Otto Weininger
In: Neue Züricher Zeitung,
9.1.1954
Der Name Weininger ist in der heutigen Welt nicht vergessen, aber verkannt. Diese Verkennung, die er bereits von den Mitlebenden erfuhr, stammt aus der Gewalt einer Dämonie, die wenig später ein wissenschaftliches Denken bis zum Grunde aufgehellt hat. Sie mußte in Weininger fast zum Wahnsinn werden, weil sie ihn als die letzte und eigenste Frage seines Lebens überwältigte. Daß er ohne äußeren Grund mit dreiundzwanzig Jahren freiwillig aus der Welt geschieden ist, scheint nur Verwirrung anzuzeigen; aber das Wort des großen Dichters Strindberg, das er einem Freund Weiningers schrieb: „Daß er weggegangen ist, bedeutet für mich, daß er allerhöchste Erlaubnis dazu hatte“, weist darauf hin, daß keine Unordnung, sondern eine Ordnung tieferer Art in dem Übermaß seines Lebens und Erkennens wirkte, daß er durch die Kraft seines Gewissens fast ein Heiliger ohne die Gnade des Heiligen war.
Darum hat die selbe
Entdeckung, der selbe Gegenstand, der ihn vor allem berühmt gemacht hat, auch
die Verwirrung um ihn her bewirkt. Unmittelbar vor Freud hat er auf die im
Dunkel verborgene Sphäre der Geschichte ein grelles verzerrendes Licht fallen
lassen. Denn er ist nicht wie Freud ärztlich, d.h. um der Heilung der Menschen
willen, noch wissenschaftlich, d.h. rein objektiv an dies Gebiet herangegangen:
er hat es unmittelbar aus der Tiefe eines brennenden Gewissens für die
Menschheit geschöpft.
So hat er zunächst die Frau, das
weibliche Geschlecht mit letzter Leidenschaft, mit einer Unbedingtheit wie kaum
einer der christlichen Asketen des Mittelalters verneint und gleichsam aus der
Menschheit auszumerzen gesucht; er hat den Mythos des Sündenfalls als Verführung
nicht der Schlange, sondern des Weibes aus innerster Überzeugung begriffen; er
hat, wie die scholastische Philosophie, der Frau die Seele, das Innenleben
abgesprochen. Und er hat dies alles nicht im finsteren Mittelalter, er hat es
in einer Zeit getan, in der zum erstenmal in der europäischen Geschichte die
Frau als selbständiges Menschenwesen sich grundsätzlich ihren Platz neben dem
Mann erkämpfte und ihn zum Teil auch schon erkämpft hatte. Die bis in Kerker
und Hungerstreik ausgefochtenen Kämpfe der englischen Frauen um die menschliche
und politische Gleichberechtigung, die zum Eintritt der Frau in die europäische
Geschichte geführt haben, fallen zeitlich genau mit Weiningers
leidenschaftlicherer Verwerfung der Frau als des absolut minderwertigen Teils
der Menschheit zusammen. Diese Verwerfung geschah nicht wie in einigen wenigen
heute noch zurückgebliebenen Ländern aus Gründen bürgerlich-männlichen
Behagens; sie geschah aus dem genau entgegengesetzten Grund: weil er in der
Frau die Verwalterin dieses Behagens fürchtete. Nicht aus der zu festen Haftung
im Alltäglichen, sondern aus der leidenschaftlichen Wurzelung
im Absoluten ist seine radikale Verwerfung der Frau zu verstehen. Als Mensch
der Idee, dem von der Idee aus die dunkelste, vom Strahl der Idee nicht mehr zu
erreichende Tiefe des Lebens entwertet war, als Dualist,
dem fast wie den Manichäern das Ganze des Lebens in eine Welt der Finsternis
und des Lichts zerfiel, verwarf er den Mutterschoß, dem er entstammte, und die
mit ihm verbundene Seinsart als niedrige und
niederziehende, als des eigentlichen Menschen unwürdige. Als ethischer Mensch
von höchstem Rang, der von der Schuld der Welt selbst verstört war und der sie
als eigene auf sich nahm, hat er damit das gerichtet, mit dem er am tiefsten verbunden
war.
Er
selbst spricht einmal von dem gesteigerten Innenleben großer Menschen. Gerade
an der abstoßenden Strenge und Furchtbarkeit seines Urteils über die Frau ist
ein solches gesteigertes Innenleben abzulesen, so daß, was uns am meisten an
ihm verletzt und abstößt, uns zugleich Bewunderung und Erbarmen abringt.
