Entscheidung
In: Neue Wege 43, 1949
Es war wohl im Grunde
vorauszusehen, daß nach dem Tod einer so mächtigen Persönlichkeit wie Ragaz, in
dessen Geist und Herz die Kräfte des Religiösen und Politischen in gleicher
Stärke lebendig waren, die religiös-soziale Bewegung sich in diese beiden in
keinem seiner Nachfolger vereinten Seiten seines Wesens spalten würde. Eine
Spaltung ist auch sogleich eingetreten; aber sie war nicht von der zu
erwartenden einfachen und klaren Art; sie ging quer durch beide Gebiete hindurch,
und sie hat sich, durch die Weltereignisse vertieft und verzerrt, nicht in
Verstehen und Liebe vollzogen. So ist es jetzt zu der schmerzlichen Zuspitzung
der Lage gekommen, daß an die Mitglieder der Schweizerischen religiös-sozialen
Vereinigung der Antrag gestellt wird, angesichts des prinzipiellen Gegensatzes
zwischen der Auffassung der „Neuen Wege“ und derjenigen des „Aufbaus“ bei der
nächsten Tagung der Mitgliederversammlung beschließen zu lassen, daß künftig
nur das eine der beiden Blätter als Organ der religiös-sozialen Bewegung gelten
soll.
Angesichts dieser von der Seite
des „Aufbaus“ ausgegangenen Aufforderung zu einer radikalen Spaltung, die dem
einen oder dem andern der beiden Blätter das Lebensrecht innerhalb der
religiös-sozialen Gemeinschaft entzieht, muß zunächst ausgesprochen werden,
daß, wer immer an ihr mitwirken möge und welche geistigen Werte in sie
eingesetzt werden, die Zeitschrift „Der Aufbau“ nicht den Anspruch erheben
kann, das echte Erbe von Ragaz zu verwalten. Ragaz selbst, der mit dieser
Zeitschrift lange in enger Gesinnungsgemeinschaft verbunden war und der ihr
mutiges Einstehen für die ihnen gemeinsames Wahrheiten niemals zu schätzen
aufgehört hat, hat von einem bestimmten Zeitpunkt an (es mag etwa der gewesen
sein, in dem aus dem Untertitel des „Aufbau“ das Wort „sozialistisch“ getilgt
wurde) mehr als einmal diese Zeitschrift einen Nagel zu seinem Sarge, den
Kummer seiner letzten Jahre, den Ruin der religiös-sozialen Bewegung selbst
genannt. Nicht diese Zeitschrift, die durch einen Wandel in ihren Fundamenten
in einem bestimmten Sinne zur Gegnerin seiner tiefsten Bestrebungen wurde und
die ihre Gesinnung seither nicht geändert hat – allein die Zeitschrift, die er selbst viele Jahre geleitet und der er so
nicht nur bis zu seinem Tode das Siegel seines Geistes aufgedrückt, sondern die
auch noch nach seinem Tode unter den erschwerenden Umständen, die sie um der
Ganzheit und Wahrheit der Sache willen auf deren eine Seite zu drängen drohten,
seiner Überzeugung die Treue gewahrt hat: einzig die Zeitschrift „Neue Wege“
kann rechtmäßig das Erbe von Ragaz verwalten.
Aber es geht heute um mehr als
um die Entscheidung zwischen der einen oder der andern Zeitschrift; es geht um
den Bestand der religiös-sozialen Bewegung, wie sie uns überliefert ist. Die
Toten können nicht reden und Zeugnis ablegen, sie können nicht antworten und
nicht kämpfen; aber der lebendige Ragaz hat in unzähligen Büchern und Schriften
wie in den „Neuen Wegen“ selbst Zeugnis von dem abgelegt, was er unter der religiös-sozialen
Bewegung verstand. Sie war ihm die Bringerin der Botschaft vom Reich Gottes für
die Erde als vom Menschen zu verwaltende, wachsende und sich wandelnde Welt,
die in ihren immer neuen Lagen die Menschen vor immer neue Fragen,
Entscheidungen und Aufgaben stellt. Ragaz hat ganz gesehen und ganz erlitten,
daß die Erfüllung dieser Aufgaben immer in Unvollkommenheit geschieht, daß
durch die Unvollkommenheit des Menschengeschlechts jede Verwirklichung
gefährdet, jede große geschichtliche Wandlung von den furchtbarsten Folgen
begleitet ist, daß so die ganze Menschheitsgeschichte in immer neuen Krisen und
Katastrophen verläuft. Er hat die Verstrickung in Gewalttat und Blutschuld
selbst in dem Werk eines Luther, eines Calvin und selbst eines Zwingli gesehen;
aber er hat trotz dieser schweren menschlichen Verdüsterung das einer großen
neuen Wahrheit zum Durchbruch verhelfende Werk der Reformation als eine
Revolution von Gott her begriffen. Den er hat es nicht als seine und unser
aller Aufgabe, in dem verwirrten Geflecht der Geschichte durch alles Versagen
und Grauen hindurch den starken klaren Faden zu suchen, an dem die Menschen zu
neuem Leben und neuem Glauben fortgezogen werden. Und weil dieser unterirdisch
fortlaufende Faden nur in den besonderen Ereignissen und Erschütterungen jeder
Zeit zu ergreifen ist, wäre es ihm undenkbar gewesen, auf die Fragen einer
Welt, die durch schwerstes soziales Unrecht und zwei daraus entsprungene
grauenvolle Kriege verwüstet ist, in der so alle Lebensprobleme sich neu und
ganz anders bedrängend stellen, mit den bisherigen alten Begriffen zu
antworten.
Aber er hat den heutigen
Menschen in dem Wirbel seiner unlösbaren Probleme nicht allein gelassen: er hat
als auf die letzte Lösung auf den Einzigen hingewiesen, der die finsteren
Folgen seiner strahlenden Verwandlung einer Welt der Unvollkommenheit und Sünde
von den Häuptern der Menschen hinweg auf sein eigenes Haupt gelenkt hat und der
darum kein Sterblicher geblieben, sondern ein Auferstandener geworden ist. Aber
auch ihn hat Ragaz als einen Neuen, Gewandelten gesehen. Unter dem Drang und
der Macht der Weltentfaltung und der mit ihr wachsenden menschlichen Aufgaben
ist ihm in der größten Vision seiner Spätzeit Christus zu „dem größeren
Christus“ geworden, der in einer erweiterten Welt eine Erweiterung auch des
Menschen fordert: ein neues Offensein für das Leben, einen neuen Blick in das
Werdende, ein Abstreifen alter zerbrochener Schalen, ein Ringen um ein neues
Begreifen, die Bereitschaft zu einer neuen Liebe und in alldem eine neue
Verantwortung. Und eben die neuen, noch ungesicherten, fragenden und suchenden
Menschen sind ihm von der Liebe des größeren Christus umfangen.
Eine radikale Zersprengung
zweier Gruppen, die, wenn auch auf verschiedenen Wegen, im letzten Grunde
dasselbe wollen, von derselben Botschaft ausgegangen sind, kann die Gegensätze
zwischen ihnen nicht lösen, sondern nur noch mehr vertiefen und damit zur
Zersprengung des Ganzen führen. Sie wäre eine Absage an den, dessen Arme für
alle die ausgespannt sind, die um ein neues Weltverständnis im Zeichen des
Friedens und der Liebe ringen: eine Absage an den größeren Christus, der die
einzige Schutzwehr gegen die schwerste Gefahr unserer Zeit: das Erkalten der
Herzen, ist.