Versenkt man
sich in diesem Augenblick wieder neu in die Bergpredigt, so erscheint es als
das größte Wunder der Weltgeschichte, daß diese Botschaft, die mit innerster
Gewalt sich der Welt und allem, was Welt ist, entgegenstemmt, jemals die Welt
ergriffen und überwältigt hat: daß sie Weltreligion geworden ist. Und
umgekehrt erscheint es unfaßlich, daß eine Welt, die je diese Botschaft als
ihre Wahrheit, als ihr innerstes Gestaltungsprinzip in sich empfangen hat, die
Gestalt unserer heutigen Wirklichkeit annehmen konnte. Dies doppelt
Unbegreifliche ist nur dadurch möglich geworden, daß die Botschaft Jesu, die in
der Bergpredigt auf ihren steilsten Gipfel steigt, nicht wie im Beginn ihrer
Verwirklichung unmittelbar gelebte Wirklichkeit wurde, sondern daß sie zu dem
gewaltigen Religionsgebilde der Kirche geworden ist, in dem, abseits von der
vollen geschichtlichen Wirklichkeit und doch mit ihr vermischt, die Botschaft
und ihr Gegensatz: weltlose Demut und Macht der Welt, sich verschlangen, in dem
sie miteinander jenes Bündnis eingingen, das in Dostojewskis Erzählung vom
Großinquisitor der Kuß des wiedergekehrten wirklichen Jesus, indem er es zu
besiegeln scheint, mit letzter Gewalt richtet.
Immer wieder
sind im Laufe der abendländischen Geschichte Männer aufgestanden, in denen die
Unmittelbarkeit der Botschaft neu erfahren wurde, die das neben der
Wirklichkeit in Symbolen, Sakramenten und Dogmen selbständig fortwachsende
Gebilde der Kirchen von seinen Ursprung her verneinten, die es zu wandeln oder
aufzuheben suchten. Von den frühmittelalterlichen Mönchsorden über Franz
von Assisi, über die großen Mystiker und Häretiker der Jahrhunderte, über die
Reformation und alle sie in Bejahung und Verneinung umgebenden und ihr
folgenden religiösen Bewegungen, über Kierkegaard, Tolstoi, die beiden
Blumhardt, läuft bis in unsere Zeit hinein eine einzige brennende Kette jener
Geister, die unter den verschiedensten geschichtlichen Bedingungen und in den
verschiedensten Bezügen auf die Wirklichkeit an den fest gewordenen Ordnungen
und Formen des Christentums rüttelten, die es mit der Leidenschaft des
Ursprungs unternahmen, den gegen die Welt revolutionären Gehalt der Botschaft
Jesu zu retten, ein mit der Welt vermischtes Christentum von dem lebendigen
Christus her zu sprengen.
Ein Aeußerstes
ist um alle diese Gestalten, die unter der geschichtlichen Verschüttung ein
Aeußerstes wieder aufzugraben suchen und dies nur mit dem Einsatz ihres eigenen
Lebens zu tun vermögen. Zu diesen vom Ursprung her revolutionären
Geistern gehört auch Leonhard Ragaz. Allein von hier aus ist er in seinem
gesamten Leben und Wirken, in seiner Lehre und seinem Werk bis in die feinsten
und entlegensten politischen Verästelungen hinein zu verstehen. Wäre
nicht die Gestalt des wirklichen Jesus vor ihm lebendig heraufgetaucht, so wäre
es auch zu einen sozialen und politischen Einsichten und Taten, wäre es zu der
ganzen heutigen Gestalt der religiös-sozialen Bewegung nicht gekommen. In
all dem geht es ihm letzthin um das, was er jüngst in einer Andacht der „Neuen
Wege“ als Sinn und Ziel seiner Lehre ausgesprochen hat: „Christus sichtbar zu
machen, als ob die Welt ihn zum erstenmal sähe“.
Dieser neue
Anblick des lebendigen Christus, der Blickpunkt, unter den in der
religiös-sozialen Bewegung Jesus und seine Botschaft treten, ist der der
Verwirklichung des Reiches – dessen, was Christus als erstes von seinen Jüngern
fordert: des Trachtens nach dem Reiche Gottes uns seiner Gerechtigkeit.
Es ist der Dienst an der prophetischen Verkündung von einem neuen Himmel und
einer neuen Erde, in denen Gerechtigkeit wohnt. Eine Gerechtigkeit also,
die über alle nur menschliche um eine Unendlichkeit hinausgeht, die aber
dennoch dem Menschen aufgegeben ist: als das Ringen um die Gestaltung einer
neuen, ganz realen, von der Gerechtigkeit Gottes erleuchteten Welt.