Weininger hat Worte über die Frau gesagt, die keine Frau, die kein Mensch ohne
Empörung lesen. Zwar sind diese Worte dadurch eingeschränkt und ihrer vollen
Schärfe beraubt, daß er unter der Bezeichnung M und W das männliche und das
weibliche Element auf beide Geschlechter verteilt und dadurch den Unterschied
bis zu dem Grad relativiert hat, daß in jedem Mann etwas von W, in jeder Frau
etwas von M zu finden sei. Aber dieser Einschränkung für die empirische
Wirklichkeit steht doch das ungeheuerliche Wirklichkeitsurteil gegenüber: „Die
höchststehende Frau steht noch unendlich tiefer als der tiefststehende
Mann.“ Hier ist kein Mißverständnis mehr möglich.
Was liegt hier vor? Ist es,
als was es zunächst erscheint, Wahnsinn, das Fehlurteil einer kranken
Phantasie, vielleicht nur einer Pubertätsphantasie? Man suchte sich in dem
ungeheuren Aufsehen, das Weiningers Buch unmittelbar
nach seinem Tod erregte, mit dem Wort „pathologisch“ gegen seine Wirkung zu
schützen. Und es kann gewiß kein Zweifel daran bestehen, daß Weininger
pathologisch war. Was will das aber in einer bis auf die Wurzel erkrankten Welt
wie der, in der er lebte, besagen? Wäre er als ein gesunder robuster Mensch
fähig gewesen, auch nur irgend etwas von den Schrecken
und auch von den Wahrheiten seiner Zeit zu erfassen und lebendig zu
durchdenken? Hätte er auch nur eines ihrer Probleme, die er mit so gewaltiger
Leidenschaft ans Licht riß, erblicken, eine einzige ihrer Fragen stellen und um
ihre Lösung mit dem Einsatz seines Lebens ringen können?
Vielleicht
kann uns zum Verständnis einer Fragestellung wie der seinen ein bedeutsames
Wort von ihm selbst helfen: dass sich ein Problem
immer dann stellt, wenn eine Wirklichkeit problematisch geworden ist. Er hat
diesem Wort die tiefsinnige Erläuterung über das Grundproblem Kants
hinzugefügt: „Als sich Kant das Problem stellte, wie Erfahrung überhaupt
möglich sei, da muß ihm alles
in Frage gestellt gewesen
sein.“ Und wir können dies Wort durch ein Wort von Kant selbst ergänzen: „Das
Genie ist immer ein Gestörter, den erst die Auslegung ins Gleichgewicht bringen
muß.“
Das Wort Weiningers
über Kant und das Wort Kants selbst ergeben freilich ein anderes als das
übliche Bild vom Philosophen als das des unerschütterlichen stoischen Weisen;
er reicht aber auch die antike Definition vom Philosophen als dem, der über die
Dinge erstaunt, die dem gewöhnlichen Menschen selbstverständlich sind, schon
für das Verhältnis der antiken Philosophen zur Welt nicht aus. Heraklits Vision
vom Lebensganzen als währendem Weltbrand, vom Krieg als Vater aller Dinge,
vollends der Sturz des Empedokles in den Aetna drücken nicht bloßes Staunen über die Welt, sondern
eine Erschütterung des ganzen Wesens durch das Grauen des Wirklichen aus. Erst
recht konnte in einer Zeit wie der Weiningers, in der
wie kaum je zuvor in der Geschichte alle Lebensformen und Wahrheiten
unterirdisch schon in Frage gestellt waren, die Antwort eines wachen Gewissens
auf die Problematik der Welt nur die einer tiefen Erschütterung und Verstörung
sein.
Wir heutigen Menschen sind von
der Erfassung des Geschlechts jener Zeit durch geschichtliche Katastrophen
ungeheuersten Ausmaßes und durch die mit ihnen verbundene Wandlung aller
Lebensformen getrennt; eine Welt, eine Gesellschaft, die damals als real
erschien, ist heute zerfallen. Und zugleich hat ein neues, unendlich vertieftes
Wissen um die menschliche Seele unser Verhältnis zum Problem und Schicksal des
Geschlechts gewandelt. Und doch: trotz dieser äußeren und inneren Wandlung
bleibt auch heute noch das Problem des Geschlechts: das Problem der Spaltung
der Menschheit in Mann und Weib, an die ihre Erhaltung gebunden ist, als eines
der verwirrendsten und unlösbarsten bestehen. Es
birgt in sich so viel Sinn und Widersinn, daß es von je den einfachen
Menschenweg als den Weg zu Gott verstört hat. Jede Religion, jede Kultur, jede
Gesamtanschauung des Lebens hat es ein Stück weit ins Licht gehoben; eine
Lösung hat keine gefunden. Von je hat vor dieser abgründigen Verstrickung ins
Irdische, die eine mächtige Beflügelung zum Göttlichen ist, der Geist hilflos
gestanden. Zwischen den Verzükkungen der Ekstase und
der Askese, der bacchantischen Feier und der klösterlichen Abschließung und der
Ehe als Einpflanzung beider in Gott und Tod bewegen sich die wenigen
geschichtlichen Lösungsversuche dieses unlösbaren Problems, an dem jede Seele
leidet – in dem Christus selbst durch sein Doppelwort über den möglichen und
den wirklichen Ehebruch einen Abgrund aufgerissen hat, den allein die Gnade
schließt –, das noch der große Europäer, der seiner Lösung am nächsten gekommen
ist, weil er am reinsten himmlische und irdische Liebe versöhnt hat, durch das
Wort einer noch tieferen Sehnsucht der Unlösbarkeit übergeben hat:
Und jene
himmlischen Gestalten,
Sie fragen
nicht nach Mann und Weib;
Und keine
Kleider, keine Falten
Umgeben
den verklärten Leib.
