In: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte, Marburg 1948, S.
79-85.
Vor einigen Monaten ist in Paris ein
Mann gestorben, der in seinem Leben und Denken einer der letzten echten
Europäer war. In Deutschland geboren, von der Seite des Vaters deutscher, von
der der Mutter russischer Abkunft, früh mit Frankfreich verbunden, zwischen den
beiden Weltkriegen bis zum Anbruch des Hitler-Regimes die eine Hälfte des
Jahres an der Universität Berlin, die andere in Paris lehrend und wirkend, war
Bernhard GROETHUYSEN schon seiner äußeren Lebensform nach eine in seiner Zeit
einzigartige Erscheinung. Aber auch seine Philosophie steht in ihr abseits; sie
ist nicht nur ohne jede nationale Prägung; sie läßt sich auch dadurch in keinen
bestehenden Zusammenhang einreihen, daß sie sich an keinem bestimmten
Denkergebnis aufzeigen läßt, ja, daß sie ihrem Wesen nach jedes in fester Form
niedergelegte Denkergebnis als dem eigentlichen Philosophieren inadaequat
ablehnt. Es ist eine Philosophie, der das Ziel nichts, der Weg, die
Wanderschaft durch die Welt alles ist, die bei keiner gefundenen Antwort je
verweilt, der jede wieder zur Frage wird, die immer in der Frage verbleibt. Als
derart offen bleibende, fragende fällt diese Philosophie aus der Entwicklung
des spätbürgerlichen Denkens, in das sie der Zeit nach hineingehört, ganz
heraus. Und doch ist sie das Denken eines Mannes, der sich seiner Zeit und der
realen zeitlichen Voraussetzungen seines Denkens wie der Zeitbedingtheit aller
menschlichen Antworten durchdringend bewußt war. Seine Frage aber, die
Grundfrage seines Lebens, die er einmal in dem kleinen Wort zusammengefaßt hat:
„Wie komme ich hierher? Was soll ich hier?“, diese menschliche Grundfrage
überhaupt war ihm nicht aus seiner Zeit gekommen; mit ihr stand er außerhalb
jeder Zeit und in doppeltem Sinne außerhalb der seinen.
Sein Denken begann in dem Augenblick,
in dem das Absolute im europäischen Denken begraben war. DILTHEY und SIMMEL,
beide Lehrer Groethuysens, hatten dabei noch zuletzt mit Hand angelegt: Dilthey
hatte von der geistesgeschichtlichen Entwicklung aus die Metaphysik als tot
erklärt; Simmel hatte für sich hinter dem Weltbild Spinozas die Substanz der
absoluten Wahrheit fortgezogen und ein rein relativistisches Weltbild
zurückbehalten; Groethuysens Frage aber, die Frage des reinen Metaphysikers,
stammt aus der unmittelbaren Beziehung zum Absoluten. Wie konnte er diese seine
ursprüngliche Frage mit dem Historismus und Relativismus seiner Zeit, die er
beide in sein Denken aufnahm, vereinen?
Es geschah durch die Weise seines
Fragens selbst, die durch ihre Unbedingtheit nicht weniger als die absoluten
Wahrheitsprinzipien der metaphysischen Systeme alle Einzelwahrheiten
relativierte, alles Geschechen historisierte. Es war die Haltung, wie er sie
bildhaft in dem Denken des französischen Renaissance-Philosophen BOVILLUS
dargestellt hat. Wie es für diesen vom Geist aus die größte Sünde gegen den
menschlichen Geist selbst ist, auf dem Weg durch die Welt bei einem einzelnen
Gegenstand haltzumachen, sich vor ihm niederzuwerfen und aus ihm sein Idol zu
machen, so ist umgekehrt von der Welt aus jedes Ding ihm ein Aufruf an den
Geist, es denkend zu ergründen, weil es sich selbst überlassen, ohne gededacht,
in die Ordnung des Geistes erhoben zu werden, schnell verschwinden und sich in
das Nichts verlieren würde. Wenn man Groethuysens Leben überblickt, so ist es,
als hätte er wirklich diese Doppelforderung erfüllt, als hätte er, dem jedes
Ding zur Frage wurde, der jedem zu seiner Ergründen sich hingab und bei keinem
je verweilte, immer dem Weg und dem Ganzen des Weges treu blieb, auf seiner
Wanderschaft durch die Welt alles, was ihm begegnete, vor dem Verfallen an das
Nichts bewahrt.
