Das Bibelwerk von Leonhard
Ragaz
In:
Neue Wege 44, 1950
Leonhard Ragaz hat uns im
Augenblick einer Weltwende verlassen, in der es um Leben oder Tod des Menschengeschlechtes
geht, in der dem Menschen nichts mehr zu bleiben scheint, als sich mit
gebundenen Händen dem Schicksal auszuliefern, das er selbst über sich
heraufbeschworen hat. Die schreckensvollen Ereignisse der ersten Hälfte unseres
Jahrhunderts haben alle Strukturen unserer Welt so gewandelt, daß der Mensch
sich in ihnen nicht mehr wiederzufinden und zu erkennen vermag. Die Frage nach
dem, was der Mensch ist, liegt seit langem auf den Lippen einer Menschheit, die
sich im Ebenbild Gottes nicht mehr erkennt und damit ohne Antwort auf ihre
letzte Frage bleibt.
Und nun geschieht das
Wunderbare: in eben diesem Augenblick ist in dem großen Bibelwerk, das Ragaz
uns hinterlassen hat, mit mächtiger Hand die Geschichte der Menschheit bis in
unsere eigene Zeit hinein am Bilde der biblischen Geschichte umrissen und so
dem heutigen Menschen ein Weg zurück in seine Gottebenbildlichkeit eröffnet.
Wie was er möglich, in unserer
verworrenen Zeit einen Weg zurück in die echte Heimat des Menschen zu weisen?
Die Antwort auf diese Frage gibt uns das Wort des Jeremia: „Gesegnet ist, der
sich auf Gott verläßt. Er ist wie ein Baum, der an Wassern gepflanzt ist und
seine Wurzeln nach dem Bache hinstreckt, der sich nicht fürchtet, wenn die
Hitze kommt, dessen Laub frischgrün bleibt, der in dürren Jahren unbesorgt ist
und nicht aufhört, Früchte zu bringen.“
Ein solcher an Wassern
gepflanzter Baum war das Leben von Ragaz, das auch in dürren Jahren nie
aufgehört hat, Früchte zu tragen: Früchte, wie sie nach all seinen zahlreichen
Werken dies Spätwerk in letzter Reife und Fülle uns bringt.
Das große, siebenbändige Werk
will ausdrücklich nur eine Deutung der Bibel sein, ja, es will mit dem
bescheidenen Wort von Ragaz mehr eine Hindeutung als eine Ausdeutung sein. Denn
er ist sich bewußt, nur eine einzige Linie durch den unausschöpfbaren Reichtum
der Welt der Bibel zu legen. Aber gerade in dieser Beschränkung auf eine
einzige Linie liegt auch die besondere Kraft und der Sinn dieser Deutung. Sie
will nicht in irgendeiner Form das Ganze zu erschöpfen und auszuschöpfen
suchen; sie will nicht eine gelehrte theologische Auslegung der Schrift, nicht
eine Exegese oder Kritik der Bibel, sie will etwas grundsätzlich anderes sein:
„eine Auslegung aus innerer Berufung“. Damit ist, obwohl auch dies Wort
ausdrücklich sehr bescheiden gemeint ist, genau auf die Quelle hingewiesen,
nach der der große Baum dieses Lebens seine Wurzeln hinstreckt: das in jeder
und vollends in unserer Zeit seltenste Wunder und Geheimnis des Glaubens. Des Glaubens, der die tiefste
Wahrheit des Geistes, aber nicht des losgelösten Menschgeistes: des Verstandes
oder der Vernunft ist, sondern das Wunder der Begegnung zwischen dem Geist
Gottes und dem Geist des Menschen in der Tiefe des Herzens. „Was Vernunft ist“,
sagt Ragaz, „das kann grundsätzlich von allen, die Vernunft haben, verstanden
werden; aber wo der lebendige Gott erscheint und mit ihm das Wunder, da kann
ihn nur das Wunder fassen, und dies Wunder ist es, was das Evangelium mit dem
Glauben meint.“ Dies der Vernunft unzugängliche und damit unaussprechbare
Wunder können wir, wo immer es auftritt, nur mit letzter Scheu berühren; wir
können von ihm nicht unmittelbar reden; wir können nur mit Demut und Ehrfurcht
auf die Erscheinungen, in denen es offenbar wird, hindeuten. Es ist das Wunder,
von dem Jesus sagt: „Ich preise Dich, Vater, Herr des Himmels, daß Du dieses
vor den Weisen und Klugen verborgen und es den Einfältigen offenbart hast.“ Es
ist also das Allerschlichteste und Einfachste, das zu seiner Erfassung keiner
Klugheit und Weisheit bedarf; aber es ist als Forderung das Schwerste, was dem
Menschen aufgegeben ist. Diese Paradoxie des Glaubens hat Ragaz in seiner
Deutung der Bibel im ständigen Umschlagen aller Wahrheiten und Wirklichkeiten
ineinander in einer großen geschichtlichen Dialektik entfaltet. Auf alle
Wirklichkeiten des Lebens fällt so vom Glauben aus ein neues Licht; die
gläubige Erfassung der Bibel erleuchtet die ganze Menschheitsgeschichte.