Vor diesem ewigen Problem fand
sich mit der Gewalt eines heiß aufspringenden Herzens und des zartesten Gewissens
in einer alten verfallenden Welt der junge Weininger. Die Sehnsucht jenes
Dichterwortes nach Erlösung vom verstörenden Problem des Geschlechts brannte
auf dem Grund seiner Seele. Ganz bis zum Ende mußte er dies Problem in seiner
schmerzlich gefesselten Seele austragen. Der Ort und die Zeit, in denen es sich
ihm mit verzweifelter Wucht stellte, war das Wien der Jahrhundertwende. Es war
die Zeit, in der vor dem Andrang neuer, noch unkenntlicher Wirklichkeiten die
bürgerliche Welt in ihren Fugen krachte, und es war der Ort, an dem das
Geschlecht und das Geschlechtliche wie an keinem anderen des modernen Europa,
vielleicht selbst Paris nicht ausgenommen, die gesamte gesellschaftliche
Wirklichkeit prägte. Und zwar das Geschlecht als eine Macht, die nirgends mehr
eine klare Gestalt, eine bestimmte Gemeinschaftsform hatte, die sich aber in
keiner Weise zu dieser ihrer Auflösung bekannte, die so verhehlt und schamlos
zugleich alle Dämme bestimmter Formen, die sie zum Schein noch bestehen ließ,
überflutete. Es war die Wirklichkeit der beschwingten mitreißenden Musik der
Wiener Walzer, des berauschten Sichdrehens um sich
selbst, mit ihren schönen verführerischen Frauen, die in Weiningers
tief und ursprünglich von der Idee geprägtem Geist eine so leidenschaftliche
Verwerfung erfuhr.
Und
ganz stand er mit dieser Verwerfung nicht im Leeren; es stand hinter ihr eine
große, neue Kunst, eine Kunst, die sich gegen die unsere schon ein Stück weit
verschoben hat: als die höchsten Gipfel, die breitesten Massive waren dem Blick
Weiningers Wagner und Ibsen vorgelagert. Weil beide
die Fragen seiner eigenen Zeit neu und in großer Tiefe gestaltet hatten, waren
sie ihm die vor allem Entscheidenden und Richtungsgebenden, hinter denen in
seinem früh abgebrochenen Leben manche ferner liegende Höhen nicht mehr in
ihrem vollen Ausmaß sichtbar wurden. So standen hinter seiner Abweisung dieser
glänzenden Wirklichkeit auch die Frauengestalten Wagners und Ibsens, die beide
in verschiedener Weise die Welt vom Fluch des ungeheiligten
Frauendaseins zu erlösen suchten. Aus der Mischung der ursprünglich in seinem
Geist liegenden Idee und den Bildern jener Dichtung erwuchs ihm so der große
Traum von Reinheit, den er dem unbeherrschten Taumel jener Gesellschaft
entgegenstemmte.
Es wirft ein ergreifendes
Licht auf diese Sehnsucht und drückt zugleich ihre ganze Echtheit und
Wirklichkeit aus, daß er – wie deutlich aus einigen Seiten seines großen Buches
hervorgeht – zur selben Zeit, da er dieses die Frau richtende und vernichtende
Buch schrieb, ein Mädchen liebte und daß diese Liebe so ganz im Bann seiner
Idee stand, von so allem Irdischen entrückten Reinheit war, daß ihm gewiß war, dass schon die leiseste Berührung diese Liebe zerstören
müsse.