Darum treffen wir diesen rein am
Absoluten orientierten Denker kaum je auf dem Gebiet des abstrakten Denkens;
wir finden ihn wie den platonischen Sokrates immer inmitten des lebendigen
Lebens. Seine Probleme sind ihm nie aus begrifflichen Zusammenhängen, sie sind
ihm immer aus der konkreten Problematik des Lebens selbst gekommen. Er ist in
dieser Hinsicht wohl Wilhelm DILTHEYS bester und treuester Schüler gewesen.
Nicht das Allgemeine, irgendwie schon Zusammengefaßte, nur das Einzige,
Einmalige, Unverwechselbare, das Ineffabile des Individuellen hat ihn in immer
neuen Formen zu seiner Ergründen aufgerufen. Er hat in seiner wunderbar
schlichten Sprache, die jedes Ding unmittelbar ins Herz traf, immer nur das
unaussprechbare ausgesprochen. er hat das Wesentliche seines Denkens nicht in
abstrakten Gedanken, sondern in konkreten Erscheinungen ausgesprochen; er hat
unmittelbar in lebendigen Gestalten gedacht.
Damit begegnen wir ihm selbst in
verschiedenen Gestalten und auf wechselnden Gebieten, die auf den ersten Blick
unvereinbar scheinen und doch alle durch sein lebendiges Selbst mit einander
verbunden sind. Wie im immer neuen Erstaunen über das Einmalige, Bunte,
Geheimnisvolle, den Sinn und die Sinnlosigkeit des Lebens der Metaphysiker und
der Historiker sich begegnen, so begegnen sich im Nichtruhenkönnen im
Einzelnen, in der Ungeduld der Seele im Irdischen der Mystiker und der
Revolutionär. Auf allen Gebieten, in allen Gestalten ist so sein Erkennen
Selbsterkenntnis. Am klarsten zeigt sich die Einheit von geschichtlichem und
metaphysischem Erkennen als unmittelbare Selbsterkenntnis in seiner „Philosophischen Antropologie“, in der
er die großen europäischen Denktypen als reine Bildnisse und Gegenbildnisse
seines eigenen Geistes dargestellt hat. Es ist eine mystische Anthropologie:
die Seele hat in ihr durchweg den Primat vor Welt und Mensch. Seele – dies Wort
hat in der Lebenzeit Groethuysens einen sehr anderen Klang und Sinn angenommen;
die Seele ist selbst unter die kosmisch-naturhaften Gegebenheiten
herabgesunken, selbst Objekt der wissenschaftlichen Erforschung geworden. In
dieser Anthropologie aber ist sie durchweg als überkosmisches Prinzip, als die
unmittelbare Beziehung zum Absoluten gefaßt. Bei PLATO, mit dem die Darstellung
beginnt, löst dieser dynamisch-metaphysische Seelenbegriff unmittelbar den statischen
Charakter der Ideenwelt auf. Die Ideenwelt ist nicht „ein kosmisches Schema
neben anderen Weltschematen“; sie ist der lebendige Sehnsuchts- und
Liebeszusammenhang zwischen Seele und Idee. Von dieser durch ihre Liebe und
Sehnsucht mit der Idee verbundenen Seele aus „ist der individuelle sterbliche
Mensch eine mythische Figur in einer mythischen Welt.“ Als diese mythische
Erscheinung ist der Mensch sich fremd durch das, was als seine eigentliche
Sehnsucht in ihm lebt. „Der Mensch kann sich nicht in dieser Gestalt bejahen,
in dieser Gestalt nicht heimisch werden. Er weiß nicht recht, wie er hierher
kommt.“ Aus diesem metaphysischen Urerlebnis der Heimatlosigkeit des Menschen
in der Welt durch seine eigene Seele entfaltet sich diese ganze Anthropologie
in allem Reichtum ihrer Gestalten als ein einziges Ringen zwischen Seele und
Mensch. In Aristoteles geschieht der große Umschlag: der Mensch findet seine
Heimat in der Welt; er ist als eine ihrer Formen in die kosmisch-naturhafte
Welt eingeordnet. „Bei Aristoteles hat der Mensch aufgehört problematisch zu
sein.“ Dem von der Seele mit fremden Augen angeschauten Menschen ist der Mensch
als fragloses Weltwesen gegenübergetreten: als der, der in immer weiteren
Kreisen die kosmischen Zusammenhänge ergründet, aus denen er sich selbst
versteht und in denen er sich immer weiter von seiner fragenden Seele entfernt.