Denn die eine einzige Linie,
die Ragaz wie durch sein ganzes Leben und Werk so auch durch dieses gewaltige
Spätwerk legt, ist die Botschaft vom Reiche Gottes und seiner Gerechtigkeit.
Und wie oft wir des Wort aus seinem Munde vernommen haben, es ist wie alles
wahrhaft Lebendige immer dasselbe und immer neu und anders: es ist
unausschöpfbar wie Meer und Welt, unerreichbar wie der Himmel. Es erweist seine
ganze Unerschöpflichkeit in diesem Spätwerk von Ragaz, das nach all seinen
früheren Werken über die Bibel in noch weit größerem Umfang den Ertrag seines
ganzen Lebens in biblischer Sicht zusammenfaßt.
Daß diese Botschaft, die für
Ragaz ausdrücklich die ganze Wahrheit
der Bibel ist, hier trotzdem nur als eine Deutung neben anderen möglichen
auftritt, das ist eben der Ausdruck für ihre Unausschöpfbarkeit, aus der ihm
die demütige Gewißheit kommt, dies Ganze mit allen Bemühungen eines
Menschenlebens in seiner wirklichen Ganzheit nicht erfassen zu können. Und doch
gibt dies Werk nicht nur eine Deutung der Bibel, sondern von ihr aus eine
Deutung der ganzen Geschichte mit allen menschlichen Fragen und Problemen, die
als grundlegende in ihr aufgetaucht sind. Denn der Glaube an diese Botschaft
ist nicht ungeschichtlich; er ist grundlegend und lebendig geschichtlich; er
ist damit auch durchaus gegenwärtig, nicht jenseits der Schrecknisse, die wir
erlebt haben; er umgreift und deutet sie alle mit. Ragaz hat nicht mehr den
Schrecken des Kalten Krieges, aber er hat noch die Zersprengung des Atomkerns
durch den Menschen erlebt, und er hat sich aus mit ihr noch im biblischen Sinne
auseinandergesetzt. Auch dies als im eminenten Sinne geschichtlich, denn das
Gegenwärtige vom Ewigen aus zu deuten, ist zu allen Zeiten die einzige Weise,
es in seiner Wahrheit in die Geschichte einzubeziehen.
Ragaz hat wie jeder große
moderne Mensch die abgründige Distanz gesehen, die die Gestalten beider
Testamente von unserer heutigen Wirklichkeit trennt. Wenn aber Nietzsche im
Blick auf das Alte Testament diese Distanz in den Worten ausgesprochen hat:
„Man steht mit Ehrfurcht und mit Schrecken vor diesem ungeheuren Überbleibseln
dessen, was der Mensch einst war“, so hat Ragaz zwar dieselbe Ehrfurcht, doch
nicht denselben Schrecken vor der übergroßen biblischen Welt empfunden. Er hat
den Abgrund zwischen beiden Welten bis ins Absolute erweitert, aber er hat ihn
zugleich überbrückt, indem er die Geschichte der Bibel mit all ihren Gestalten,
Geschehnissen und Zeugnissen als eine „urtypische“, das heißt als eine lebendig
wirkliche und doch aus im tiefsten Sinne symbolische erfaßt hat, deren
Strukturen und Gestalten in der Geschichte der Menschheit immer wiederkehren,
in der so jede große Gestalt der Bibel nicht nur eine einmalige, damalige ist,
sondern mit dem Menschen durch seine ganze Geschichte geht.