Man sieht den kaum
Zwanzigjährigen mit dem grenzenlos einsamen Gesicht, das alle seine Bilder uns
zeigen, in einem der üppigen Wiener Salons der Jahrhundertwende einer
lieblichen Mädchengestalt gegenüberstehen, inmitten des Taumels von Klängen,
von Tanz, von Lichtern und Blumen, allein – völlig unfähig, sich auch nur um
einen Schritt breit dem berauschten Leichtsinn dieses Lebens zu nähern,
unfähig, sich auch nur einen Schritt breit dem geliebten Mädchen zu nähern,
weil ja bei der ersten Berührung der große Traum von ewiger Liebe zerrinnen
müßte. Seine Liebe selbst riß den Abgrund zwischen ihnen auf; sie war selbst
dieser Abgrund, weil die schmale unüberschreitbare Spanne, die ihn von dem
geliebten Mädchen trennte, der Abgrund zwischen Idee und Wirklichkeit war.
Aus
eben diesem Abgrund ist ihm sein Verwerfungsurteil über die Frau erwachsen. Und
gewiß war dies Urteil, das er aus der Tiefe seines Reinheitverlangens
emporschöpfte, nicht nur Wahnsinn, sein Bild von der
Frau nicht nur eine phantastische Ausgeburt eines verstörten Innen; gewiß
steckt in seiner Anklage der Frau auch ein Teil Wahrheit. Selbst seine restlose
Einteilung der Frau in die Gestalt der Mutter und der Prostituierten ist, wenn
man sie in der ganzen übergeschlechtlichen Tiefe und Weite faßt, in der sie
gemeint ist, nicht ohne ein Korn von Wahrheit. Er verwirft darin die Frau als
die, die von beiden Seiten her die geistige Richtung und Forderung des Mannes
nicht nur nie erreicht, sondern ihr durch ihr Sein selbst entgegensteht, weil
sie durch ihr Frauenschicksal an das Geschlecht und das Geschlechtliche
gebunden bleibt. Indem sie in der Geburt das Leben immer wieder in sich
zurückführt, ist sie von dem vorwärtsgerichteten Drang des Geistes nach
Unsterblichkeit ausgeschlossen. Um Unsterblichkeit aber ging ihm
alles, ohne diese Grundlage ist nichts in seiner Gesinnung zu verstehen.
Aber Weininger hat nicht nur den
leiblichen, er hat auch den geistigen Mutterschoß, dem er entstammte, er hat
auch das Judentum mit einer Leidenschaft verworfen, die hinter der, mit der er
die Frau verwarf, nicht zurücksteht. Es war die selbe
tödliche Wucht, mit der er beide ins Nichts hinabstieß. Seine Worte über die
Frau sind manchen ernstesten Frauen tödlich geworden; seine Worte über das
Judentum kehren zum Teil wörtlich in den Formulierungen des Hitler-Antisemitismus
wieder. Diese Äußerungen blieben subjektiv unverzeihlich, d.h. sie würden das
geistige Antlitz dieses Menschen entstellen, wenn wir nicht hinter seinem
unseligen Verhältnis zur Frau wie zum Judentum jenes unerbitterliche
Selbstgericht erkennten, das ihn in den frühen Tod trieb. Sie blieben aber auch
objektiv gesehen um ihrer Wirkung willen unverzeihlich, wenn nicht in ihnen
trotz allem ein metaphysisches Grundverhältnis zu erkennen wäre, das durch die
Welt, die ihn umgab, und durch die Kürze seines Lebens nur in einer Verzerrung
ausgestaltet wurde. Da er bei seinem leidenschaftlichen Verhältnis zum Heiligen
das Heilige nicht aus der Bibel selbst, sondern aus weit späteren Quellen
empfing, die Bibel nicht eigentlich zu seinem Forschungsgebiet gehörte, war ihm
die Wahrheit der beiden Testamente für seine Erfassung nicht gegenwärtig, und
es konnte in ihm jene übliche Deutung sich befestigen, die er im Leben auf
Schritt und Tritt um sich sah und fühlte: daß die Gnade erst im Christentum
ihre Stätte habe, daß das Judentum in der Unseligkeit
verblieb, die sein eigenes Leben prägte.
Auch sein Verhältnis zum
Judentum kann nur von seinem Ort und von seiner Zeit aus verstanden werden. Was
er kannte und allein kannte, war das Wiener Judentum seiner Zeit und jener selben
Gesellschaftsschicht, in der er die Frau als entartet fand. Und näher,
unmittelbarer, identischer noch war sein ursprüngliches Lebensverhältnis zu
dieser leidenschaftlich gehaßten Wirklichkeit, die er von Grund auf verfemte.