– Bis dann durch dies wachsende Wissen um Welt und Mensch, das als Beherrschung
der Welt durch den Menschen in der griechisch-römischen Lebensphilosophie
gipfelt, das mächtige Seelenerlebnis des Plotin und des Augustin wieder
hindurchbricht, vor dem „die Selbstsicherheit der antiken Persönlichkeit
zunichte wird.“ Am gewaltigsten aber, die ursprüngliche Seelenerfassung Platos
als reine Beziehung zur Idee durch die Ich-Du-Beziehung noch übersteigend,
flammt das weltlose Glaubenserlebnis LUTHERS auf, vor dem die ganze Welt des
Mittelalters und der Renaissance mit ihrem riesigen Stufenbau zusammenbricht.
„Luther hat den Menschen entmythisiert; er ist kein schicksalbestimmtes
Weltwesen mehr.“ Und vor diesem weltvernichtenden Erlebnis der Seele, das
jenseits seines Erkennens bleibt, das nur in einem andern Bezirk vor ihm
aufflammt, tritt auch der Philosoph zurück: „Von diesem Menschen wissen die
Philosophen nichts.“
Aber immer sucht ja dies Denken den
Menschen in einer Sphäre, die ihm als solche nicht mehr zugänglich ist, vor der
es als einer ihm fremden und überlegenen zurücktritt, das sich nur
gleichnishaft im Wort erschließt. Darum ist es sicher nicht nur aus äußeren
Gründen geschehen, daß diese Anthropologie mit dem letzten
Renaissancedenker Montaigne plötzlich abbricht. Seinem Wesen nach ist das, was
für Groethuysen Anthropologie ist: die Ergründung der menschlichen Existenz als
Ringen zwischen Seele und Mensch hier zu Ende. Denn nun hat sich der
menschlichen Existenz etwas anderes unterschoben, das, vom Menschen selbst
geschaffen, über ihn Macht gewonnen hat, das darum erst in sich selbst
erforscht werden muß, damit eine neue Weise des Denkens begriffen werden kann.
So reiht fast bruchlos an diese philosophische Anthropologie eine Anthropologie
anderer Art sich an. In seinem zweibändigen Werk „Die Entstehung der bürgerlichen Welt- und Lebensanschauung in
Frankreich“ hat Groethuysen eine Anthropologie des Bürgers gegeben, in der
nicht mehr die Denkentwicklung in sich selbst erforscht, sondern zuerst die
Frage nach der Welt, dem Leben als Lebensweise gestellt wird, auf der dies
Denken erwächst. Denn dies ist die Grundgewißheit, die Groethuysen aus seiner
Erforschung der bürgerlichen Welt gewonnen hat: daß in ihr immer der Gestaltung
des Denkens die des Lebens, daß in ihr immer dem „Je pense“ das „Je vis“
vorausliegt. „La philosophie bourgeoise n’est pas fondée sur la spéculation, elle est le résultat
d’une expérience vitale“. In der Erforschung dieser „Expérience
vitale“ hat Groethuysen wie in allen seinen Darstellungen kein Wort eigener
Kritik ausgesprochen; aber indem er es unternommen hat, die Entstehung der
bürgerlichen Welt, ihrer Wertungen und ihres Wissens rein auf dem Hintergrund
des gewaltigen französischen Christentums zu zeigen, auf dem und im Gegensatz
zu dem sie entstanden ist, hat er, und auch hier vom Absoluten aus, eine
immanente Kritik gegeben, die eine ganze Welt in den Abgrund stürzt. Und nicht
nur an den Gedanken und Predigten der Großen: der Jansenisten, Jesuiten, eines
Pascal, Bossuet, vor allem an dem noch anonymen Christentum unbekannter
bescheidener Dorfgeistlicher, deren Briefen und Predigten er durch ganz
Frankreich nachgegangen ist, hat er das leidenschaftliche Ringen des
christlichen Bewußtseins mit dem werdenden bürgerlichen sichtbar gemacht. Die
ständig anwachsende Sprachverwirrung zwischen den beiden Gegnern wird
schließlich vollkommen. Sie sprechen nicht mehr dieselbe Sprache und sie sprechen
nicht mehr von derselben Welt. Dort der Christ, der aus der Ewigkeit nach dem
vergänglichen traumgleichen Menschendasein fragt, hier der Bürger, der sich auf