So sind sie nicht tote
Überbleibsel, sondern Zeugen ewig lebendiger Wahrheit. Alles Erstorbene wird
Leben, alles Vergangene Gegenwart, alles Historische Geschichte. Eine Fülle
lebendiger Symbole strömt aus dieser urtypisch erfaßten Geschichte hervor. Es
ist unmöglich, den Reichtum dieses Werkes in einer kurzen Zusammenfassung auch
nur anzudeuten. So einheitlich und geschlossen es als Welt, als Wahrheit, als
Gewißheit ist, so überströmend ist die Fülle lebendiger Erschließungen, die aus
der Anwendung dieser Wahrheit und Gewißheit auf die geschichtliche Wirklichkeit
entspringt. Dadurch, daß alles, was in der Bibel als Vergangenes berichtet
wird, in der Beziehung auf die Geschichte in ein ewig Gegenwärtiges übersetzt
wird, vollzieht sich eine einzige Wiederbelebung, eine einzige Wiedererweckung
von den Toten.
Alle Begebnisse zwischen Gott und Mensch, die
Ragaz als „Urdaten“ aus dem Strom der Menschheitsgeschichte heraushebt,
gewinnen zeitlich-überzeitliches Leben. Was hier über Schöpfung, Paradies, Fall
und Auferstehung gesagt wird, ist für die ganze Geschichte der Menschheit und
für jeden einzelnen Menschen gesagt. Auch die Urdaten des natürlichen wie des
gesellschaftlichen Lebens: die Spaltung des Menschen in Mann und Weib, die Ehe
als Keimzelle der menschlichen Gesellschaft sind im Lichte des Reiches Gottes
im anfänglichen Zustand des Paradieses in Heimweh erweckender Reinheit und
Schönheit gesehen und dann im geschichtlichen Umschlag im Zustand des Abfalls,
des Sinkens, des Stürzens bis ins Dämonische, ins Satanische hinein. Aber auch
alle geistigen Phänomene und Probleme der Geschichte: die Kultur, die Kunst,
die Wissenschaft werden in ihrem Doppelaspekt von der Wahrheit des Reiches aus
gedeutet.
Das Wunder des Reiches und des
Glaubens an das Reich Gottes und die Verwirklichung des Reiches wird so an der
Geschichte des Volkes dargestellt, zu dem allein von allen Völkern der Erde das
sein ganzes irdisches Schicksal verkehrende Wort gesprochen ist: „Du sollst
durch Gerechtigkeit bereitet werden, du sollst ferne sein von Gewalt und
Unrecht.“ Die aus dieser schweren und heiligenden Verkündung entspringende
Geschichte wird in einer streng einheitlichen Linie von der im Mythos schon
enthüllten und noch verborgenen Schöpfungsgeschichte, der „Urgeschichte“, den
Erzvätern, über Mose, die Richter, die Propheten bis zu Jesus, den Aposteln und
damit in das neue Israel der Gemeinde hineingeführt. Die Botschaft Christi ist
so genau an die Geschichte Israels angeschlossen, daß im selben Maß, mit
derselben Kraft wie das Evangelium von Christus sich entfaltet, auch klar wird,
was mit der Auserwählung des Volkes Israel gemeint ist. Auch diese Erwählung
wird verständlich allein im Lichte des Glaubens an das Kommen des Reiches, die
eins ist mit dem Glauben an die Gerechtigkeit, deren Verwirklichung Israel
verheißen und zu der es aufgerufen ist. So ist die aus der Paradoxie dieses
Glaubens entfaltete geschichtliche Dialektik nicht eine bloße Dialektik des
Denkens; sie ist ein einziges lebendiges Ringen des göttlich Wahren mit dem
menschlich Falschen, ein Ringen des Guten mit dem Bösen, und damit letzthin in
allen ihren Formen ein Ringen des Lebendigen mit den Toten. Sie ist dies im
Bezirk des Glaubens selbst als Kampf des Lebendigen gegen alle Versteifung,
alles Dogma, als Ringen des Glaubens an das Reich Gottes gegen die Religion.