Wie Ragaz es
vor einem Jahr an den Gleichnissen Jesu in wunderbarer Kraft undKlarheit getan
hat, so löst er jetzt an Hand der anderen Hauptbotschaft Jesu, der Bergpredigt,
ihren Gehalt als den der göttlichen Gerechtigkeit des Reiches heraus. Die
Verwandtschaft beider Bücher ist darin begründet, daß die beiden Hauptstücke
der Botschaft Jesu zusammengehören. Ragaz selbst nennt die Deutung der
Bergpredigt eine Ergänzung der Deutung der Gleichnisse. Knapp
zusammenfassend formuliert er ihre Gleichheit und ihre Verschiedenheit so, daß
die Gleichnisse mehr das Reich, die Bergpredigt mehr die Nachfolge zum
Gegenstand hat, „ohne daß diese Unterscheidung in der Botschaft Jesu sich genau
durchführen ließe“. Denn das hat ja Ragaz uns gelehrt, daß beide ganz
zusammengehören: daß das Ziel der Nachfolge das Reich ist und die
Verwirklichung des Reiches die Nachfolge. In dieser Verknüpfung und
Einheit umreißt er den Wahrheitsbezirk der Bergpredigt in dem Wort: „Es ist
klar wie die Sonne, daß die Bergpredigt die Lebensordnung des Reiches Gottes
ist.“
Damit fällt
sogleich ein durchdringendes Licht auf die Wahrheitssphäre der Bergpredigt, die
so eigentümlich entlegen und dem menschliche Geist so schwer zu erfassen ist,
daß sie immer wieder ins Reich des Utopischen verwiesen wurde. Vollends
für uns heutige Menschen scheint diese Wahrheit gänzlich in der Luft zu hängen;
von der gegenwärtigen, vom menschlichen Tun und Wissen chaotisierten Welt aus
gesehen, erscheint sie als ein übermäßiger, wirklichkeitsloser Traum. Es
ist der Grundsinn und die Tat des Buches von Ragaz, daß er diesen
Unwirklichkeits- und Traumcharakter der Wahrheiten der Bergpredigt aufhebt – mehr:
daß er umgekehrt ihre Wahrheit als die wahrere Wirklichkeit erweist.
Sicher ist nie in der modernen Welt ein großartigeres und zugleich
schlichteres Wort über die Bergpredigt gesagt worden als das, mit dem Ragaz sie
von aller wirklichkeitsfremden Phantastik wie von aller bloßen Moral, aller nur
menschlich zu verstehenden Wahrheit überhaupt löst: „Sie ist durchaus
realistisch; sie ist die Wahrheit, die gilt, wenn Gott gilt.“
In diesem Wort
lösen sich mit einem Schlage alle Widersprüche und Dunkelheiten, die die
Bergpredigt für uns enthält, wird zugleich der allem nur Menschlichen gegenüber
paradoxe Charakter ihrer Wahrheiten klar. Das radikale Mißverständnis
auch großer, rein an der Geschichte orientierter Denker, ein Wort der
Bergpredigt könne für uns seinen Sinn verlieren, weil unsere geschichtlichen
Bedingungen sich verändert haben, weil wir selbst und unser Denken anders
geworden sind, wird in seiner ganzen Verkehrtheit offenbar. Nicht unser
Schicksal, nicht die Wandlungen unseres Denkens können über diese allem
Menschlichen vorgegebenen Wahrheiten entscheiden, sondern die ewigen Wahrheiten
der Bergpredigt richten über unser Sein und Denken.
Diese radikale
Wandlung unseres Wahrheitsverständnisses hat freilich zur Voraussetzung jene
„Umkehrung um hundertachtzig Grad“, die Ragaz zum Verständnis der Sache Chrisit
immer wieder fordert, die er auch in seiner Deutung der Bergpredigt dem
Eindringen in ihre Wahrheit als Forderung voranstellt. Einzig durch diese
totale Umkehrung, die uns derart gegen alles Unsere herumkehrt, daß sie uns aus
unserer bloß menschlichen Wirklichkeit in eine andere, unendlich weitere
Wirklichkeit hineindreht, uns mit allem, was wir sind und tun, unmittelbar in
diese neue Wirklichkeit einpflanzt, sehen wir, was uns, solange wir nur unser
eigenes enges Leben kannten, als Wirklichkeit verborgen war. Nun werden
uns die Augen aufgetan für eine Wahrheit, die alles Unsere unendlich
übersteigt, und die es doch in sich einschließt und sein letzter Maßstab
ist. Alles ist hier ebenso paradox wie einfach: wir erfahren diese
Wirklichkeit als das uns Fernste und als das uns Nächste zugleich. Sie
ist uns unermeßlich übergeordnet und uns doch ganz ans Herz gelegt. Wenn
Gott gilt, dann verändert sich alles, was wir als Wirklichkeit erfahren, was
sie von uns fordert. Wenn Gott gilt, dann wird die das Menschliche
übersteigende Forderung, daß wir nicht für den nächsten Tag sogen sollen, zur
reinen Selbstverständlichkeit. Wenn der gilt, vor dem tausend Jahre sind
wie ein Tag, dann ist eine andere Zeit als Wirklichkeit gesetzt, wird unser
vergängliches kleines Leben mit anderen Maßen als den unseren gemessen.