der Erde häuslich eingerichtet hat, für die Verwaltung und Vermehrung seines
Besitzes und das Behagen seiner Familie sorgt und die aus der Ewigkeit
stammende Frage nach dem zeitlichen Menschenschicksal als für ihn belanglos aus
seinem Leben gestrichen hat. Dort der Christ, der in Furcht und Zittern vor der
Macht Gottes, der Sünde und des Todes lebt, hier der Bürger, der aus der
rationalen Ordnung, in die er alle Dinge eingereiht hat, alle Mächte und
Übermächte: Gott, Sünde und Tod ausgetrieben hat, der, wenn seine Bilanzen und
Geschäftsbücher stimmen, seine menschlichen Pflichten erfüllt glaubt und mit
sich und der Welt zufrieden ist. Dort die Moral der christlichen Kirche, die
nach dem Willen beider Testamente den Zins als Wucher und Todsünde verwirft,
hier die der bürgerlich-kapitalistischen Welt, die mit dem guten Gewissen des
„honnête homme“ sich in immer weiteren Kreisen auf dem Zinsdarlehen als ihrer
Keimzelle selbst erbaut. Nie ist eine blutigere Satire der bürgerlichen Welt
geschrieben worden als dies auf dem düster-gewaltigen Hintergrund der Kirche
sich entfaltende Schauspiel einer wachsenden Helligkeit und Entleerung der
Welt, das der reinen Tragik entbehrt und doch als ein einziges todernstes
Verhängnis, das Verhängnis unserer Welt vor uns heraufsteigt.
In diese unheimliche Entwicklung ist
die des modernen Wissens eingeschlossen, in dem anstelle der suchenden Frage
nach dem Woher und Wohin des Menschen die welterobernde moderne Wissenschaft
getreten ist, die in ihr allüberspannendes Begriffsnetz die ganze Welt
eingefangen hat, auf allen Gebieten nur dazu dient, sich der Welt und ihrer Güter
zu bemächtigen, und so aus einem Verhältnis der Seele zum Sein zu einem reinen
Besitzverhältnis, zum bloßen Haben geworden ist. Auch noch die scheinbar ganz
in sich ruhenden großen metaphysischen Gedankensysteme der bürgerlichen Welt
sind Groethuysen durch ihre Herkunft verdächtig. Allem modernen Denken
gegenüber bleibt er bei der Forderung: „Commençons toujours par le „Je vis“:
ainsi seulement nous saisirons la vraie gradation des valeurs bourgeoises et la
marche de la pensée moderne.“ Aus dieser Einsicht in die hintergründige
Verfälschung des Denkens durch das Leben ist sicher auch noch Groethuysens
Abneigung gegen die moderne Existenzphilosophie zu verstehen. Ihm, der in allen
Fragen und Suchen immer unmittelbar die Frage nach der menschlichen Existenz gestellt
hatte, mußte die Ergründung ihres Geheimnisses mit allgemeinen Wissensmethoden
als Unmöglichkeit erscheinen.
In einer ganz anderen heutigen
Erfassung aber hat er die Frage nach der menschlichen Existenz als die seine
widererkannt: in der modernen Dichtung.
Das letzte Menschenbild, in dem er – und nun aus der untersten Tiefe von Leben
und Tod – das seine entworfen hat, ist das des großen Dichters FRANZ KAFKA. In
der Welt Kafkas ist der Mensch zu dem geworden, der durch alle Lebens- und
Wissenswandlungen, alle Zusammenbrüche und Katastrophen des geschichtlichen
Lebens gegeangen, sich in keiner Gestalt mehr wiederfindet und erkennt. Aus der
Selbstentfremdung des Menschen durch seine Seele ist das Entsetzen des Menschen
vor sich selbst geworden. Groethuysen hat es in seinem ganzen Grauen
ausgesprochen: „Personne ne peut vivre dans sa propre présense.“ In einer Welt,
über der die Ideenwelt als weisender Sternenraum erloschen, in der Gesetz um
Gesetz zerfallen ist, findet der Mensch das Gesetz, nach dem er angetreten,
findet er überhaupt Gesetz und Ordnung für seine Wanderschaft nicht mehr. Aus
der Frage der Seele nach der Welt ist die rastlose Verwirrung des Fremden
geworden, der die Gesetze des Landes, in das er gesandt ist, nicht mehr kennt.