Ragaz nimmt den geistigen Kampf seines Lebens auf, wenn er sagt: „Was in
dogmatischer Erstarrung zu Widerspruch und Verzerrung wird, das muß im Blick
auf den lebendigen Gott, den lebendigen Christus und sein lebendiges Reich im
Flusse erhalten werden.“
Daß ein derart im Flusse
erhaltener Glaube nach Tiefe wie nach Umfang ein anderer ist als aller im Dogma
festgelegte, erfahren wir unmittelbar an diesem Werk. Die Tiefe solchen
lebendigen Glaubens erweist sich an der Tiefe der großen Symbole, die Ragaz aus
dem Strom der Geschichte Israels für die Deutung alles Menschlichen
emporschöpft, der mächtig erweiterte Umfang dieses Glaubens erweist sich daran,
daß er, der aller Verfestigung in Kultus und Ritus Entgegengewandte, im Gesetz
Mosis auch noch den Kultus und Ritus in seiner reinigenden Strenge als
notwendige Heiligung alles Menschlichen begriffen und in wunderbarer Tiefe
gedeutet hat, daß auf der anderen Seite er, dem als echtem Jünger Christi das
„Herr, Herr!“ geringer schien als die Liebe zu dem geringsten der
Menschenbrüder, der Kampf für eine gerechtere Ordnung der Verwirklichung des
Reiches näher als der tatlose Glaube an den Gott eines fernen Jenseits, am
äußersten Rande auch noch die Gottlosenbewegung in das Leben des Glaubens
aufgenommen hat. Dieselbe Erweiterung und Vertiefung und auch die menschliche
Fruchtbarkeit, dieses Glaubens zeigt sich daran, daß er das schwere
Gerichtswort Christi über Jerusalem: „Und ihr habt nicht gewollt“ nicht als
einmalige Verwerfung Israels, sondern als ewiges „Urdatum“, als Urschuld der Menschheit
deutet und damit die starre, unmenschliche Verwerfung eines einzelnen Volkes in
eine Forderung an die Menschheit aufhebt. Und wunderbar löst schließlich aus
diesem lebendigen Glauben das Dogma von der Gottheit Christi sich in die
lebendige Göttlichkeit Christi auf.
Mit dieser Verlebendigung der
Schrift, durch die das ewige Israel mitten in die geschichtliche Wirklichkeit
hineintritt, erhalten auch alle aus ihm entsprungenen, in unserer Welt
verwickelten und oft verzerrten Gemeinschaftsbegriffe die Bedeutung ihres
biblischen Ursprungs wieder, fließen die alten ewigen und die heutigen
zeitlichen Begriffe zusammen. Ragaz, der als geschichtlich-politischer Denker
ganz um die reale Entstehung und damit auch um die reale Distanz aller unserer
heutigen Worte von denen der biblischen Verkündung weiß, geht doch in seiner
symbolischen Geschichtserfassung so weit, erst in unserer Welt entstandene
Begriffe wie Proletariat, Kapitalismus, Sozialismus auch schon in die Frühzeit
Israels einzuführen. Der Kapitalismus, der sich um das in beiden Testamenten
streng verbotene, erst in einer viel späteren Welt zum Mittelpunkt der
Wirtschaft gewordene Zinsdarlehen wickelt und verwickelt, fällt für Ragaz mit
dem biblischen Götzendienst am Mammon zusammen. Der Sozialismus, der sich aus
dieser Verwicklung erst gelöst hat, ist für ihn eins mit der biblischen
Forderung der Liebe zu den Armen und Geringen. Und das als Begriff einer Klasse
aus den heutigen Lebensbedingungen erst hervorgegangene Wort Proletariat wendet
er schon auf die in der Fron Pharaos arbeitenden, schwer bedrückten Hebräer und
damit auf die von deiner Oberschicht vergewaltigten und ausgepreßten Menschen
aller Zeiten an, so daß es mit der Gerechtigkeit fordernden Gestalt des
biblischen Armen zusammenfällt.
So strömt allen diesen heutigen
Begriffen aus ihrer Verankerung in der biblischen Wahrheit die Fülle, die Kraft
und Allgemeinheit ihrer Urbedeutung wieder zu. Niemals können wir ja, was für
Ragaz, jenseits ihrer historischen Ursprünge, die Worte Proletariat, Kapitalismus
und Sozialismus bedeuten, anders als im biblischen Sinne verstehen. Diese
Begriffe in der Wahrheit ihres Ewigkeitsursprungs, im Glauben an das Reich
Gottes zu erfassen, ist ja der Grundsinn des religiösen Sozialismus, wie Ragaz
ihn begriffen und geprägt hat.
Denn im Herzen der biblischen
Wirklichkeit und Forderung steht von Moses bis Jesus der Arme als das reine Sinnbild des Menschen, der, von keiner
täuschenden und verfälschenden Hülle irdischer Dinge umgeben, der reine
Menschenbruder ist, der nichts als reine Liebe fordert, wie sie im Gesetz Mosis
wunderbar mit der Liebe zum Fremdling als dem heimatlosen, ungeschützten,
irdisch rechtlosen Menschen verbunden ist. Diese zentrale Stellung des Armen in
jedem Sinne bedeutet eine genaue Umkehrung gegenüber dem heidnischen Weltbild,
in dessen Zentrum der große und mächtige Mensch steht. Zwar hat mit dem Worten
von Ragaz „auch das höhere Heidentum schon gewußt: Der Arme und die Armen sich
heilig; der Arme soll nicht mißhandelt werden, er soll Almosen empfangen ...
