Gebete. Nachwort
In:
Bertha Pappenheim. Jüdischer Frauenbund (Hg.), Berlin 1936
Das Gebet, das vernehmbare
Gebet einer einzelnen Seele, ist in unserer Zeit äußerst selten geworden. Gewiß
ist unsere heutige Welt nicht anders als die der Heiligen Schrift, als
überhaupt jede Welt, eine ständiges Hin und Her zwischen Gott und Mensch, ein
unablässiges Ringen der Abgesandten Gottes mit den Menschen und der Menschen
mit den Abgesandten Gottes. Ja, sie ist dies in dem Wandel aller Wirklichkeiten
und Begriffe, in der drohenden Schwere der Schicksale, in den über alles
Einzelleben hinausreichenden Entscheidungen, die der Einzelne zu treffen hat,
weit mehr, als es die beruhigteren Zeiten vor uns waren. Aber dies
Wechselgeschehen ist für unsere Augen, für unseren Geist eigentümlich chaotisch
und gestaltlos. Alles in unserer Welt ist wie in einen dichten Nebel gehüllt;
eine unheimliche Unsichtbarkeit waltet unter ihren ungeheuren äußeren
Geschehnissen, ein unheimliches Schweigen unter ihrem gewaltigen klirrenden
Lärm.
Daß in diesem Augenblick des
Erblindens und Verstummens eine Seele dies Schweigen brechen, sich aus dieser
Blindheit lösen und in schlichter Unmittelbarkeit von dem zeugen konnte, was an
Fragen, Entscheidungen, Bitte, Bekenntnis und Dank ihr Innerstes bewegte, dass
sie damit die klare Beziehung eines Lebens zum Ewigen offenbarte, dass sie dies
Unmittelbarste in einen Ausdruck, in eine Form bringen konnte, das erscheint
fast als ein Wunder und bedeutet für uns ein kostbares Geschenk.
Die Gebete, die dies Bändchen
umfasst, sind in ihrer vollen Wahrheit nur zu erfassen als der Hintergrund des
Lebens, dem sie entstammen, als die ernste, dunkle und doch auch feste und
festliche Begleitmusik eines großen, ganz auf Tat und Wirklichkeit gerichteten
Lebens. Und wie dies Leben selbst, so sind auch diese Gebete nur aus der
Grundhaltung dieser Seele zur Zeit wie zur Ewigkeit (und wie sehr dies im
Grunde dasselbe ist, zeigt sich hier) in ihrem Kern verständlich.
Es sind Gebete nicht aus der
Mitte, sondern vom Rande unserer Zeit: Gebete einer großen Einzelseele, die
erschrocken, angstvoll, flehend in den vor uns aufgerissenen Weltwirbel blickt,
die aber selbst noch nicht in diesen Wirbel hineingerissen ist. Noch war diese
Seele nicht über den Rand des Eigenen getreten, noch war sie nicht
hinausgerissen in das unabsehbar Fremde und Verwirrende. Diese Frau ruhte noch
in sich selbst. Noch war die Flut ihr nicht ans Herz gedrungen; noch hatten
ihre Füße im Bodenlosen Stand. Noch wahrte ihre Seele wie ein geheiligtes Gefäß
jene Werte und Wahrheiten, deren Zerfall sie vor ihren Augen sah; noch war sie
durch und durch geprägt von dem Gesetz, das unmittelbar diesen zerstörenden
Mächten Widerstand leistete. Ihre Persönlichkeit, ihr Leben waren vom Anfang
bis zum Ende ein einziger flammender Protest gegen die religiöse und ethische
Auflösung der Zeit, in der sie lebte. Inmitten all der entwurzelten,
schwankenden und taumelnden Existenzen unserer Welt bleib Bertha Pappenheim ihr
Leben lang eine Stehende, war sie zugleich jederzeit eine Schreitende. Denn ihr
war das Höchste gegeben, was Menschen, vor allem aber den heutigen, im Chaos
ungeheurer Umwälzungen lebenden Menschen, gegeben werden kann: ein Weg.
Es ist das Ringen um diesen Weg
und um das Festhaltenkönnen dieses Weges, das vor allem anderen in diesen
Gebeten seinen Ausdruck gefunden hat. Ihm dient das immer wiederkehrende, allen
einzelnen Gebeten Bertha Pappenheims zugrunde liegende Gebet um Kraft. Kraft in jedem Sinne; denn die
Kraft war ihr heilig. Und sicher gibt es von allen Bittgebeten kein frommeres,
kein wahrhaft menschlicheres als das um Kraft. Es ist auch das eigentlich
jüdische Gebet. Denn in ihm ist die Doppelgewissheit enthalten: daß alles, was
der Mensch vollbringt, Empfangenen einfach als Gnade annehmen und hinnehmen
darf, daß er es lebendig verwalten und weitergeben muß. So ist die
schrankenlose Hingabe an Gott in diesem Gebet eins mit der Entscheidung zum
eigenen Tun; das ganze Leben wird zur Umwandlung göttlicher Kraft in
menschliche.
