Ein Bild
In: Neue
Wege 40, 1946
Vor mir steht ein Bild von
Leonhard Ragaz: eine kleine Photographie von der Größe einer Postkarte, die ich
erst nach seinem Tod erhalten habe. Sie zeigt ihn in ganzer Gestalt mit abgewandtem
Gesicht, die Hände auf dem Rücken verschränkt, am Rande einer Terrasse, von der
er hinüberblickt auf die Berge und hinab in das Tal. Wie ist es möglich, daß
dies kleine Bild, das nicht einmal das Antlitz zeigt, so ergreifend, so
herzergreifend das Ganze dieses Menschen wiedergibt, daß bei dem Anblick dieses
Bildes in seiner ganzen Unwiederbringlichkeit das vor uns aufsteigt, was wir in
diesem Menschen verloren haben?
Ich bemühe mich, einen
Augenblick die inneren Augen zu schließen, alles zu vergessen, was ich in
langen Jahren aus dem Leben und Wirken dieses Menschen erfahren und empfangen
habe, um in diesem einen Augenblick nichts zu sehen, als was dies Bild mir
zeigt. Es zeigt eine zarte und zugleich kräftige Gestalt, vom starken Licht des
Gebirges umflossen. Obwohl wir die Augen nicht sehen, erkennen wir den Blick,
mit dem sie die vor ihr liegende Landschaft umfaßt. Sie steht dieser Landschaft
gegenüber und gehört doch ganz zu ihr: in das lacht, in die Luft, in das Freie,
in die Freiheit von Berg und Tal. Man sieht ihr die langen am Schreibtisch
verbrachten Tage und Nächte nicht an: dieser Mensch ist der Landschaft, und sie
ist ihm treu geblieben; sie gehören zusammen. Man sieht auch kein Zeichen des
Alters an dieser Gestalt, deren Antlitz nicht sichtbar ist; sie ist nicht
gebückt, nicht zusammengesunken: sie steht frei und aufrecht da. Und doch: es
ist Abend um diese Gestalt; es ist, obwohl uns das Bild durch keine Färbung die
Stunde anzeigt, deutlich das Licht des Abends, von dem sie umflossen ist. Es
ist der Blick des Abschieds, mit dem sie die Berge, das Tal, die Welt umfaßt.
Sie steht vollkommen ruhig; es
ist eine große Stille in dieser Gestalt. Und doch ist sie nicht ohne Bewegung;
es ist, als täte sie einen Schritt vorwärts oder hätte ihn eben getan. Es ist
ein Schritt von uns fort; er verstärkt noch den Eindruck des Abgewandtseins.
Dieser Mensch, den wir immer nur uns zugewandt, auf uns bezogen, mit uns
verbunden, im liebenden und eifernden Dienst an den Menschen kannten, erscheint
hier sehr einsam; er scheint in das Geheimnis seines eigenen Seins
eingeschlossen. Nicht leblos, nicht starr: man sieht fast das Leben, von dem er
durchpulst ist. Aber das Zwiegespräch, das diese Seele führt, ist kein
Zwiegespräch mit den Menschen.
Denn die Gestalt steht zwar
sehr fest und sicher auf der Erde, fast als wurzelte sie in ihr; und doch
scheint sie – vielleicht durch das starke Licht um sie her, das den zarten
Umriß des Hauptes fast auflöst, an dem nur der stark hervorspringende
Stirnknochen fest aufgeprägt ist – , als wäre sie zugleich unmerklich über den
Boden emporgehoben, fast wie die Brüder in Assisi den heiligen Franz sahen,
wenn er betete. Es ist die Haltung eines Menschen, der nicht die Hände zu
falten braucht, um zu beten, dessen Leben Gebet ist.
Wir haben ihn kaum je in seinem
Leben so gesehen; wie kommt es, daß wir ihn gerade so, in dieser Haltung des
Abgewandtseins, des Abschiednehmens, des wortlosen Betens, in dieser
schweigsamen Glorie, die der Abend um ihn webt, so ganz wieder erkennen, daß
gerade dies Bild uns so unmittelbar ins Herz trifft?
Wir kannten ihn alle als den
großen Streiter für das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit, als den, der in
der Geschichte den Fußtritt des lebendigen Gottes vernahm und als Gericht und
Verheißung hörbar machte, als den, der im Wissen, daß das Reich im Kampf mit
dem Gegenreich kommt, zum Träger der Revolution Gottes in der Geschichte wurde.