Aber es galt und gilt im Bereich des Heidentums noch jetzt der Arme und die
Armut als notwendige Bestandteile der göttlichen Weltordnung ... es gibt für
ihr Revolten, aber keine Revolution.“ Und dies ist nun das für diese Deutung
Entscheidende: „Diese Revolution setzt
auf dem Boden der Bibel ein.“ Sie ist als solche die alle menschlichen
Werte umstürzende Revolution Gottes um der Gerechtigkeit seines Reiches willen.
Sie begründet ein neues göttlich-menschliches Recht. „Auf den Armen fällt der
Strahl der Absolutheit des Einen heiligen Gottes, und damit senkt sich Gottes
heiliges Recht auf ihn. Er wird Gottes Ebenbild, Kind und Sohn und damit Bruder
... Sein Recht steht bei Gott höher als das des Reichen, er wird eines Tages
zur Herrschaft kommen. Es wird die große Umkehrung geschehen.“
Zum Ausgangs- und Mittelpunkt
dieser großen Umkehrung, die eine Umkehr des ganzen Menschen ist, hat Gott sich
so die Gestalt des Armen ersehen. Wie ein gewaltiger Sturm von Gott her fährt
diese Revolution als Offenbarung des echten Absoluten in alles falsche Absolute
der menschlichen Wirklichkeit hinein. Denn zu diesem Kampf: dem Kampf zwischen
dem echten und dem falschen Absoluten spitzt sich schließlich durch die Natur
des Menschen das ganze biblische und geschichtliche Ringen zu. „Die echte
Absolutheit ist die, welche vom wirklichen Gott auf den Menschen kommt und
welche die Geringen zu Gott emporhebt, während die falsche Absolutheit die
Großen noch größer und zu Göttern macht.“ So steht für das echte Absolute
wiederum das Symbol des Armen, des Machtlosen, des Kleinen und Geringen,
während das Symbol des falschen Absoluten das „Riesenhafte“ in der immer nach
dem Übermäßigen gierigen, nirgends sich selbst beschränkenden Menschenwelt ist,
in dem an Stelle des Strebens nach der Gottesebenbildlichkeit das Verlangen des
Menschen, zu sein wie Gott, tritt: das Urdatum der Verführung durch die
Schlange, mit der alle Dämonie des falschen Absoluten in der Menschenwelt
beginnt.
In diesem Zusammenhang
empfangen wir gewaltige Offenbarungen und Deutungen auch der Mächte des Bösen,
des Dämonischen, des Satanischen, wie sie sich in unserer heutigen Welt in
düsterstem Grauen enthüllt haben.
In der Mitte des Werkes steht
als zentrale Erschließung der Wahrheit Israels und als Brücke zwischen dem
Alten und Neuen Testament das Buch über die Propheten.
Sie sind der Inbegriff des Volkes, das im Finstern wandernd ein großes Licht
sieht. Der Prophet ist im selben Sinn nicht ein Mensch wie andere Menschen, wie
Israel nicht ein Volk wie andere Völker ist. Die große Umkehrung, die von der
Verheißung der Gerechtigkeit her über das Volk Israel kommt, stellt sich wie im
Leben des Volkes so in dem jedes einzelnen Propheten dar. Der Prophet, ganz
unter die Verantwortung der zu schweren Verkündung gepreßt, die ihm als
Einzelnem auferlegt ist, darf nicht ein einfaches Menschenleben leben.
Erschütternd sagt es ein Wort des Jeremia: „Nie saß ich im Kreis der
Fröhlichen, daß ich mitgejubelt hätte; wegen Deiner Hand saß ich einsam.“ Der
Prophet kann die Freuden der anderen Menschen nicht eilen, weil sein Blick in
ein Dunkel, das sich nicht sehen, und auf ein Licht, das ihnen zu fern ist,
gerichtet ist. Er kann keine Freunde unter den Menschen haben, weil sie das.
