist sie auch für uns unendlich weiter
Abgetriebene noch möglich? Steht uns wirklich aus unserer geschichtlichen
Verbannung derselbe Weg in den Ursprung und die Unmittelbarkeit der Schöpfung
offen? Wir wissen und dürfen es nie vergessen: es ist Einer in unserer Zeit,
der nicht annehmen kann; es ist unsere Leere, unsere Verzweiflung, unser Nichts
selbst, das uns hindert, aus ihm auszubrechen, wiewohl es stürmend zu seiner
Selbstaufhebung drängt. Und wir wissen ferner: alle Gesetze, die wir erkannten,
haben als letzt begründende Schiffbruch gelitten. Unser ganzes Weltbild mit
seinen ewigen überzeitlichen Ideen ist ins Wanken geraten. So sind auch wir
nicht mehr dieselben. Wir leben im Chaos, und so sind wir Chaos geworden. Aber
dies ist ja das ewige Wunder, das kein Bild ist und mehr als selbst ein Mythos:
aus dem Chaos entsprang die Schöpfung. Und nur dahin dürfen wir heute blicken,
woher Chaos Schöpfung wurde und immer wieder Schöpfung wird. Wie unermeßlich
wir von dem Leben jener heiligen Menschen abgetrieben sind, die das Leben der
Schöpfung unmittelbar lebendig mitleben, die vor dem Wunder jedes Sonnenaufgangs,
jedes Erblühens und Vergehens bis in die Tiefe ihres Wesens erzittern, die sich
selbst und den anderen in jedem Augenblick neu erschaffen fühlen, deren
Herzschlag selbst ihnen das Wunder der lebendigen Schöpfung Gottes in jedem
Augenblick erneut – wir wissen doch, daß hier – gerade hier – das lebendige All
aufspringt, das dem Nichts unserer Zeit genau entgegensteht.
Gewiß: nur stammelnd und
verwirrt vermögen wir uns der Wirklichkeit der Schöpfung mit dem bloßen
Gedanken zu nahen, während unser Leben selbst uns völlig von ihr abtrennt, wir
in unseren steinernen Städten und auf allen Wegen unseres Verkehrs so völlig
unter der Herrschaft und den Berechnungen des Menschenwissens leben und das
Mysterium aus ihm verscheucht haben. Aber wie sehr wir durch all dies um uns
her Gewachsene selbst verwandelt, durch die übermächtigen wirtschaftlichen
Bedingungen als Menschheit und als Einzelne zerspalten und zerrissen sind – wie
völlig eben dadurch unsere Verantwortung selbst andere, verwandelte Formen angenommen
hat: an Einem Punkt, durch Einen schmalen Spalt strömt dennoch auch in unser
Leben der Sinn der Schöpfung, der Quell des Ursprungs, eine unmittelbare
Beziehung zum lebendig gelebten Dasein ein: durch den schmalen Spalt der
Entscheidung. Der Entscheidung für die Welt als göttliche Schöpfung, die eins
ist mit der Welt als menschliche Verantwortung. Und nicht geschichtsentrückt
ist diese Entscheidung; nicht abgeschwächt ist unsere Verantwortung. Gewinnt
nicht vielmehr gerade in unserer Zeit der Allgebundenheit, der Allbestimmtheit
des Einzelnen von tausend dunklen irdisch-unterirdischen Wirklichkeiten,
Mächten und Sachbezügen das Wort Verantwortung einen neuen, unerhörten, bis zum
Grauen vertieften Sinn?
Wohl ist auch hier wieder der
Zaddik durch die gewaltige Intensität und Wirklichkeitskraft seines Seins in
die umgekehrte Haltung gerückt: seine Verantwortung wird aus einer belastenden
zu einer offenbarenden. In dem reinen Wunder der Alliebe, als die die
Verantwortung aller für alle in den heiligen Gestalten der Zaddikim lebt, ist
wiederum die Welt durchsichtig geworden. Alle Zaddikim sind Menschen, denen
durch ein Übermaß von hellsichtiger Leibe die Seelen der Menschen offenbar
werden, durch die sie wie durch Glas hindurchschauen in die Zusammenhänge der
Welt – bis sie zuletzt wie der wunderbare Narr Gottes, Rabbi Sußja, die fremde
Schuld nicht mehr nur als verknüpft mit der eigenen, sondern unmittelbar als
ihre eigene Schuld selbst erfahren und dadurch den Schuldbeladenen in die
eigene Umkehr und Erlösung hineinreißen.
Aus wie unendlicher Ferne wir
uns solcher Liebe nahen, mit wie schwachen beladenen Fingern wir an den Saum
ihres Wunders rühren – hier ist dennoch die höchste Steigerung, der wunderhafte
Umschlag eines Lebens, das uns Heutige ganz und gar und im Allerletzten angeht,
weil es uns Erlösung aus unserem Nichts durch uns selbst verheißt. Einzig in
unbedingter Identität der Verantwortung, der Schuld und Sühne vermöchte das
Nichts unserer Zeit sich selbst zu überwinden. Hier allein blitzt ein Weg, eine
Hoffnung auf. Ob dies Identität von außen oder von innen realisiert zu werden
vermag – eine Frage, die selbst aus der Liebesfremdheit unserer Welt stammt –
selbst dies erscheint von hier aus gesehen als eine Frage zweiter Ordnung. Das
Erste ist die Einsicht in die Identität, das Ergreifen ihrer als des tiefsten
Sinnes, als des wahren Zieles einer von allen Seiten gewaltsam auf sie
hingedrängten Zeit.
Daß es schwer und fast
unmöglich ist, mit dieser Identität Ernst zu machen – doppelt schwer und
unmöglich von dem Fehl unserer Zeit aus, beweist gerade das paradoxe Brennen,
die letzte Dringlichkeit der Aufgabe. Antwort um Antwort schlägt uns aus ihrem
Zwang als neue Frage entgegen. Die Antwort, die Martin Buber uns in der
chassidischen Mystik gebracht hat, tönt, durch das Rauschen unseres Nichts
verdeckt, unermeßlich fern wie ein im Weltraum abgewandt von uns gesprochenes
Gebet an unser Ohr. Aber jenes Eine Wort, das unmittelbar auf die Frage unserer
Zeit auftrifft, wahrhaft zu vernehmen und ihr einzuverleiben, das, was sich in
ihr dagegen wehrt, durch es selbst zu überwinden, ist die Aufgabe, vor die
durch die chassidische Botschaft das Gewissen unserer Zeit gestellt ist.