Sich selbst konnte er in diesem modernen aufgelösten Judentum unmöglich
wiederfinden, gerade weil er, ihm selbst unbewußt, in der Tiefe seines Seins
die reinste und mächtigste Idee des jüdischen Menschen verkörperte: die des
alttestamentlichen Juden, die nur in der ganzen verzerrten Prophetie seines
Wesens ausgedrückt ist. Das moderne Wiener Judentum dagegen war dadurch
gekennzeichnet, daß es, erst vor kurzer Zeit aus dem ganz vom Glauben geprägten
östlichen Ghetto hervorgegangen, in dieser neuen Welt, von allen noch eben
lebendigen Glaubensgehalten gelöst, sittlich und religiös völlig im Leeren
hing, zumal es in jener Gesellschaftsschicht meist auf der Basis eines rasch
erworbenen Reichtums lebte, der ihm den Zugang zu allem öffnete, was nie das
Seine war und sein konnte. Diese in allem Eigenen aufgelöste, wahllos dem
Fremden sich hingebende und so nirgends mehr kenntliche Gemeinschaft, die jeden
Lebensernst verloren hatte, mußte für einen tief religiösen Menschen wie
Weininger unerträglich sein. Fast mehr noch als die seiner Idee fremde Frau
erschreckte ihn dies ihm fremde und feindliche Judentum. In seinem scharfen,
düsteren Bild vom modernen aufgelösten Juden erscheint er als der umgekehrte
Brudermörder: nicht Kain, der Abel, sondern Abel, der
Kain erschlägt, der als der aus der Beziehung zum
Heiligen Lebende den vernichtet, dem das Zeichen des allem Heiligen
unzugänglichen Lebens in die Stirn eingebrannt ist.
Der
Haß gegen das Judentum war der jüdische Selbsthaß – eine Abart und Steigerung
des „Moi haïssable“ Pascals – der aus der Geschichte
des jüdischen Volkes nicht schwer zu begreifen ist. Eine Menschenart, die von
allen Menschen gehaßt wird, wird nicht leicht sich selbst lieben können. Die
einzige Möglichkeit dazu ist der Glaube an einen liebenden, segnenden Gott; ihn
konnte Weininger in seiner Zeit und Umgebung nicht mehr erschwingen. Ein
frommer Jude ohne Gott aber hat es unter den Menschen zu schwer. Der Blick der
Liebe erweckt Liebe, der Blick des Hasses erweckt nicht immer Haß; aber er
erweckt immer Verzweiflung. Denn ein ungeliebter Mensch muß sich fragen: Bin
ich denn so, daß mich keiner lieben kann, auch dann nicht, wenn ich den anderen
liebe? Die unerwiderte Liebe der jüdischen Seele wird unter den Menschen der
jüdische Selbsthaß genannt.
Aber
wie Weininger an den Frauen der Wiener Gesellschaft dennoch ein Wirkliches des
Weiblichen überhaupt abliest, so trifft er, von dem verdorbenen damaligen
Wiener Judentum ausgehend, doch auch ein Wirkliches des Judentums. Indem er
beide von der Idee aus erblickte und richtete, hat er zwar nicht die
Wirklichkeit, wohl aber ihren äußersten Rand, die Gefahr beider sichtbar
gemacht. Daß er aber annahm, daß die von ihm erblickte Wirklichkeit der Frau
das Ganze der Frau, daß das von ihm erblickte Judentum das Ganze des Judentums
sei, daran ist zweifellos auch sein zu früh abgebrochenes Leben schuld, das ihm
ein weiteres Eindringen in seine Hauptprobleme versagte. Von seiner Verwerfung
des Judentums hat er ausdrücklich, aber für das Ganze seiner Deutung
wirkungslos, seine jüdischen Freunde ausgenommen, um deren reine Treue und
geistige Vornehmheit er wußte. Wie wenig er aber der in ihm selbst liegenden
Idee von einem wahrhaftigen Judentum nachgegangen ist, zeigt die erstaunliche
Unkenntnis, die er, der sich auf den verschiedensten Gebieten ein für seine
Jugend fast beispielloses Wissen erworben hatte, der auch die Evangelien gut
kannte, gegenüber dem Alten Testament bewies, indem er als einen seiner
Hauptmängel gegenüber dem Neuen Testament bezeichnete, daß es in ihm keine
Engel, Boten Gottes, gebe. Und er hätte doch nur die ersten Seiten aufschlagen
müssen, um dort die Botengestalt zu finden, die das tiefste Sinnbild seines
eigenen Lebens war: den Engel, der mit dem Flammenschwert den Menschen aus der
Ewigkeit in die Zeit verstößt.