von dem er redet, nicht verstehen. Und sie können
nicht nur, sie wollen auch seine
Sprache nicht verstehen, weil er an alles Hergebrachte, alles Bequeme ihres
Lebens rührt. Sie hassen ihn mit dem ganzen Haß der Gewohnheit, mit dem Urteil
des Gewöhnlichen über das Ungewöhnliche, so daß „ihre Beurteilung des Propheten
zwischen den Kategorien der Verrücktheit und des Verbrechers schwankt“. Und
mehr noch: das Übermäßige, das er zu verkünden hat, ist nicht nur den anderen,
es ist auch ihm selbst als natürlichem Menschen zu schwer. „Das Absolute, das
mit dem Propheten in das Endliche und Natürliche eindringt und dies zersprengen
muß wie der Hammer, der Felsen zerschmeißt, muß auch die Natur des Propheten
zersprengen.“ So liegt die Wirklichkeit des prophetischen Daseins zwischen dem
Wort Gottes: „Ist nicht mein Wort wie ein Feuer, ein Hammer, der Felsen
zerschmeißt?“ und dem Aufschrei des Elia: „Es ist genug, Herr, so nimm denn
meine Seele!“, der im Leben jedes Propheten in irgendeiner Stunde wiederkehrt.
Und doch ist – das ist wieder
das Wundert des Glaubens – in aller Verstörung seines irdischen Schicksals die
Begnadung durch die Nähe Gottes so unendlich viel größer als alle menschliche
Trübsal, daß „es nie einen Propheten gegeben hat, der gewünscht hätte, nicht
ein Prophet zu sein.“
Hinter allen Propheten und über
sie alle ragt die ganze Geschichte Israels und der Menschheit hindurch immer
die Gestalt des Moses empor, den Ragaz über alle, auch die größten Propheten
des Alten Bundes stellt. Er hat den einzigen, zu dem Gott von Angesicht zu
Angesicht redete, mit so gewaltiger Liebe, in so übermächtiger Größe
dargestellt, daß eine Steigerung über diese Gestalt hinaus innerhalb des
Menschlichen nicht mehr denkbar ist.
Die dann wirklich das
Menschliche übersteigende Gestalt, die am Ende des biblischen Israel das Wunder
des Reiches nicht mehr verkündet, sondern selbst ist, hat Ragaz in dem Buch,
das den Namen „Jesus“ trägt, in der ganzen Fülle ihrer göttlichen
Menschlichkeit und menschlichen Göttlichkeit sichtbar gemacht. Es ist der
lebendig persönlich erschaute Christus, der auf die Erlösung alles Menschlichen
und doch nicht so sehr auf die jedes einzelnen Menschen wie auf das lebendige
Band zwischen allen Menschen bezogen ist: der Christus der Gemeinschaft. Es ist
der Christus, der die Verkündung des Friedensreiches der Propheten fortsetzt
und selbst erfüllt. „Das soziale Evangelium Christi erscheint ... als die
legitime notwendige Erfüllung der prophetischen Botschaft“. Es ist aber die
Gestalt Christi auch von der kosmischen Erlösung her gesehen, deren letzte und
äußerste Offenbarung die Auferstehung
ist. Und wir erkennen in dieser Darstellung der kosmischen Erlösung, der
Auferstehung, daß es dies letzte Wunder und Geheimnis des Glaubens: die
Überwindung des wirklichen kosmischen Todes ist, auf das in allem Ringen
zwischen Leben und Tod das Ganze dieser biblischen Deutung vom Anfang bis zum
Ende hindrängt.
Neben dieser Darstellung der
Menschheitsgeschichte am Bild des ewigen Israel hat aber dies Buch auch noch
eine andere Bedeutung. Es ist ein Ansatz, und schon mehr als ein Ansatz, zu
jener geschichtsphilosophischen Deutung, die Ragaz, im Anschluß an die
Forderung Christoph Blumhardts nach einer neuen, der veränderten Zeit
angepaßten Bibel, noch zu geben hoffte. Denn diese Deutung ist nicht nur auf
ein sich wandelndes geschichtliches Leben, sie ist auch auf ein sich wandelndes
Denken bezogen, das in ihr selbst schon wirksam geworden ist. Ragaz, der für
alles Lebendige Aufgeschlossene, hat das moderne Denken keineswegs nur
verneint. So sehr er die übermäßige Entwicklung der Technik als eine
Manifestation des falschen Absoluten, des Leblosen, Starren, des Übermäßigen,
Riesenhaften, des Seinwollens des Menschen wie Gott verwarf, so sehr hat er in
dem modernen naturwissenschaftlichen Weltbild, von seiner Anwendung abgelöst,
