Abdias. Erzählung von Adalbert
Stifter, mit einem Nachwort von Margarete Susman
Schocken-Verlag,
Berlin, 1935
Stifter hat in dieser Erzählung zur
Darstellung des Weltgeschehens, das wir Schicksal nennen, und das in seiner Ganzheit
sich seinem Blick entschleiert als „eine heitere Blumenkette, die durch die
Unendlichkeit des Alls hängt und ihren Schimmer in die Herzen sendet“, das
finsterste, erbarmungsloseste Menschenschicksal gewählt.
Nicht zufällig ist es das Schicksal eines Juden. „Wer
vielleicht von ihm gehört hat..., sende ihm kein bitteres Gefühl nach – weder
Fluch noch Segen, er hat beides in seinem Leben reichlich geerntet –“ mit
diesen Worten leitet Stifter seine Erzählung von dem Juden Abdias ein. Ähnlich
spricht Goethe von dem Volk, dem man nichts Böses, aber auch nichts Gutes
nachsagen dürfe. Was steckt hinter diesen beiden so nah verwandten Worten? Es
ist zweifellos das Gefühl von etwas Übermäßigem, nicht Berührbaren
in dem Geheimnis dieses Volkes, das durch sein Schicksal aus allen übrigen
Völkern herausgenommen ist, das nicht wie sie alle nach dem Gesetz der
irdischen Zeit im irdischen Raum wurzelt, aufblüht und vergeht, sondern das
unter einem anderen unirdischen Daseinsgesetz steht, --einem Gesetz, in dessen
Auswirkung im Irdischen sich Heiligkeit und Fluch, Schmach und Verklärung
mischen. Weder Fluch noch Segen, weder Böses noch Gutes aus Menschenmund
scheinen dem Schicksal dieses Volkes gerecht werden zu können.
Mit dem Problem und
Mysterium des Judentums haben sich alle wahrhaft großen germanischen Künstler
und Dichter auseinandergesetzt; eine wirkliche Gestalt und Gestaltung aber
haben ihm – wenn man Lessings ins Allmenschliche verklärte Nathangestalt
(deren eigentliches Geschick, in Vernichtung und Überwindung schon hinter ihr
liegt) nicht hinzunehmen will – nur drei unter ihnen gegeben: Shakespeare,
Rembrandt und Adalbert Stifter. Alle drei haben in verschiedenen Zeiten und in
verschiedenen Kunstformen das jüdische Schicksal als ein Äußerstes, als einen Grenzfall
des Menschendaseins erfaßt. Auch Stifter, der bescheidenere Genius, der dennoch
gerade mit dieser Erzählung einen Gipfelpunkt aller Kunst erreicht hat, hat in
ihr am jüdischen Schicksal ein Äußerstes, ja, wie es seine Einleitung zeigt,
das Äußerste des Menschenschicksals überhaupt als große Ahnung sichtbar
gemacht. Er hat es in einer sehr viel späteren, sehr still, sehr nüchtern und
irdisch gewordenen, eigentümlich beschränkten Epoche getan. So hat er seinen
Helden weder wie Shakespeare zu der durch die furchtbarste Unterdrückung
geschaffenen finsteren Gegenkraft einer Welt der Schönheit, Freiheit und Freude
zusammengeballt, noch hat er ihn, wie Rembrandt, im tiefen tränenfeuchten
Dunkel seiner Heimatstadt von einer einzigen Lichtquelle erleuchtet, umgeben
von himmlischen Boten und Erscheinungen, in ständigem Vernehmen des
Übersinnlichen, aus der Wahrheit des Alten Testamentes und zugleich aus der
Wahrheit der tiefsten irdischen Erfahrung lebend, dargestellt.