Und diese Erfahrung bleibt nicht in den Wolken hängen; auch von dieser rein
menschlich unerfüllbaren Forderung weiß Ragaz alle Wirklichkeitsfremdheit zu
entfernen. Nichts wird von ihr abgestrichen; sie gilt ganz in ihren das
Menschliche übersteigenden Maßen. Aber sie fordert nichts Unmögliches;
denn sie gilt uns als wirklichen Menschen. Unsere armen kleinen
Menschensorgen bleiben bestehen; uns dieser Sorgen einfach zu entschlagen;
liegt nicht in unserer Macht. Aber über dieser Bedrängnis des Tages geht
wie eine Sonne das Wort auf: „Wir können nicht verhindern, daß uns die Nebel
der Weltsorge umgeben; aber wir können um eine Höhe wissen, wo wir darüber
stehen, wo über uns die Sonne der Freiheit strahlt aus dem blauen unendlichen
Himmel Gottes, der Herrn und Vaters.“
Denn das Wissen
um diese Sonne und um diesen strahlenden Himmel bleibt so wenig ein bloßes
Wissen, wie es für den Bewohner des Tales, der die Sonne durch die Nebel
hindurch als Licht erfährt, bloßes Wissen bleibt. Auch für ihn wird es
durch diese Sonne Tag. Denn von dort, aus der strahlenden Unendlichkeit
selbst, kommt ihm das seine kleinen täglichen Menschsorgen Ueberstrahlende und
Ueberwindende, kommt ihm eine größere und wahrhaftigere Sorge entgegen, die ihn
aus der engen Umklammerung des Eigenen löst: die Sorge um Gott. Das ist
das überschwängliche und einfache Geheimnis dieser Forderung: „Die Sorge um
Gott macht frei von der Sorge der Welt.“ Wie die Lilien auf dem Felde
können wir erst leben, wenn wir selbst jene totale Umdrehung vollzogen haben,
wenn wir mit all unserer Menschsorge in das Reich Gottes eingepflanzt sind, aus
dem uns die echte, befreiende Sorge kommt. Und das bedeutet zugleich die
Lösung eines Missverständnisses, das uns von der Erfassung aller dieser
Wahrheiten trennt: „Die Bergpredigt richtet sich nicht an Privatpersonen,
sondern an Bürger des Reiches“: an solche, die eben dies zutiefst begreifen,
„daß wir Gott nicht bloß für uns haben können, sondern nur mit seiner Sache:
dem Reich“.
Ueberall
erleuchtet so der Reichsgedanke durchdringend die Wahrheiten und Forderungen
der Bergpredigt. Sie bleiben in ihrer ganzen göttlichen Unbedingtheit
bestehen; aber es wird ihnen das auf unser Leben gar nicht mehr Beziehbare
genommen; wir können sie vielmehr überhaupt nur in dieser Beziehung
erfassen. Schlagend ist dies Doppelte: die Unbedingtheit und damit
Ueberschwänglichkeit der Forderungen der Bergpredigt und ihre Geltung für unser
alltägliches Leben in dem Wort über die uns heute so tief aufwühlende Forderung
ausgesprochen, dem Bösen nicht zu widerstehen, in dem sie im Gegensatz zu „dem
Mönchskleid, das man ihr angezogen hat“, wie zu dem „Sonntagskleid, mit dem der
Bürger in die Kirche geht“, als „da Alltagskleid des Bürgers des Reiches“
bezeichnet wird. Mit diesem heilig nüchternen Wort voll großer
Erschließung ist die Forderung aus den Wolken auf die Erde herabgeholt, ist
zugleich die Erde emporgehoben zum wahrhaftigen Ort der Erfüllung des
Schwersten, das vom Menschen gefordert werden kann. Mächtig wendet Ragaz
sich in der Auslegung dieser Forderung gegen alle Nachgiebigkeit und Schwäche;
nicht Nachgiebigkeit gegen das Böse, sondern der Sieg über das Böse ist ihr Sinn.