die Grundlage eines neuen gläubigen Denkens gesehen. Vor allem aber war es das
eigentlich philosophische Denken selbst, wie es ihm entscheidend in Bergson
entgegenkam, in dessen lebendiger, intuitiver Zeiterfassung er die Möglichkeit
eines neuen gedanklichen Ausdrucks für die Wahrheit des Reiches Gottes
erkannte. Die neue Zeiterfassung Bergsons hat ihm die denkerische Möglichkeit
gegeben, der abstrakten, mechanischen, vom Menschen eingeteilten Zeit, der
„Uhrzeit“, wie Ragaz sie nennt, die lebendig strömende geschichtliche Zeit als
gottmenschliche entgegenzusetzen. „Sie ist die Art, wie der lebendige Gott aus
seiner lebendigen Ewigkeit in die Geschichte eintritt ... Er tritt aus der
lebendigen Ewigkeit in die lebendige Zeit und wird im Flusse seiner Zeit
lebendige Gegenwart.“ Durch dies Eintreten Gottes in sie vollzieht sich eine
Umwandlung der Zeit; die Zeit, in die Gott eingetreten ist, ist nicht die
abstrakte menschliche Zeit; sie ist die uns fremde und doch dunkel vertraute,
die in menschlichen Worten wunderbar einfach das Psalmwort ausspricht: „Tausend
Jahre sind vor Dir wie der Tag, der gestern vergangen ist, und wie eine
Nachtwache.“ In diesem Wort trifft uns unmittelbar die Zeit, die unser kurzes,
meßbares Leben von der Unermeßlichkeit des Lebens Gottes trennt und die uns in
einer dem Denken nicht mehr erfaßbaren Tiefe mit ihr verbindet; denn es gibt
sicher keinen Menschen, der sie nicht in begnadeten Augenblicken unterhalb
aller meßbaren Zeit als ein tieferes, lebendiges, göttliches Strömen erfahren
hat. Diese immer nur symbolisch auszusprechende Zeit ist aller abstrakten
gegenüber eine gläubig erfaßte Zeit; sie ist auf die Zeit angewendet das Wunder
des Glaubens, auf dem das Ganze dieses Werkes ruht. Darum ist sie für die
Geschichtserfassung von Ragaz konstitutiv. Sie taucht schon in dem ersten Buch,
in der Schöpfungsgeschichte, auf und kehrt dann in allen Büchern wieder.
Nirgends entfaltet sie ihre klärende Kraft so machtvoll wie in der Deutung, die
Ragaz der von Jesus verkündeten und ausgebliebenen Naherwartung des Reiches
gegeben hat. Die so einfache wie tiefsinnige Lösung dieses immer wieder
aufgeworfenen Problems liegt für ihn eben in der ganz anderen Zeit, die bei
Jesus der Naherwartung des Reiches zugrundeliegt. „Das Kommen des Reiches währt
nach der Uhrzeit als Erwartung zweitausend Jahre; nach der Gotteszeit steht es
heute so neu vor uns, wie es vor Jesus und seinen Jüngern stand ...“ Jeder
Prophet sieht die Erfüllung seines Schauens in der nahen Zukunft. Denn er sieht
nicht mit den Augen der Chronik, sondern mit dem Blick des Absoluten. In diesem
aber geht die Zeit unter. Das gilt im höchsten Maße von Jesus, dem Propheten
der Propheten. Er vertritt das Letzte und Absolute, und dieses Letzte und
Absolute überträgt sich auf den Zeitpunkt der Erfüllung und wird Nähe. „Diese Erwartung der Nähe ist
nichts als die zeitliche Form der absoluten Zuversicht auf den Sieg Gottes.“ So
wird aus dieser ganz anderen Zeit, die Leben vom Leben Gottes ist, die
Erwartung der Nähe umgekehrt gedeutet wie in der rein eschatologischen
Erfassung. Und es folgt daraus: „Es ist nicht die Erwartung der Nähe, aus der
das Evangelium quillt, sondern aus dem Evangelium, das heißt aus der absoluten
Zuversicht auf den Sieg Gottes quillt die Erwartung seiner Nähe.“
Es liegen ein Glanz und eine
Macht des Geistes auf dem Ganzen dieses Werkes, das, soviel lebendige Quellen
in ihm rauschen, letzthin dem Wunder des Glaubens entstammt. Der Glanz – dies
Wort, das Ragaz als Ausdruck für die Herrlichkeit Gottes so sehr liebte – hat
alle vielfach verschlungenen Pfade dieses Werkes erhellt. Es liegt auch ein
Abglanz der Schöpfung: ein dichterischer Glanz über seinen Höhen; denn in Ragaz
lebte neben dem leidenvollen Künder der Wahrheit auch ein ekstatischer Dichter.