Beide Erfassungen wirken aus
weiter Ferne im Bilde dieses Menschen nach; aber das eigentliche Problem dieser
Erzählung erhebt sich gerade darauf, daß keines von beiden, daß überhaupt
nichts Einzelnes und Benennbares des jüdischen Daseins in ihr klare Gestalt
gewinnt. Stifter erzählt das Schicksal eines zu seiner eigenen Zeit lebenden
Juden, das sich zum großen Teil dem Raum nach sehr fern von ihm, gleichsam am
Rande des menschlichen Raumes überhaupt, begibt, das aber trotz seiner
Absonderung und Fremdheit deutlich unter den untergehenden Sternen seiner
eigenen Zeit steht. Die mit der schweigsamen Überklarheit, Schönheit, Strenge
und grandios-visionären Präzision von Stifters Pinsel gezeichnete
Wüstenlandschaft, die die Heimat des Abdias ist, erscheint selbst als ein
Symbol jenes Äußersten, in das dieser gewaltige späte jüdische Mensch gestellt
ist: ein Symbol der Grenze des Lebenkönnens, an der der jüdische Mensch
überhaupt, vor allem aber in der modernen Welt steht.
Der Jude Abdias, im
Anfang als ein gebeugter, neunzehnjähriger Greis eingeführt, war in seiner
Jugend „so schön wie einer jener himmlischen Boten gewesen ist, die einstens so oft in seinem Volke erschienen.“ Einstens – denn diese Zeit ist längst vorüber. Die
gottbestimmte Wirklichkeit, das sichtbare Eingreifen unbekannter Mächte, die
gewaltigen Erscheinungen und Offenbarungen seines Volkes sind Abdias fremd und
unbekannt geblieben. Von der Schönheit des Anfangs seines Volkes ist er so weit
entfernt, wie er es später von der strahlenden Schönheit seines Antlitzes ist,
die auf der Höhe seines Lebens eine furchtbare Pockenkrankheit für immer
zerstört hat. Nirgends wird in dieser Erzählung der Name Gott genannt; kein
Lichtschimmer aus einer anderen Welt fällt herein. Nur in seltenen Augenblicken
dämmert es wie eine dumpfe Sehnsucht nach der Weisheit der alten Propheten und
Führer des auserwählten Volkes auf. Abdias selbst sollte eigentlich nach dem
Willen des Vaters in dieser Weisheit erzogen werden. Aber es wurde nichts
daraus, „weil es in Vergessenheit geraten war.“ Vergessenheit dessen, was dieses
Geschlecht, „das ausschließendste der Welt“, eigentlich ist, wozu es bestimmt
ist, liegt wie der leere weite Wüstenhimmel, unter dem der Knabe viele Stunden
in einem leeren Sinnen und Fragen träumt, über seinem Schicksal. Aber in dem
reichen verschlagenen mächtigen Händler, zu dem Abdias, in vollkommene Armut
und Schutzlosigkeit ausgesetzt, im unerbittlichen Kampf mit einem feindlichen
Leben erwächst, in dem glänzenden prunkliebenden Kaufmann, der mit seinen
Karawanen durch den ganzen Orient zieht; in der unerhörten Kraft und Ausdauer,
mit der er alles vollendet, was er unternimmt; in der Größe und Gewalt seiner
Lebensbeherrschung und selbst in dem Rausch von Glanz und kriegerischer Macht,
durch den er „die schimmernde Straße des Reichtums immer näher gegen die Wüste
zieht“ – in diesem Übermaß an starkem,
zähem und wildem Leben –, und mächtiger noch später in der glühenden
Ausschließlichkeit seiner Liebeskraft – sehen wir doch, nur gleichsam als
rohes, ungeschmiedetes Material, die ganze Übergewalt
des Stammes aufleuchten, der einst die Propheten und Führer der Menschheit
hervorgebracht hat.