Kein Weg führt mehr zu einem bestimmten Ziel: Zeit und Raum haben ihre Kraft,
die Welt für den Menschen zu gliedern, verloren; es gibt nichts Verständliches
mehr. Das ganze Entsetzen dieses Verirrt- und Verlorenseins aber ziegt sich
darin, daß der Mensch nicht nur sein eigenes Leben, sondern auch seinen eigenen
Tod nicht erreicht. Er kann nicht mehr den Tod sterben, in dem sich ein
menschliches Leben vollendet; der Tod überfällt ihn rein von außen aus der
menschenfremden Welt als ein Unmenschliches. Der Mensch kann nicht leben und
nicht sterben; weder das Leben noch der Tod befreit ihn von der Todesqual.
Aber hier, am äußersten, tödlichen
Rande des Fragens verstummt plötzlich die Frage; es ertönt ein einzigesmal eine
Antwort. Es zeigt sich ein Ausweg aus dem verzweifelten Ringen zwischen der
menschlichen Seele und der unmenschlichen Welt. Und so, wie die Antwort hier
gegeben ist, fällt alles Fremde als bloße Hülle von ihr ab; dies letzte Wort,
das wir von Groethuysen besitzen, ist seine eigenste letzte Antwort. Diese unerwartete,
nach dem rasenden Ringen in ihrer plötzlichen Stille bestürzende Antwort ist
die Geduld, das mystische Erbe der Demut: der Demut des heutigen Mystikers,
die reiner tiefer Verzicht ist. Die Seele muß aufhören zu fragen; sie muß
lernen zu warten. Und dies Wartenkönnen, das demütige Sich-Einfügen in die Welt
als Bedingung ihrer Existenz ist nicht ein bloßer Schlüssel zur Welt: es ist
der Weg lebendiger Hingabe, in der die Seele sich mit der Welt selbst vereint.
Es scheint eine vollkommene Umkehrung,
ein ungeheurer denkerischer Verzicht in dieser Antwort zu liegen, die anstelle
der Frage getreten ist, und doch hat in ihr dies Denken, das immer vor dem
Wirklichen sich beugte, erst das ihm vorbestimmte Ziel erreicht. Groethuysen
hat ein Stück Geschichte voll ungeheurer Wandlungen durchlebt und in seinem
Denken erleuchtet. Er ist von einer Welt ausgegangen, die als ein noch
stillerer Grund sein Denken trug, gegen die er sich aber von Anfang an als
Mystiker wie als Revolutionär aufgelehnt hat, und er hat die vielfachen, ach
sein Leben tief verstörenden Katastrophen dieser Welt erlebt und durchdacht. Er ist von einem Land
ausgegangen, das trotz allem sein Denken entscheidend mitgeprägt hat, von
dessen Wirklichkeit er sich aber lange vor ihrem Sturz in die letzte
apokalyptische Leere des Bürgertums abgewendet, das er früh mit seiner
Wahlheimat vertauscht hat. Er hat sich im Lauf seines Lebens von all seinen
irdischen und geistigen Ursprüngen losgerissen. Aber durch alle Wandlungen
seines Lebens und Denkens und in allen weit von einander entfernten Gestalten,
in denen er es sichtbar gemacht hat, ist er sich selbst treu geblieben. Bis
zuletzt hat er in allem allein die Frage der Seele gestellt, die sich ihrer
selbst und des Göttlichen, zu dem sie gehörte, fraglos bewußt war, die immer
nur die Frage nach der Welt war: „Wie komme ich hierher? was soll ich hier?“
Und noch in seiner einzigen Antwort
bleibt die Frage bewahrt. Die Seele hat nicht erkennend die Welt ergründet, sie
ist von ihrer Frage zurückgetreten. Indem sie die Übermacht der Welt im Tod als
Bedingung ihres Daseins anerkannt hat, ist sie aus einer Frage des Denkens zu
einer Antwort des Lebens geworden. – Berührt die im Ringen mit dem Tod geborene
Antwort dieses späten Europäers uns nicht wie ein Wort des ewig offenen, ewig
fragenden Europa selbst, das heute in denselben Wirbel letzten Fragens und
Ringens hineingerissen ist? Gibt es für die von der tödlichen Problematik einer
sich wandelnden Welt angefallene Seele eine andere Antwort als den Verzicht auf
die Frage, das demütige Sich-Einfügen in das unbegreifliche Geheimnis des
Wirklichen überhaupt? Das Vermächtnis des todbedrängten Europa scheint eins mit
dem dieses heutigen Europäers, in dem die Antwort wieder zur Frage wird: „Car
la réponse c’est le mystère.“