Und alle Kraft, die sie
erflehte, war ja in Wahrheit nur die zur Erfüllung von Aufgaben. Darum lag
allen anderen Gebeten ihres Daseins das große Gebet um Kraft zur Unterscheidung
und Klarheit innerhalb des Wirklichen voran. Ihr ganzes Leben sammelt sich in
dem Gebet: „Kraft, Kraft, verlaß mich nicht, Recht und Unrecht haarscharf zu
unterscheiden!“ Diese Bitte war bei ihr nicht der Angstruf, wie er einer Zeit
unerhört sich verschiebender Werte und Wahrheiten sich jeder leidenschaftlich
bemühten Seele entringt; sie entsprang nicht der Angst, die entgleitende
Wahrheit nicht festhalten zu können; sie war kein Flehen um die Wiedergewinnung
fester Maßstäbe. Sondern daß Recht und Wahrheit haarscharf zu unterscheiden
seien, daß es die feste Grenze zwischen ihnen gebe, diese Gewißheit blieb ihr unerschüttert bis zuletzt; sie war
zu tief in ihre Seele eingegraben, um sich von außen her auflösen zu lassen. Nur
daß ihr die Kraft zu dieser schweren Unterscheidung bleibe, auch im Alter, auch
in der Krankheit, war ihr leidenschaftliches Gebet. Es war dasselbe wie das
andere: „Nur nicht blind werden, mit der Seele nicht!“ Solange ihre Seele sah,
hatte sie die Gewißheit des Weges, solange ihr Kraft gegeben war, konnte sie
ihn beschreiten. Nicht um Gewißheit, nur um Licht und Kraft ging ihr Gebet.
Bei diesem Grundgebet ihrer
Seele, dem Gebet um Kraft, muß alle Frage nach der Glaubensgewissheit, die
diesen Gebeten zugrunde liegt, einsetzen. Denn diese Gewißheit kann in unserer
Zeit selbst bei einer so tief religiösen Natur nicht mehr als die einfache,
selbstverständliche der Tradition angenommen und hingenommen werden. Auch ihrem
Geist war, als einem zutiefst von der europäischen Entwicklung mitgeprägten,
Gott nicht mehr problemlos zu eigen. Aber er war ihr in einer tieferen
Gewißheit als der des Geistes gegeben: ihr Leben war von ihm ohne irgendeine
Möglichkeit des Ausweichens getragen und geprägt. Der, dessen Namen sie aus
einer tiefsten Wahrhaftigkeit und Scheu mit den Lippen nicht mehr einfach zu
bekennen wagte, aus dem lebte sie in jedem Augenblick ihres Lebens.
Denn eben um die Bestätigung
ihres Glaubens im Leben ging ihr tiefstes Gebet, und ihr ganzes Leben diente
dieser Bestätigung. Die Kraft, um die sie Gott bat, war keine andere als die,
ihn in jedem Augenblick lebendig zu erfahren. Dafür zeugt am klarsten ihr
großer Anruf: „Fordere, fordere, damit ich
jeden Atemzug meines Lebens in meinem Gewissen
erfahre: es ist ein Gott.“ Dies war ihr ganzes Wissen um Gott, daß sie ihn
durch seine unablässige Forderung in ihrem Gewissen erfuhr. Und welches Wissen
wäre so lebendig, so zentral, so tief und sicher wie das des Gewissens? Indem
sie zu Gott flehte, daß er unablässig von ihr fordern möge, zwang sie so –
jenseits von Wissen und Nichtwissen – den lebendigen Gott mit jedem Herzschlag
ihres Daseins zu sich herab.
Größer, leidenschaftlicher,
begnadeter kann die Bedeutung des Gewissens für das Menschleben nicht
ausgesprochen werden. Indem es als das Organ erlebt wird, in dem Gott selbst
sich durch seine unablässige Forderung bezeugt, ist mit der Fragwürdigkeit des
seienden Gottes auch die Fragwürdigkeit menschlichen Handelns versunken, sobald
es rein aus diesem Mittelpunkt geschieht. Hier kann kein Zweifel mehr walten. Die
göttliche Kraft ergreift die menschliche; dies Gebet schließt die Erhörung in
sich. Das wird uns in wunderbarer Reinheit bestätigt durch den schlichten
Ausruf: „Wie gut ist es, ein Gewissen zu haben!“
Für das, was wir bei diesem
Ausruf empfinden, gibt es nur ein einziges Wort: „Gnade.“ Das Gewissen, fast
allen, zumal allen heutigen Menschen, die wahrhaft aus ihm leben, Qual und fast
untragbarer Anspruch, als „gut“, das eiserne Du sollst! Du mußt! nicht als
Zwang, sondern als Offenbarung des lebendigen Gottes zu erfahren, kommt das
nicht einer göttlichen Bestätigung des eigenen Daseins gleich?
In dieser Gewißheit, nicht des
Geistes, sondern des Herzens, nicht des Gedankens, sondern des Tuns, in diesem
lebendigen Kreislauf göttlicher und menschlicher Kraft, der ihr Leben trägt,
zeigt sich die Beterin dieser Gebete fest und sichtbar angeschlossen an die
ewige Tradition der jüdischen Vergangenheit. In ihrem Leben war die große
Erlösungskette der Geschlechter, deren Zusammenhang in der heutigen Welt so
furchtbar gelockert und vielfach zerrissen ist, deren Wiederverknüpfung durch
den Propheten Elia in einer verstörten untergehenden Welt uns durch das letzte
Wort der Prophetie verheißen ist, nicht gelöst noch gelockert. Auch dafür haben
wir in einem ihrer frommsten und schönsten Gebete eine ausdrückliches Zeugnis:
„Daß mir die Kraft bleibe zu dienen um den redlichen Anspruch auf das Stückchen
Erde neben Deinem Grabe, Mutter, in Reden und Schweigen und Tat, so lange mein
Atmen geht!“