Alle widersprechenden
Züge jüdischen Wesens sind in diesem Menschen vereint, der, durchwachsen von
dem Riesenbaum einer jahrtausendealten Vergangenheit, als Mensch seiner Zeit
losgelöst von seinem göttlichen Wurzelgrund, in all seinen gewaltigen
verlassenen menschlichen Tugenden und Lastern vor uns steht. Aber das
Seltsamste und Geheimnisvollste ist, daß das ganze Leben dieses heillosen
schuldbeladenen Menschen dennoch letzthin immer am Heil entlangläuft, daß es
überall und immer auf das unbekannte Heil ausgerichtet ist. Das Fehlen aller
religiösen Gehalte macht diesen Zusammenhang nur undurchsichtiger und
verworrener, aber auch furchtbarer und vernichtender. Die dadurch entstehende
Wirrnis äußert sich für ihn selbst als bloße Zerstörung. Aber von außen gesehen
wird sie, wird das ganze rasende gesetzlose Darauflosleben
dieses Menschen ohne sein Wissen und Wollen von Gesetz und Ordnung aufgenommen
und durchströmt. Die grauenvolle Krankheit selbst, die sein strahlendes Antlitz
verwüstet, ist zutiefst im Sinn seines Schicksals gegründet und wirkt als Sinn
in ihm weiter. So ist alles in diesem Leben schicksalhaft und gesetzhaft
verbunden; die gewaltigen Leidenschaften und zartesten Empfindungen dieses
Mannes verschlingen sich mit den Schicksalsschlägen, die ihn treffen, zu einer
einzigen Kette, deren Glieder gesetzhaft ineinander hängen, so daß aus diesem
Ganzen wirklich die Ahnung einer großen übergreifenden Weltgesetzlichkeit
aufzudämmern scheint, in der und unter der nichts verlorengeht, in der alles
streng gegeneinander gewogen und abgewogen ist, alles einander wechselseitig
trägt und hält.
Es ist, als wäre die ganze
Frage Stifters, die unausgesprochen dieser Erzählung zugrunde liegt, die: Was
kann und muß aus einem großen, stellvertretenden Menschen dieses Stammes
werden, wenn seine übermächtige, ihrem Wesen nach prophetische, das heißt
ausschließlich auf das Heil gerichtete Kraft ihr Ziel nicht findet und auf rein
irdische Wege gerät? Der Stern der Verheißung war einen Augenblick über der
verborgenen Höhle der alten verschütteten Wüstenstadt aufgeleuchtet, als der
Knabe Abdias in ihr geboren wurde. Aber weil niemand sein Licht erblickt und
den Knaben seiner Bestimmung zugeführt hat, darum muß sich das Schicksal und
seine eigenen gewaltige Kraft gegen ihn und alles, was er liebt, kehren: er muß
aus dem schuldlosen, träumenden Knaben zum harten bösen Händler werden; er muß
seine eigene Heimat verraten, sein Liebstes vertun und verraten; es muß sich
unter seinen sorgenden Händen verbluten; er muß das treueste Wesen mit eigener
Hand erschießen; er muß mit Häßlichkeit geschlagen werden, die ihn aus dem
Kreis der Liebe entrückt; und in der Stunde, wo ein Auge dennoch die Hülle des
entstellten Antlitzes durchdringt, muß die, die seine Seele erblickt, sterben.
Dem Kinde, das ihm das Wunder der Schöpfung erschließt und das seinem glühenden
Herzen alles Leben vertritt, muß selber die Schöpfung durch seine Blindheit
verschlossen sein: und es muß dadurch in all seiner Unschuld ihn in neue Schuld
und Verfehlung stürzen. Und als ein Wunder ihm dennoch die Augen öffnet und es
sich unter den Augen und Händen seines Vaters zu reinster Schönheit des Leibes
und Geistes entfaltet, da muß dieselbe Kraft, die ihm das Augenlicht gab, es
zerschmettern. Die Schöpfung selbst steht wider ihn auf. Weil der Stern, der
über seinem Hause erschien, ungesehen verblich, darum mußte alles so kommen,
wie es kam.
Aber eben weil es so
kommen mußte, darum leuchtet durch
die Kette unsinniger und unseliger Begebenheiten, die dies Leben bilden,
dennoch etwas wie ein verborgenes Licht hindurch.
Abdias endet im
Wahnsinn in dem Augenblick, wo ihm mit dem Tod des einzig, des übermächtig
geliebten Wesens die Welt zusammenbricht. Daß er die Vergänglichkeit der
teuersten irdischen Gestalt nicht in den von der Natur zugemessenen Maßen,
sondern in der frühesten Jugendblüte seines Kindes erfährt, das verstärkt die
Klarheit des göttlichen Zeichens. Abdias ist der Mensch, dem bei aller
machtvollen Lebensbeherrschung nicht zu leben geworden ist, weil seine Seele
nur das Eine kennt, und weil er unter den Vielheiten
des Daseins dies Eine nur als sterbliches Geschöpf finden kann.