Er hätte sonst von den letzten Dingen nicht in so leuchtenden Worten reden
können. –
Das Bibelwerk ist das vorletzte
Werk von Ragaz. Im Februarheft 1946 der „Neuen Wege“ hat Pfarrer Trautvetter
mit großer Freude und tiefer Ergriffenheit mehrere fertig vorliegende Arbeiten
aus dem Nachlaß von Ragaz angekündigt; neben dem großen Bibelwerk vor allem das
letzte, das Ragaz noch kurz vor seinem Tode abschließen durfte, die Geschichte
seines Lebens, die er „Mein Weg“ genannt hat und die noch vollenden zu dürfen,
er brieflich als „eine gewaltige Erleichterung und eine große Gnade“ bezeichnet
hat, für die seine Seele von Dank erfüllt sei. Dies Werk, das ihm so sehr am
Herzen lag, ist nie erschienen. Wir durften sein schönes und schon so
aufschlussreiches Anfangskapitel „Mein Kinderland“ nicht lange nach dem Tode
von Ragaz auf dem Ferienkurs in Malans hören und wurden dadurch in der
Gewißheit bestätigt, wie genau dies sein letztes Werk mit dem vorletzten
zusammengehört hätte. Es wäre eine subjektive Ergänzung zu dem objektiven
Ertrag seines Lebens gewesen, es wäre die Darstellung der Geschichte der Sache
Gottes und Christi von innen gewesen, wie Ragaz sie in seiner Zeitspanne erlebt
und wie er um sie gekämpft und gerungen hat. Er wäre mit diesem Werk gleichsam
auch noch persönlich unter uns geblieben. Und wir hätten seiner persönlichen
Nähe grad auch heute so sehr bedurft, weil er in einer erstarrten, vom Tod und
Totem beherrschten Welt einer der seltenen Menschen war, die sich lebendig zu
wandeln vermochten: ein Mensch, der aus sich wandelnden Lebensbedingungen immer
neue Frage stellte und zu immer neuen Antworten gelangte. – Wenn diese
Geschichte seines Lebens jetzt noch, nach Jahren, erscheinen sollte, so wäre
sie sicher noch immer von hohem menschlichem und geschichtlichem Wert; aber der
Zeitpunkt, für den er selbst sie bestimmt hatte und in dem sie wie ein Blitz
zündend in die stagnierende Atmosphäre einer dumpf anwachsenden Kriegsgesinnung
und Kriegsgefahr hineingefahren wäre, ist vorüber. –
So müssen und wollen wir uns an
das große Bibelwerk als letzte Zusammenfassung seines Lebens halten. Auch es
gibt uns ja als Glaubenszeugnis ein großes Bild nicht nur von außen, sondern
auch von innen. Von außen gesehen ein großer Umriß der aus dem Ewigen
gedeuteten geschichtlichen Welt, ist es von innen eine menschliche Offenbarung,
deren hinreißende Macht darauf beruht, daß in dem Leben dessen, der es schuf,
die in unserer Welt weithin abgestorbenen biblischen Kräfte, die Kräfte des
Glaubens, der Liebe, der Hoffnung, in letzter Tiefe lebendig waren. Und mit und
in ihnen allen die Kraft, die ihm von
seiner irdischen wie von seiner himmlischen Heimat als Flamme und Ruf
eingeboren war: die Freiheit. Nicht
nur als „Freiheit des Christenmenschen“, sondern als die Freiheit Gottes und
des Menschen, die er jeder Macht eines blind waltenden Schicksals, allem Zwang,
allem Fatum heidnischer Welterfassung entgegenstellte. Die Freiheit Gottes, aus
der allein „die herrliche Freiheit der Söhne und Töchter Gottes“ entspringt,
aus der er in einer ganz männlich geprägten Welt herrliche Worte auch für die
Frau und die Freiheit der Frau gefunden hat, für die wir Frauen ihm nicht genug
danken können.
Wie ein einsam ragender Berg
des Glaubens hebt sich dies Werk über die Niederungen einer glaubenslosen Welt
empor; es sammelt auf seinem Gipfel noch die späten Strahlen, die die niedrigen
Höhen nicht mehr erreichen. Es sammelt auf ihm auch die Strahlen der
Morgensonne bevor es für die Täler Tag wird. Es sendet aus seinen lebendigen
Quellen nach allen Seiten Ströme ins Tal, die noch die dunkelsten Tiefen
wässern. Uns bleibt in abendlicher Stunde nur der Dank für das, was an Wassern
lebendigen Lebens aus diesem Werk und aus diesem Leben zu uns niederströmt.