In
dieser Verstoßung ist sein ganzes Schicksal beschlossen. Daß er, der in allem
das Ewige, Unbedingte suchte, dessen innerstes Sein die Richtung auf
Unsterblichkeit war, überall und in allem Zeit, Verstoßung, Sterblichkeit fand,
das ist die metaphysische Wurzel aller seiner Verwerfungsurteile, der Grund
seines Nichtlebenkönnens selbst. Darum ist die
tiefste gedankliche Erschließung, die wir ihm danken, seine Auseinandersetzung
mit der Zeit. Aus seinem Verhältnis zur Unsterblichkeit hat er eine
metaphysische Deutung des Zeitbegriffs gegeben, über die trotz allen großen
Entdeckungen, die das moderne Denken gerade über die Zeit gemacht hat, auch das
heutige Denken noch nicht hinausgekommen ist. Er hat den Zeitbegriff Kants nach
zwei Seiten überschritten: er hat die Einsinnigkeit, Unumkehrbarkeit der Zeit entdeckt, und zwar als die
ethische Qualität, er hat aus ihr eine neue Ethik entwickelt. Nur in der
vorwärtsgerichteten Zeit kann ich handeln, und nur die vorwärtsgerichtete Zeit
nimmt mein Handeln auf. Und aus derselben ethischen Zeitkonzeption hat er sich
gegen die von Kant aufgestellte Idealität der Zeit gewandt: „Wenn die Zeit
nicht volle objektive Wirklichkeit ist, wird mein reales Handeln in ihr
zunichte.“ Nur im Element des Wirklichen kann das Ethische sich gestalten, und
nur in der Richtung auf die Zukunft kann sich der Wille bewähren. Darum geht
Weininger auch über Kants Behauptung, daß nichts Gutes in der Welt sei als
allein ein guter Wille, noch hinaus. Er stellt diesem Wort die Behauptung
gegenüber, daß der Wille immer gut ist, daß es gar keinen bösen Willen gibt.
„Das Böse ist der Verzicht auf den Willen und das Werden des Triebes aus dem
Willen.“
Damit ist es schließlich der Wille
selbst, der der Zeit ihre Richtung gibt. Die Einsinnigkeit
der Zeit ist für Weininger identisch mit der Tatsache, daß der Mensch ein
wollendes Wesen ist. Der Verzicht auf den Willen ist so zugleich das
Zurücksinken in den Trieb und das Zurücksinken in die Vergangenheit: das
Vergessen. Die mächtigste Helferin des Willens auf seinem Weg ist für Weininger
das Gedächtnis, das das Vergangene in die Zukunft hinüberrettet. Denn der Wille
gibt nicht nur der Zeit ihre Richtung; er ist als vorwärtsgerichtete und alles
Vergangene in sich hineinreißende und erneuernde Kraft geradezu selbst die Zeit.
Damit berührt sich die Zeiterfassung Weiningers nicht
nur formal mit den Wahrheiten des neuesten Denkens; sie spricht inhaltlich auch
genau die Zeiterfassung der Prophetie des Alten Testamentes aus, für die die
Zeit der zukunftschaffende Wille des Menschen ist.
Aber
Weininger geht noch ein Stück weiter, das freilich, obwohl in anderer Weise,
auch in der messianischen Konzeption des Alten Testamentes schon angelegt ist.
Die Zeit ist ihm der Weg fort vom Zufall der Inkarnation, das heißt von der
zufälligen Individualität, in der der Mensch geboren wird, zur sittlichen
Persönlichkeit. Aus diesem einsinnig von der Geburt
bis zur Unsterblichkeit vorwärtsgerichteten Wesen der Zeit als der sittlichen
Lebenslinie verwirft er grundsätzlich die Form des Kreises als die in sich
zurückkehrende, außersittliche, unsittliche Lebensform. Es ist die Form des
weiblichen Lebens, wie er sie an dem Wirbel der Walzer, an den Frauen, die er
im Tanz sich drehen sah, wie er sie aber auch tiefer an der Lebensform der Frau
als Schließerin des irdischen Lebenskreises durch die Geburt abgelesen hat.
Die
entgegengesetzte Form der Zeit: die des vorwärtsgerichteten Geistes, fand er am
reinsten ausgeprägt in seinem Begriff vom Genie als der Verkörperung des auf
die Zukunft gerichteten schöpferischen Willens. Denn das Genie ist ihm nicht
nur im Sinn der Romantik der schaffende künstlerische Mensch, der das Werk der
Natur fortgestaltet. Wie alles in der Neuromantik, zu der im weitesten Umkreis,
schon allein durch seine Beziehung zu Wagner, auch Weininger gehört, der ersten
Romantik gegenüber eine Steigerung und Übersteigerung ist, so ist auch das
Genie hier nicht mehr nur der schöpferisch gestaltende, sondern auch der
sittlich-religiöse, der für das Ganze verantwortliche Mensch. Es ist überhaupt
der Mensch, der grundsätzlich alle Werte in sich schließt, für den alle Dinge
Sinn und Bedeutung haben. Weininger hat das in dem schönen Wort ausgedrückt:
„Der Mensch ist um so bedeutender, je mehr alle Dinge für ihn bedeuten.“ Das
vollendete Genie wäre der Mensch, für den alle Dinge Bedeutung haben, der sie
alle in sich realisiert, der sie damit alle auf sich nimmt und durch die
vorwärtsgerichtete Kraft seines Willens in die Unsterblichkeit einführt.