Wir kannten ihn als den, der im Herzen der Gegenwart wohnte und von ihr aus
Vergangenheit und Zukunft deutete: als das schlagende Gewissen seines Landes
und seiner Zeit. Wir kannten ihn als den, dessen herz brannte für die Armen und
Entrechteten, der in allem Leben den Geringsten der Brüder, den verlorenen
Menschenbruder suchte und zum unablässigen Suchen nach ihm aufrief. –
Erinnern wir uns aber nicht
alle an Augenblicke, in denen durch seine flammende prophetische Verkündung
plötzlich wie aus einer verborgenen Quelle ein Strahl eines andern, stilleren
Lebens aufstieg und uns mit Glanz überschüttete? So etwa in einem unvergeßlichen
Blick in den aufbrechenden Frühling im Hochgebirge, oder in einer in mächtigen
Strichen und Farben hingeworfenen Bündner Landschaft, oder im Bild eines blauen
Hochtals seiner Heimat, oder auch nur einer dunklen Rose, die er in einem
sommerlichen Garten gesehen hatte, oder im Auftauchen der weiteren Kreise der
großen kosmischen Wirklichkeiten, die selbst wie dunkle Gebirgszüge die
Menschenwelt umlagern. Welcher Glanz lag dann auf diese Dingen! Sie waren wie
mit den Augen eines großen Künstlers gesehen und doch in einer noch anderen,
lebendigeren und heiligeren Schönheit, die schwer zu deuten war.
In seiner Spätzeit beginnt das
Geheimnis dieser Schönheit sich immer klarer abzuzeichnen als sein besonderes
Verhältnis zur Schöpfung: zur Schöpfung in ihrem Hingeschaffensein auf das
Reich, durch das in der gefallenen schon der Vorklang des neuen Himmels und der
neuen Erde und noch der Nachklang des Ursprungs lebte: als schöpferische
Überwältigung des Nichts. Denn allein diese war ihm Schöpfung. Wenige Menschen
wußten wie dieser Kämpfer gegen den Tod und das Nichts in jeder Gestalt um die
Macht und die Tiefe von Nichts und Tod. Er hätte das unheimlich Wort des großen
Dichters Valéry bejaht: „Gott hat die Welt aus dem Nichts geschaffen; aber das
Nichts scheint hindurch“; in Vergänglichkeit, Krankheit und Tod sah er es durch
die Schöpfung bekannt hat: „Gott hat die Welt aus dem Nichts geschaffen, und er
schafft sie immer neu aus dem Nichts.“ Nur so ist sie ja wahrhaftige Schöpfung.
Daraus, daß er nicht nur in einer geschaffenen, sondern in einer in jedem
Augenblick erneuerten Schöpfung lebte, kam ihm die Unerschöpflichkeit seines
Lebens. Und so wurde nicht nur das Ganze der Schöpfung, so wurde jedes einzelne
Ding ihm zu Zeichen eines Sieges Gottes über das Nichts. Jedes Ding war ihm so
von Gott aus heilig, und er verlangte, daß, entgegen einer Zeit wie der
unsrigen, die sie alle ehrfurchtslos zu Nutzzwecken verschleudert, die Dinge
wieder vom Menschen geheiligt werden, daß wir in ihnen Gott die Ehre geben, daß
wir das heilige Recht sehen, das von Gott aus auf allen Dingen der Schöpfung
liegt. Das biblische Wort Doxa, Ehre, übersetzt er mit Glanz, Herrlichkeit; wir
sollen, wir müssen wieder die Ehre, den Glanz, die Herrlichkeit Gottes auf den
Dingen aufleuchten lassen. Nirgends kommt das wunderbarer zum Ausdruck als in
seiner Andacht von der Speisung der Fünftausend, in der er dies Wunder Jesu aus
seiner Heiligung des Brotes erklärt. Sicher war diese Heiligung der Erdendinge,
noch unterhalb alles Sozialen und Politischen, auch die tiefste Wurzel seines
Bekenntnisses zum Frieden als der Unverletzbarkeit der Schöpfung. Und
schließlich wurzelte in dieser Tiefe auch sein schöpferischer Glaube an das
große Endmysterium, in dem allein der Tod in Wahrheit überwunden ist: der
Glaube an die Wiederbringung aller Dinge. –
So sehen wir ihn vielleicht
wirklich in dem einsamen Noli me tangere dieses Bildes in dieser Haltung
betenden Abschieds, in dem Alleinsein mit der abendlichen Landschaft an der
tiefsten Quelle seines Lebens. Er ist so ganz mit dieser Landschaft eins, daß
wir kaum wissen: ist es die Schöpfung, die noch einmal ihren ganzen Glanz vor
ihm aufleuchten läßt, oder ist es sein stummes Gebet, das noch einmal die Ehre,
den Glanz Gottes über die Dinge der Schöpfung breitet.