Das Ende dieses Daseins
im Wahnsinn weist uns hin auf die Unlebbarkeit der
jüdischen Lebensform überhaupt, wenn sie von Gott und von dem Gesetz Gottes
gelöst ist. Verglichen mit ihrem äußersten Gegenbild: der leichten
Verwandelbarkeit, dem Ineinanderübergehen, der
Schein- und Schaumhaftigkeit der Erscheinungen in der
indischen Welt, verglichen aber auch mit der in der Natur wurzelnden, nach
ihrem Gesetz entstehenden, sich entfaltenden und vergehenden griechischen
Daseinsform, und selbst mit der durch die göttliche Vertretung und die
Jenseitshoffnung gelösten und erlösten christlichen, ist die Urform des
jüdischen Daseins die tiefe unaufhebbare Identität mit dem eigenen Selbst, in
die alles Leben wie in einen gewaltigen Wirbel und Abgrund hineingerissen wird.
Diese Form, von der Forderung der Gestaltung des Menschen zum Ebenbild Gottes
ursprünglich geprägt, kann allein vom Antlitz des lebendigen Gottes erleuchtet,
von Seinem Gesetz entwirrt und geklärt werden. Erlischt über ihr Antlitz und
Gesetz, ist sie allein dem eigenen Abgrund preisgegeben, in dem die Lebensgehalte
zu völlig anderen Flammentiefen sich entzünden als in jeder anderen Lebensform,
so muß sie dämonisch werden, ruft sie den Zorn Gottes und der Mächte gegen sich
auf. Gegen sich; denn diese Dämonie richtet sich wesensmäßig nicht nach außen;
sie kehrt sich gegen den Abgrund des eigenen Selbst. Alle Leidenschaft, die
sich in ihm sammelt: das Leid, die Liebe, die Güte selbst muß sich gegen den
eigenen Ursprung kehren und ihn selbst und alle seine Ziele beschädigen und
zerstören.
Es ist dies unirdische
Daseinsgesetz, das sich im Judentum an die Stelle aller anderen Gesetze setzt.
Enthüllt es im Abdias seine Wahrheit an einem Einzelnen, an
einer großen prophetischen Natur, so zeigt es sich nicht weniger klar am
Schicksal des Volkes als Ganzem. Abdias ist das Bild der großen ins Irdische
verirrten Volksgestalt, die ihre Wahrheit allein an Gott und Gottes Gesetz hat.
Indem wir sein Geschick als das Abbild des geschichtlichen Schicksals unseres
Volkes überhaupt erkennen, erfahren wir zugleich, wie der furchtbar verwundende
Pfeil, der in dieser Erzählung steckt, auf unseren eigenen geschichtlichen
Augenblick zielt.
Auch unser Schicksal
ist unlebbar geworden. Das Antlitz unseres Volkes ist
entstellt; die Liebe hat sich von ihm abgewendet. Mit der ganzen europäischen
Menschheit hingerissen in ein Leben, in dem Liebe, Leid und Schuld blind und
gesetzlos schweifen, haben wir unseres göttlichen, botenumstrahlten Ursprungs
vergessen. Darum ist das Schicksal, in dem wir heute stehen, nicht bloßes
Schicksal; es ist Gericht. Aber mit eben diesem Gericht fühlen wir in diesem
Augenblick plötzlich unser verworrenes Leben sichtbar von Gesetz und Ordnung
wieder aufgenommen. Der Strom des Heils beginnt neu das vertrocknete Flußbett
unseres Daseins zu durchströmen. Und so fällt wirklich in diesem düstersten
Augenblick der Schimmer eines Blattes aus jener heiteren Blumenkette über das
schmerzhafte Mysterium von Schuld und Schicksal, Auserwählung und Verwerfung,
das das unseres Volkes ist. In dem Wissen des Dichters, daß das düstere Gericht
Gottes in all seiner Erbarmungslosigkeit als unergründlich heitere Blumenkette
durch die Welt hängt, lebt etwas von der überschwenglichen Wahrheit des
achtundneunzigsten Psalms, in dem die Seele ihrem eigenen Gericht als dem
gerechten Gericht Gottes entgegenjauchzt. Es lebt darin das Wissen um das
heiligste und stillste Mysterium der jüdischen Verheißung: daß die
Gerechtigkeit Gottes, indem sie sich vollzieht, aufblüht zur heiteren,
allversöhnenden Liebe.