„Du sollst dem Bösen widerstehen bis aufs Blut – ruft er aus – Aber nur mit dem
Schwert des Guten.“ Denn diese überstrenge Forderung bedeutet ja nicht
„die Aufhebung des Rechts, sondern seine Ueberschreitung: sie bedeutet, dass an
Stelle des endlichen menschlichen Rechts das unendliche Recht, die
Gerechtigkeit Gottes tritt.“ Und zusammenfassend wird das Uebermaß der
Forderung noch einmal in letzter Tiefe durch das Wort erhellt: „Auf diese
Unendlichkeit und Grenzenlosigkeit des von Gott kommenden Rechts hinzuweisen,
ist der Sinn der Paradoxie dieses Wortes Jesu.“
Und wie diese,
so empfängt auch die nicht minder paradoxe und uns nicht minder nah betreffende
Forderung der Feindesliebe vom Reichsgedanken aus neues und entscheidendes
Licht, tritt mit ihrem vollen Anspruch auf Geltung für den Menschen die
kristallene Härte gerade dieser Liebesforderung Jesu hervor. Auch in
ihrer Deutung wendet Ragaz sich gegen alle Weichheit und Verschwommenheit;
gerade dieser Forderung gegenüber verlangt er als erste Voraussetzung ihrer
Erfassung und Erfüllung ausdrücklich noch einmal, was hier immer gefordert ist:
unbedingte Ehrlichkeit. Die harte Forderung der Feindesliebe wird von
aller Verwechslung mit dem, was man gewöhnlich Liebe nennt, mit
leidenschaftlichem Ernst getrennt: von der nur natürlichen Liebe, von der
schwärmerische sentimentalen und schließlich von der „Talmiliebe“ eines
Pazifismus und Neutralismus, der immer nur rechtfertigen, beschönigen will und
der „schlimmer ist als der Haß“.
Die Liebe, die von Jesus gemeint ist, ist „die tiefe Empfindung der unbedingten
Verbundenheit mit Gott und der unbedingten Verpflichtung gegen ihn.“
Damit ist die Feindesliebe wahrlich eine überschwängliche, übermäßig schwer zu
erfüllende Forderung; dennoch: sie kommt aus einer Wirklichkeit und sie geht
auf Wirklichkeit; sie ist ein wirkliches, klar zu erfassendes Ziel.
Wie auf dies
Ziel hinzuleben ist, das zeigen vielleicht am klarsten die herrlichen Seiten
über das Gebet, das in dieser Reichsbotschaft aus dem „Betteln“ und Bitten um
Erhörung zum „Organ der Mitarbeit des Menschen am Reiche Gottes“ wird.
Ragaz unterscheidet zwischen drei Weisen des Gebets: dem Religionsgebet, dem
Ichgebet und dem Reichsgebet, das am erleuchtendsten in den wundervollen Worten
über das Unservater charakterisiert und den beiden anderen Weisen des Betens
als die wahre gegenübergestellt wird.
In diesen
Seiten zeigt sich, wie durch das Wurzelschlagen im Reiche Gottes unmittelbar
das Verhältnis zu den Menschen sich wandelt, ja, wie beide nur zwei Seiten der
gleichen Sache sind. „Wir können zu den Menschen nur so stehen, wie Jesus
will, wenn wir, grundsätzlich gesprochen, für sie beten.“ So wird das
Leben mit den Menschen zu jenem „Suchen des Verlorenen“, das im Mittelpunkt des
Gleichnisbuches steht, wird es zu einem immer erneuten Ringen mit Gott um den
Bruder. Und wenn hier gesagt ist: „Klopfe an eherne, auch an
verschlossene Pforten; es gilt auch solche zu öffnen“, so enthüllt sich die
ganze erlösende Kraft des Gebets, wie sie in dem Wort bestätigt und begründet
ist: „Es hält die Dinge im Bereich Gottes fest.“
In diesem Sinne
ist dies Buch über die Bergpredigt selbst ein einziges großes Gebet. Denn
eben dies ist sein Eigenstes und Einziges: Es erschließt uns nicht nur den
Bezirk, in dem die Wahrheiten und Forderungen der Bergpredigt gelten, als
unsere eigentlichen, wahrhaftige Wirklichkeit; es hält eben damit, entgegen dem
tobenden, alles Göttliche mit sich reißenden Strom unserer Zeit, die Menschen
und die Dinge im Bereich Gottes fest.