Dies
Bild des Genie als des ganzen, vom Ganzen erfüllten, für das Ganze
verantwortlichen Menschen, wie es im Geist Weiningers
lebte, ist das gesteigerte Abbild seiner selbst. Aber dieser hohe, für alle und
alles verantwortliche Mensch trägt eine schwere Last. Er ist der Ausdruck eines
Geistes, der von allem, was ihm begegnet, übermäßig und unerträglich berührt
wird. Unerträglich, weil diese Berührung nicht nur seinen schöpferischen
Lebenskern, in dem sich alles Leben eint und erneuert, sondern auch seinen
moralischen Kern trifft, der ihn von allem Leben absondert und vereinsamt. Und
dieser ist ständig aufs empfindlichste getroffen. Es ist in dieser
Welterfassung eine Hypertrophie des Moralischen, die zuweilen an das
Entsetzliche streift. Wie Weininger die Zeit nur als moralisches Phänomen
erfassen, nur in der moralischen Auseinandersetzung mit dem Leben ihren Sinn
erschließen kann, wie er die höchste Funktion des Genies in einer sittlichen
Verantwortung für das Ganze des Lebens erblickt, so hat er auch jede
Erscheinung des täglichen Lebens, jede Krankheit, jeden körperlichen Zustand
als moralisches Phänomen begriffen.
Der
letzte Sinn einer solchen Weltbetrachtung ist ein einziges unablässiges Aufsichnehmen von Schuld, aller Schuld, die ihm begegnet,
der ganzen Weltschuld überhaupt. Daraus stammt seine brennende, haßerfüllte
Kritik, seine rasende Verwerfung dessen, was ihm das Nächste, ja das Eigene,
Eigenste war und was nicht der Verantwortung, die er für es trug, entsprach. Es
ist ein einziges ungeheures Selbstgericht, an dem er notwendig zugrunde gehen
mußte. Aber dies Selbstgericht, das die Erfüllung der vollkommen moralischen
Weltanschauung ist, ist dies nicht nur als nachträgliches Geschehen, sondern
auch als ursprüngliches Sein. Es gibt Menschen, die dafür ausgesondert,
aufgespart sind. „Mit Schuld beladen wie ich“, hat Strindberg nach Weiningers Tod geschrieben. Und er fährt, nach dem Sinn
dieses Schicksals forschend, fort: „Die Theosophen allein haben den Mut, die
Antwort zu liefern.“ Damit wäre ausgedrückt, daß beide in einem früheren Leben
sich mit Schuld beladen haben. Aber darauf ist zu fragen: Welcher Mensch hätte
das nach der Seelenlehre nicht getan? Ja welcher Mensch wäre nicht auch nach
der biblischen Sündenfallslehre mit ursprünglicher
Schuld beladen? Nicht darin kann das Unterscheidende zwischen den Menschen
liegen. Es muß darin liegen, daß bei diesen beiden, zumal bei Weininger, der
daran zerbrach, das Gewissen von einer anderen Zartheit und Transparenz als bei
den anderen Menschen war, daß darum ganz anders als durch die dichten Mauern eines
normalen Gewissens durch diese durchsichtig zarten Wände die gemeinsame Schuld hindurchschien.
Auch
die Schuld, die er an der Frau so erbarmungslos geißelte, hat er zuletzt auf
sich selbst genommen. Es war die Endforderung seines Buches gewesen, daß die
Frau als die, die den Mann unausweichlich an das Geschlecht bindet, auch die
sein müsse, die ihn durch ihre vollkommene Entsagung vom Fluch des Geschlechts
erlöst. Wie bei Schopenhauer ist der Schlußstein seines gedanklichen Werkes der
Heilige. Nur daß hier nicht der Mann, sondern die Frau das Letzte ist, daß als
den Menschen entsühnende und heiligende Macht an Stelle des männlichen Heiligen
die weibliche Heilige getreten ist. So seltsam das erscheinen mag: es ist darin
kein wirklicher Bruch: aus dem selben Abgrund zwischen
Idee und Wirklichkeit, aus dem die radikale Verwerfung der Frau entsprungen
war, ist auch die Frau als Erlöserin aufgestiegen.
Aber am Ende löst sich die
phantastische Verhüllung, in die er sein Bild von der Erlösung gebannt hatte, und
er selbst tritt aus dieser glänzenden Hülle nackt und arm, als ein
verzweifelter Mensch hervor. Er erkennt, daß die Schuld, die er in ihrer ganzen
Schwere der Frau überbürdet hatte, seine eigene, eigenste Schuld ist. Nüchtern
und streng hat er es kurz vor seinem Tod in einer Tagebuchaufzeichnung
niedergeschrieben, die ihm das furchtbarste Gericht über ihn selbst sein mußte:
„Der Haß gegen die Frau ist nichts anderes als der Haß gegen die eigene noch
nicht überwundene Sexualität.“
Allein
die Schuld, die er auf das Judentum häufte – die einzige, von der er sich in
Wahrheit nicht lösen konnte –, hat er bis zuletzt
nicht auf sich genommen. Aus ihr ist er ausdrücklich herausgetreten, indem er
am Tag seiner Promotion – das Datum ist für seinen Schritt bezeichnend – zum
Christentum übertrat. Und wir ständen hier vor einem unlösbaren Rätsel und vor
der Gefahr einer sittlichen Verwerfung dieses fast bis zur Heiligung sittlichen
Menschen, wenn wir diesen Schritt nicht aus der ganzen Dunkelheit und
Trostverlassenheit seines Lebens und doch auch aus seiner noch nicht ganz zur
Reife gelangten Jugend verständen. Es geschah wohl zur Hälfte aus dem Verlangen
nach einer Gnade, von der er sein Leben ausgeschlossen fühlte; aber es war
sicher mehr noch die Flucht vor seinem undurchschauten,
in seiner wirklichen Bedeutung nie begriffenen Ursprung; es war einfach die
Flucht aus dem Judentum. Schon dadurch war sein Übertritt kein im strengen
Sinne religiöser; er war es aber auch darum nicht, weil Weiningers
Beziehung zum Christentum nicht so tief und ausschließlich, nicht die eine und
allein erlösende Wirklichkeit, sondern weil es ihm ein Lebens- und
Wissensgehalt neben anderen Lebens- und Wissensgehalten war. Und daß ihm dieser
Schritt nichts von dem geben konnte, wonach sein Leben hungerte und dürstete,
das wird an seinem Schicksal deutlich. Er, der in aller Verzweiflung immer
wieder vor dem Selbstmord als der schwersten Todsünde zurückschreckte, hat sich
ein Jahr nach seiner Taufe durch einen Schuß ins Herz getötet.
Sein Leben und sein Tod, sein Wollen und sein Scheitern empfangen ihr volles Gewicht aus einer Wahrheit, die er nicht lange vor seinem Tod niederschrieb: „Zwischen Unsterblichkeit und Sittlichkeit kann es nichts geben; darum werden alle Kulturen wieder hinweggeschwemmt.“ Allein eine Sittlichkeit von solcher Vollendung, daß sie selbst das Antlitz der Unsterblichkeit getragen hätte, hätte dem Anspruch seines Lebens und seines Geistes genügen können. Zwischen Sittlichkeit und Unsterblichkeit ist sein Leben zerbrochen. Darum liegt nicht nur etwas Verzweifeltes, sondern auch etwas Versöhnendes in seinem frühen freiwilligen Tod – als hätte er wirklich „allerhöchste Erlaubnis“ gehabt, vor der Zeit fortzugehen. Sein Tod erscheint, subjektiv gesehen, als Sühne; er erscheint objektiv als eine Wiederherstellung des Weltgleichgewichts, das durch den erhabenen Irrtum seines Lebens vernichtet war.
Die Probleme dieses Lebens sind nicht mehr die unseren. Es ist in einer Zeit, die von den grauenvollsten realen allgemeinen Verbrechen erfüllt ist, schwer, sich an die rein innere übersteigerte Problematik eines Lebens, eines so zarten, unter dem nur Möglichen schon zusammenbrechenden Gewissens heranzutasten. Aber wenn wir uns vergegenwärtigen, daß dieser in einer äußerlich noch stillen Zeit lebende Mensch gerade durch diese Zartheit, Durchsichtigkeit, Hellsichtigkeit seines Gewissens alle realen Schrecknisse und Dämonien des Heute schon vorweggenommen und in seinem Leben und Tode ausgetragen hat, dann dürfen wir dies aus der Tiefe der Wahrheit erleuchtete und verstörte Leben als eines, das für uns mitgelitten wurde, begreifen und verehren.